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ОглавлениеEnde Mai beschloss ich im Vollgefühl meiner Tugend, wieder einmal meine Eltern zu besuchen und sogar Papa dabei nicht aus dem Weg zu gehen. Schließlich hatte ich das Referat gehalten (und war direkt gelobt worden), die Diss schon ziemlich weit geschrieben, die Wohnung fast perfekt aufgeräumt (keine Schatzgruben in den Schränken mehr für mich!) und so viel gejobbt, dass ich recht nett bei Kasse war – beziehungsweise ein erfreuliches Polster auf dem Konto hatte. Dass das alles nichts wert war, konnte ich mir zwar denken, aber ich hatte mir fest vorgenommen, mich nicht provozieren zu lassen und im Extremfall einfach freundlich lächelnd wieder zu gehen. Das ärgerte Papa bestimmt am meisten. Ich fuhr also brav mit dem Fahrrad eine halbe Stunde Richtung Mönchberg, schloss es auch korrekt ab, an den Gartenzaum gekettet, und stand dann brav nach einmaligem Klingeln vor dem Gartentor. Mama öffnete und guckte etwas bedrückt drein. „Philipp ist da“, tuschelte sie, während sie das Gartentor umständlich aufschloss. „Super“, antwortete ich naiv, „den hab ich auch schon länger nicht mehr gesehen.“
„Aber er streitet mit Papa!“
„Das ist doch nichts Neues“, wunderte ich mich, „sie streiten sich doch immer.“
„Ja, aber ich will das nicht... Philipp ist so respektlos.“
„Respekt wovor?“, fragte ich grob und betrat an Mama vorbei das Haus. Das Geplärr war unüberhörbar – Papa wenigstens plärrte, Philipp war wie üblich leise und kalt, ihn hörte ich nur murmeln. Ich stieß die Wohnzimmertür auf, Papa unterbrach sich kurz, schnauzte „Raus!“ und schrie weiter auf Philipp ein. Philipp ließ ihn einfach stehen. „Rede gefälligst nicht so mit Isi!“
„Mit der dummen kleinen Kuh rede ich, wie´s mir passt!“, blaffte Papa zurück.
„Ach, weißt du“, sagte ich einigermaßen laut, „lieber Philipp, eigentlich ist es mir doch eher gleichgültig“, (scheißegal hatte ich mir mühsam verkniffen, um an Philipps arroganten Ton hinzukommen) „was ein ältlicher Sesselfurzer von mir hält. Man muss ja irgendwann auch mal erkennen, was irrelevant ist, nicht?“ Philipp lächelte anerkennend. „Da hast du eigentlich Recht, Isi. Wollen wir essen gehen? Im Klosterbräu?“
„Oh ja, gerne. Vielleicht kommt Mama auch noch mit. Gemütlich zu dritt, ein richtiger Familienausflug...“
Papa war lila angelaufen. „Habt ihr einen Knall? Und was ist mit mir?“
„Du“, sagte Philipp und lächelte eindeutig bösartig, „bist zu unangenehm im Umgang. Nein, dich nehmen wir nicht mit.“
„Isi, du blöde kleine Versagerin, wenn du jetzt gehst, brauchst du nicht mehr wiederzukommen!“
„Ist das ein Versprechen? Kann ich das schriftlich haben?“ Ich wusste gar nicht, woher ich die Kühnheit nahm, vielleicht aus Philipps Anwesenheit. Mama wollte dann aber doch nicht mitkommen. „Euer armer Vater, er meint das doch nicht so!“
„Also, blöde kleine Versagerin kann man eigentlich nicht mehr missverstehen“, wandte ich ein. „Karrieregeiler Perversling auch nicht“, steuerte Philipp bei. „Wieso, was hast du gemacht?“, fragte ich interessiert.
„Die Partnerschaft bekommen. Und das hab ich ihm dummerweise erzählt, als ob´s ihn was anginge. Irgendwie ist Partnerschaft böse. Ach ja, und ich bin immer noch nicht verheiratet. Also ist klar, ich bin vom rechten Wege abgewichen.“
„Wieso, du könntest doch auch einen schnuckeligen Kerl heiraten?“, fragte ich und registrierte amüsiert, wie sich Mama rosig färbte. „Äh, da sei Gott vor!“, verwahrte sich Philipp. „Haarige Beine im Bett, nein danke.“
„Kann dir bei einer naturbelassenen Frau auch passieren“, frotzelte ich.
„Klar, aber wer will schon Natur im Bett?“
„Sehr aufschlussreich!“ Ich wollte ihn gerade noch ein bisschen weiter hänseln, da riss Papa die Tür zum Arbeitszimmer auf, immer noch dunkelrot im Gesicht. „Ich enterbe dich!“, brüllte er etwas unbestimmt in unsere Richtung.
„Meinst du mich?“, fragte ich freundlich. „Ich dachte, das hättest du vor zehn Jahren schon gemacht? Tu dir keinen Zwang an, mir ist das egal.“
„Keinen Pfennig!“, brüllte er weiter.
„Das heißt keinen Cent“, korrigierte Philipp nicht minder freundlich, „und wenn du ein Gesetzbuch hast, das nach 1945 erschienen ist, würde ich dir raten, da mal unter dem Begriff Pflichtteil nachzuschlagen. Erbrecht, natürlich. So einfach ist das alles nicht – aber wir wünschen dir viel Glück und einen guten Anwalt.“ Die Tür knallte so ins Schloss, dass sich darüber etwas Putz löste und aufs Parkett fiel.
„Ach je“, murmelte Mama, „das sollte ich wohl besser gleich...“
„Nein, Mama“, sagte Philipp bestimmt, „du putzt jetzt nicht hinter diesem Durchgeknallten her, du kommst jetzt mit, was essen. Im Klosterbräu ist es nett, warst du da schon mal?“
„Nein, natürlich nicht“, antwortete Mama, die sich augenscheinlich heftig nach ihrem Kehrbesen sehnte, „du weißt doch, dass euer Vater nicht gerne essen geht.“
„Und du?“, fragte ich zornig, „gehst du auch nicht gerne essen?“
„Ich weiß es schon gar nicht mehr“, antwortete sie und sah richtig sehnsüchtig drein – wegen des Essengehens oder wegen des Kehrbesens? „Warum spielt es nie eine Rolle, was du willst?“, fragte Philipp. „Widersprich ihm doch mal! Oder hast du Angst vor ihm? Willst du hier raus? Wir helfen dir, gell, Isi?“
„Klar“, bestätigte ich sofort.
„Lieb von euch. Ihr seid doch meine Guten, egal, was euer Vater sagt. Aber wirklich, er meint es nicht so. Und ich hab keine Angst vor ihm, eher um ihn – nicht, dass er sich mal in einen Schlaganfall reinsteigert. Wisst ihr, er hat einfach Sorge um euch, er möchte euch sicher und versorgt sehen. Und so lange ihr nicht in ordentlichen Familien lebt...“
„Sollen wir reich heiraten oder was?“, fragte ich verdutzt. „Himmel, Philipp ist Anwalt, und ich bin doch auch bald fertig und dann finde ich schon was, reicht das denn nicht?“
„Ach, Isi, du weißt doch, was er sich für dich wünscht!“
„Ja, einen Mann, der mich anschreit und rumkommandiert, so wie er dich. Glaubt er, Weiber brauchen das, ja? So was will ich wirklich nicht haben. Mensch, Mama, lass dich doch scheiden, das ist doch kein Leben!“
„Scheiden lassen? Warum denn? Ich hab mein Haus und er ist den ganzen Tag nicht da. Und das Gebrüll, das höre ich schon gar nicht mehr. Außerdem – naja, ich mag ihn schon immer noch. Das versteht ihr eben nicht.“ Nein, wirklich nicht - wir schüttelten unisono den Kopf. Unbegreiflich! Nachdem wir es noch ein letztes Mal vergeblich versucht hatten, gingen wir alleine in den Klosterbräu, wo wir uns an einem Ecktisch niederließen und uns stumm ansahen.
„Was für eine Ehe!“, sagte Philipp schließlich. „Und da wundern sich die beiden, dass wir nicht in ihre Fußstapfen treten wollen? Ja, glauben die ernsthaft, ich brauche so ein Hascherl, das mir dauernd Recht gibt, scheu durchs Haus schleicht und dann den Kindern erklärt, dass Papa es nicht so gemeint hat?“
„Ich dachte, du hättest solche Hascherl?“
„Dumm sind sie, aber selbstbewusst! Die dürfte ich nicht so anreden wie Papa es mit Mama macht. Und eine Frau, bei der ich so was dürfte, würde ich wirklich nicht wollen.“
„Na gut. Wenn mich einer so anquatscht, ist es auch sofort aus.“ Ich griff nach der Speisekarte – Familienknatsch machte hungrig. „Hat dich schon mal einer so angequatscht?“, erkundigte sich Philipp und zündete sich eine Zigarette an. Ich klaute ihm sofort eine, schließlich verdiente er zehnmal so viel wie ich. „Ja, Wolfi hatte mal so Anwandlungen. Erst hab ich zurückgeblafft, und das war gar nicht so einfach. Ehrlich, ein Teil von mir wollte doch glatt den Kopf einziehen und herumschleichen, das mütterliche Vorbild eben. Na, und als das Zurückschreien nichts mehr gebracht hat, bin ich ausgezogen. War ohnehin besser so, er war eigentlich ein ziemlicher Arsch. Die Sorte, die man zum Kotzen findet, wenn das erste Feuer weg ist.“
„Solche, mit denen man nicht ums Verrecken befreundet sein möchte, klar. So Frauen kannte ich auch schon.“ Er seufzte. „Aber wie holen wir Mama da raus?“
„Schaffen wir nicht“, meinte ich. „Sie mag ihn doch. Frag mich nicht, warum. Sag mal, du bist doch älter als ich... war er eigentlich immer schon so?“
„Nein, so arg nicht. Ich kann mich erinnern, als ich so etwa drei war... Mama war schwanger mit dir, und wir waren irgendwo spazieren, da war er ganz nett. Erst als ich hingefallen bin und mir das Knie aufgeschlagen und natürlich geheult habe, wurde er sauer. Er hat herumgeplärrt und ist dann mit Riesenschritten nach Hause. Und Mama konnte kaum mit mir hinterher und ich wollte immerzu getragen werden und verstand nicht, wieso sie nicht wollte...“
„Der Idiot, er hätte dich doch tragen können!“
„Einen so unmännlichen Sohn, der dauernd heult?“
„Sag mal, er hat doch wirklich einen Männlichkeitswahn ... diese Angst, du könntest schwul sein, bloß weil du lesen und schreiben kannst -“
„Eine Brille hab ich auch noch“, warf er ein und grinste.
„- diese Idee, Weiber sind sowieso dumm und unfähig, Jungs dürfen nicht heulen... ich finde das ziemlich verdächtig. Bestimmt ist er auch sonst ein Schwulenhasser!“
„Kann gut sein, aber was geht´s mich an?“
„Naja, ich mal wo gelesen, dass Männer, die dermaßen vehement gegen Schwule agitieren, im Inneren eine Heidenangst haben -“
„- selbst schwul zu sein.“ Philipp lachte spöttisch. „Das würde ihm ja so was von recht geschehen! Stell dir mal vor, in ein paar Jahren kommt dann ein zierliches Bürschlein, und Papa kann seine verborgenen Neigungen nicht mehr im Zaun haben und erlebt sein Coming out...“
Ich musste auch lachen, wurde dann aber wieder ernst. „Für Mama wäre es schon ein Schlag. Alles bloß eine Lüge?“
„Sie belügt sich doch ununterbrochen selbst. Dass Papa es nicht so gemeint hat und so. Nein, ich finde, wir haben genug Geduld gehabt, ich gehe da nicht mehr hin. Vater hin, Vater her, ein Mindestmaß an guten Manieren verlange ich schon von Leuten, mit denen ich freiwillig verkehren soll.“ Ich gab ihm Recht – ab jetzt nur noch Anrufe oder Besuche bei Mama, wenn der Schreihals aus dem Weg war!
„Weißt du was?“, stellte ich bei diesen Überlegungen fest, „Früher hab ich mich doch immer gegrämt, wenn er mich zur Idiotin erklärt hat, egal, was ich gemacht habe. Aber heute habe ich gemerkt – es ist mir völlig egal, was er sagt! Seine Meinung interessiert mich nicht mehr! Ich erzähle ihm gar nicht mehr, wenn ich das Rigorosum hinter mir habe! Ich würde es ihm auch nicht erzählen, wenn ich heiraten würde!“
„Sehr gut. Wenn du dich echt soweit gelöst hast, ist das toll. Hast du zufällig vor zu heiraten?“
„Ach Quatsch, wen denn!“
„Kann man nie wissen. Einer aus deinem Gruselkabinett.“
„Und du eine von deiner Dumm-wie-Brot-Brigade!“
Wir zankten uns ein bisschen, wer den schlimmeren Geschmack in puncto Bettpartnern hatte, und überlegten dann, ob das auch schon elterliche Prägung war: Immer nur mit solchen, die man garantiert nie heiraten würde, um einer Ehe aus dem Weg zu gehen?
„Nein“, stellte ich schließlich fest, „ich glaube, ich hätte prinzipiell nichts dagegen. Aber die Pfeifen, die ich immer so kennen lerne – und im Moment ist weit und breit nicht mal eine Pfeife zu sehen. Bloß die drei Maden von nebenan, die Korinthenkacker bei Weinzierl und der kinnlose Edgar.“
„Sei nicht gemein“, mahnte Philipp und winkte der Kellnerin, „dafür hat er doch diesen prachtvollen Adamsapfel.“
„Ja, und die gewaltige Nase. Aber man weiß jetzt, dass die Nase gar nichts aussagt.“
„Was aussagt?“, fiel Philipp prompt darauf herein. „Ach so. Äh. Worauf die Mädels so achten... Und was sagt dann was aus?“
„Die Füße. Große Füße sind sehr gut, hab ich gelesen.“ Philipp streckte prompt einen Fuß unter dem Tisch hervor, als wüsste er seine Schuhgröße nicht, und hätte beinahe die Kellnerin damit zu Fall gebracht.
„Sie -!“
„Tschuldigung, ich musste nur was überprüfen.“ Leicht rosig orderte er zwei Spezi und zwei Karten und erntete noch einen zornigen Blick. Ich gackerte vor mich hin. „Weiber!“, schnaufte er. Prima Vorlage!
„Du wirst deinem Vater auch immer ähnlicher“, tadelte ich.
„Nimm das zurück! Der Alte, der hat doch das Tourette-Syndrom oder wie das heißt, wo man zwanghaft rumpöbeln muss! Der hätte schon mit Tischen geschmissen, wenn du zu ihm so frech gewesen wärst wie jetzt zu mir!“
„Er schmeißt nicht, er brüllt und beleidigt. Sonst dürften wir Mama auf keinen Fall mit ihm allein lassen.“
„Wir sind schon arm dran, was?“
„Nein“, fand ich. „Erstens stehen wir doch schon ziemlich über der Sache, oder? Und zweitens gibt´s viel Ärmere. Sandra zum Beispiel.“
„Hör bloß mit dieser Sandra auf!“
„Ich will sie dir doch gar nicht mehr unterjubeln, die hat längst einen andern. Nein, aber die Eltern sind fast noch grausamer. Ich meine, wir können unsere doch wenigstens guten Gewissens nicht leiden – Papa wenigstens. Aber die trauern immer noch um diesen kleinen Bruder, der vor Urzeiten verunglückt ist, und die beiden Mädels werden völlig vernachlässigt und können nicht mal richtig sauer sein, weil die Eltern ja so arm dran sind. Wenn Sandra sich ärgert, kommt sie sich sofort schuftig vor. Das finde ich hart. Und einfach wegbleiben geht da ja auch nicht.“
Ich hatte mir wirklich mal überlegt, dass Philipp und Sandra ein schönes Paar sein müssten, aber die beiden hatten so gar nichts miteinander anfangen können. Sie war ihm zu kritisch, er war ihr zu machohaft und zu bindungsscheu – und überhaupt fanden sie sich gegenseitig saublöd. Schade.
„Ja, gut, das ist bitter. Aber – wie alt ist diese Sandra? Und die Schwester?“
„Sandra ist achtundzwanzig, so wie ich. Und Toni ein Jahr älter, glaube ich. Du meinst, die dürften nicht mehr um elterliche Liebe buhlen?“
„Genau. Du löst dich doch auch von Papas Fehlurteilen und sagst dir Scheiß drauf – und die beiden Frauen spielen die vernachlässigten Kleinkinder? Die waren doch schon um die zwanzig, als das passiert ist, oder war das noch früher?“
„Nein, stimmt so ungefähr. Ja, aber niemand hat sie in ihrer Trauer begleitet oder so. Und die Eltern interessieren sich für gar nichts mehr, und damit können sich die beiden nicht abfinden.“
„Sollten sie aber. Eltern kann man nicht mehr ändern, nur noch ertragen oder ignorieren. Hart, aber wahr. Ich glaub, ich nehm den Schweinebraten.“
Familie war soweit abgehakt, beschloss ich, als ich wieder zu Hause war. Mit Philipp würde ich mehr Kontakt halten und ab und zu Mama anrufen – aber sonst nichts. Nada, niente, nothing, rien. Ich würde meine Dissertation fertig schreiben, ein Summa kassieren – mindestens! – das Rigorosum mit Bravour absolvieren, einen Superjob in einem Verlag ergattern, zu gegebener Zeit toll heiraten und wunderbare Kinder in die Welt setzen, außerdem natürlich mit der anderen Hand den Verlag leiten und eine führende Rolle in der Leisenberger Gesellschaft spielen (äh, der Aspekt reizte mich nun weniger) – und Papa nie ein Wort davon erzählen. Die totale Superfrau wie aus dem Kitschroman oder dem FilmFilm.
Sehr realistisch. Na gut, Promotion, Verlagsjob, vielleicht ein Mann, vielleicht ein, zwei Kinder, ganz normale natürlich. Auch schon okay. Und dann ein Halbtagsjob, schließlich durfte seine Karriere ja nicht angetastet werden. Seien wir realistisch!
Wenigstens schafften die guten Vorsätze mich an den Schreibtisch, wo ich dann am Stift kaute und etwas ratlos in meinen Kopienstapeln wühlte. Nach schwerfälligem Anlauf gelang mir dann doch etwa ein halbes Kapitel zu Greiffs Umgang mit seinen Autoren und dem legendären Krach mit Johann Ehrenfried Wimberger, was das ewige Verlagsrecht betraf, komplett garniert mit Briefwechselauszügen und den Kommentaren anderer, ungleich berühmterer Autoren, teils zustimmend, teils vor den eigenen Verlagen im Staube kriechend. Besser als ich kröche um den Thron herum, fiel mir ein. Hatte Schiller seinen Verleger eigentlich auch mal zur Schnecke gemacht oder nur auf dem Papier so herumgetönt? Leider hatte Schiller nie etwas bei Greiff herausgebracht, so dass die Frage zwar menschlich interessant, für meine Zwecke aber eher irrelevant war.
Ich seufzte und quälte mir den nächsten Satz ab. Und gleich noch einen. Nebenan quäkten die Babys, und die kleine Jennifer rief schrill nach ihrer Mami. Wollte ich so was wirklich? Obwohl, die Kleinen waren schon nett, wenn man auf sie aufpasste. Warm und wohlduftend (wenn nicht gerade ein Unglück passiert war) und vertrauensvoll. So ein Zwerglein, wenn man den Vater liebte... eigentlich eine schöne Idee, ein Menschlein, aus zwei Menschen hervorgegangen...
Und so originell, das hatte sich vor mir sicher noch niemand überlegt!
Verflixt, weiter im Text. Nein, lieber auf dem Balkon erstmal eine rauchen. Hatte ich überhaupt noch Zigaretten? Toll, noch zwei Stück – einkaufen gehen? Oder standhaft bleiben und weiterschreiben? Morgen wollte ich doch in die Sprechstunde gehen. Und in zwei Vorlesungen. Und zu Weinzierl musste ich auch noch. Und übermorgen zu EventMachine, wo Edgar zurzeit unausstehlich war, anscheinend hatte ihn dieser Korinthenkacker von Anwalt doch verklagt. Mal einen richtigen Job, nicht nur anderer Leute Schreibtische aufräumen und Rechnungen zusammenklammern! So ging´s eben, wenn man nichts Rechtes gelernt hatte.
Bei den Maden heulte die Anlage auf, dann wurde es wieder still. Was dieser grässliche schleimige Olaf wohl für einen Job ergattert hatte? Wenn er jedem etwas anderes Peinliches erzählte, war die Wahrheit bestimmt noch viel peinlicher. Vielleicht musste er Potenzmittel testen. Oder in einer Medizinvorlesung als Versuchskarnickel bei einer Darmspiegelung dienen. Oder doch Pornos drehen. Nein, das wäre ihm bestimmt nicht peinlich, dem Schleimbatzen.
Vielleicht musste er ja auch bloß Essen auf Rädern ausfahren. Absolut uncool für einen wie ihn. Ach, was ging´s mich an. Immerhin überhaupt ein Job – wie Thilo das machte, war mir ein Rätsel. Der Typ war fünfundzwanzig oder so und hatte noch nie gejobbt – aber immer Geld. Sehr verdächtig. Und die Sache mit der Zeitung damals hatte ihn ehrlich erschreckt, er war sogar vorbeigekommen und hatte sich meine Zeitungsausschnittsammlung angesehen. Mitnehmen durfte er sie nicht, soweit kannte ich ihn schon. Stattdessen kopierte ich ihm alles gegen Vorauskasse, was ihn ehrlich kränkte. Als ob er jemals etwas nicht bezahlt hätte!
„Als ob du jemals etwas bezahlt hättest, wenn es auch anders ging“, korrigierte ich ihn freundlich. „Zwei Euro zehn oder keine Kopien. Such´s dir aus!“
Ich hatte lauter Fünfcentstücke bekommen und ihm ein hübsches Päckchen hergestellt. Lernte er die jetzt auswendig? Wollte er wissen, wer da an seiner Statt ins Gras gebissen hatte? Aber: an seiner Statt? Das war doch das pure Melodrama! Schließlich gab es wirklich mehr rotblonde Hemden in Leisenberg als bloß ihn.
Es sei denn, er kannte jemanden, der Grund gehabt hätte, ihn umzulegen – aber nur wegen seines lästigen Getues und seiner Schmarotzereien? Er führte sich zwar auf wie ein kleiner Ganove, aber ich wusste von keinem konkreten Gaunerstück – und insgeheim hielt ich ihn auch für viel zu dämlich für eine kriminelle Karriere. Wahrscheinlich wollte er sich bloß interessant machen, aber da hatte er sich geschnitten. Ich hatte jedenfalls nicht vor, ihm als dem potentiellen Mordopfer das Händchen zu halten, dazu war ich viel zu beschäftigt, Karrierefrau, die ich war. Fast wenigstens.
Tolle Karriere, stellte ich in den letzten Maitagen fest. Edgar krönte seine nervöse Phase mit der Ankündigung, EventMachine müsse sparen wie alle anderen auch, und die Kreativen sollten ihre Schreibtische gefälligst selbst aufräumen und auch selbst abrechnen. Eine Stunde Arbeitszeit mehr pro Woche – und ich war draußen. Als ich meinen Krempel mit vorwurfsvoller Miene zusammenpackte, tauchte er wieder auf, räusperte sich und starrte mich verlegen an. „Ist noch was?“, fragte ich ärgerlich. „Reicht es nicht, dass du mich rausschmeißt, obwohl ich dir weiß Gott mehr als die paar Stunden eingebracht habe, die du jetzt einsparst?“
„Tut mir ja auch Leid“, antwortete er, „aber du weißt ja... die Leute machen ihre Events wieder selber, weil das billiger ist. Du bist nicht die einzige, die gehen muss. Bloß die erste. Frag doch mal bei W&L, ich glaube, die brauchen eine Aushilfe, weil da zwei schwanger sind. Die Schwägerin von einem Freund meiner Schwester arbeitet da, glaube ich.“
„Glaube ich ist gut“, murrte ich. „Okay, ich frag mal. Hat dieser doofe Anwalt dich eigentlich wirklich verklagt?“
„Grünne? Nö, verklagt nicht. Lieber wäre es mir fast. Der blöde Sack erzählt nur überall rum, wir wären unzuverlässig, aber so, dass ich ihn nicht wegen Geschäftsschädigung drankriegen kann. Scheiß-Anwälte, die wissen, wie man´s macht, ohne verklagt zu werden.“ Er seufzte grabesschwer. „Aber den schnapp ich mir noch, pass nur auf!“
„Wie denn?“, fragte ich kühl. „Wenn ich nicht mehr hier arbeite, krieg ich doch nichts mehr mit. Na, dann weiterhin viel Erfolg!“ Ich schwenkte die Plastiktüte mit meinen paar Habseligkeiten und verließ die Büros von EventMachine. Draußen herrschte eine kalte Mainacht, ein grellgelber Halbmond schien auf die leeren Straßen und es war natürlich viel zu spät, sich bei W&L zu erkundigen. Die würden mich doch eh nicht nehmen, wütete ich vor mich hin, als ich Richtung Selling strampelte, das war schließlich ein Verlag. Und ein Verlag, das war viel zu gut, um wahr zu sein. Nie würden die mich nehmen, die konnten Leute haben, die schon fertig waren, Leute, die selbst schrieben, Leute, die von großen Verlagen kamen und endlos viel Berufserfahrung hatten, obwohl sie erst Anfang zwanzig waren, Leute, die im Ausland gewesen waren, Leute, wie sie sich der durchschnittliche idiotische Arbeitgeber erträumte. Leute, die sich mit Ende zwanzig ohne Abfindung selbständig machten, bevor sie zu teuer wurden.
Verdammt, in diesem Land wurde Arbeit nachgerade wirklich zu teuer. Kein Wunder, wenn die paar, die einen Job hatten, alle anderen mit durchfüttern mussten, bis sie selbst auf der Straße standen! Wieso wurden alle Kosten, die das ausgeleierte Sozialnetz verursachte, an die Lohnnebenkosten gehängt, bis sich wirklich niemand mehr traute, jemanden einzustellen? Und dann jammerten sie rum wegen Schwarzarbeit – dabei blühte die wahrscheinlich als einziges! Und niemand packte eine echte Reform an, weil sofort die Besitzstandswahrer aufkreischten, sobald jemand laut über Einschnitte nachdachte. Und wir sollten, trotz der Angst vor der Zukunft, munter Geld ausgeben, um die Wirtschaft anzukurbeln? No, Sir!
Mein Geld brauchte ich selbst, fürs hohe Alter, wenn die Rentenversicherung längst zusammengebrochen wäre. Zahlen musste ich, kriegen würde ich nichts mehr. Konnte man die eigentlich wegen Betrugs drankriegen, wenn sie doch wussten, dass das ein Scheißgeschäft war?
Als ich kurz davor stand, je einen groben Brief an die Bundesregierung, die Landesregierung, den Stadtrat und den Bezirksausschuss zu formulieren, kam ich glücklicherweise in Selling an und kettete mein Fahrrad an den Apfelbaum. Die Briefe konnte ich auch morgen schreiben, für heute hatte ich die Nase voll. Aber morgen hatte ich frei, vielleicht sollte ich doch mal bei W&L vorbeischauen, wissen konnte man´s schließlich nie...