Читать книгу Lösung - Elisa Scheer - Страница 4
Freitag, 15.04.2005: 19:30
ОглавлениеNoch eine Akte, dann musste endlich Schluss sein, schließlich war Freitagabend. Joe Schönberger schielte zu seinem Chef hinüber, der ganz versunken einige Schriftstücke studierte. Kunststück, seine Freundin war auf Geschäftsreise, da hatte er wohl nichts Besseres zu tun. Er, Joe, leider eigentlich auch nicht. Höchstens die letzte Flasche echtes Pilsner und vielleicht eine Tiefkühlpizza und dann vor den Fernseher. Ach nein – freitags gab´s überall nur Krimis, die reichten ihm tagsüber schon.
Na gut, joggen. Oder was lesen. Jedenfalls knurrte ihm mächtig der Magen. Er seufzte halblaut und heftete einen Bericht der Spurensicherung an die richtige Stelle. Der Fall war doch klar! Fehlte bloß noch die Aussage dieses einen Zeugen. Und der Abschlussbericht. Die Aussage fand er nach heftigem Rühren in den Zetteln auf seinem Schreibtisch, der Abschlussbericht lag immer noch im Druckerschacht. Erleichtert heftete er alles ab, kontrollierte die Akte noch einmal auf Vollständigkeit und warf sie mit einem befriedigten Laut in den Ausgangskorb. Dann stapelte er den übrigen herumliegenden Krempel säuberlich auf, warf ein, zwei irrelevante Rundschreiben weg, pinnte ein wichtigeres an die Korkwand und lehnte sich im Schreibtischstuhl zurück. Jetzt konnte das Wochenende kommen – und wenn er hundertmal keine Ahnung hatte, was er unternehmen sollte.
Der Chef grinste ihm über die Schreibtische hinweg zu. „Fertig? Dann hauen Sie mal ab ins Wochenende. Ich mach hier noch ein bisschen klar Schiff, ich komme nicht gerne in eine leere Wohnung.“
Joe angelte gerade nach seiner Jacke, die hinter seinem Drehstuhl auf dem Boden lag, mit einem Ärmel unter einer Stuhlrolle, als das Telefon klingelte.
„Wehe!“, stöhnte Spengler und nahm ab, weil Joe noch in den Kampf mit Stuhl und Jacke verstrickt war. Er lauschte, seufzte, schrieb sich etwas auf und sagte schließlich Worte, die Joe das Schlimmste befürchten ließen. „Ja gut, wir kommen. In zehn Minuten sind wir da.“
„Harry, hol schon mal den Wagen?“, fragte Joe beklommen.
Spengler nickte. „Eine Leiche im Hinterhof. Univiertel. Sieht nach Messerstecherei unter Betrunkenen aus. Bestellen Sie den Wagen, ich fordere die Spurensicherung an.“
Nach zwei hastigen Telefonaten machten sie sich auf den Weg.
Der Tatort war durch den Streifenwagen, der mit eingeschaltetem Blaulicht davor stand, leicht zu erkennen, und die übliche Gruppe Zuschauer hatte sich auch bereits eingefunden, allerdings noch keine Presse. Hörten die bei Local One etwa nicht mehr den Polizeifunk ab? Oder kamen sie nicht mehr an alle Fakten, seitdem die Polizei zunehmend mit Privathandys kommunizierte?
Joe parkte gegenüber und sie betraten den Hof, der bereits mit zwei tragbaren Scheinwerfern erleuchtet war. Ein uniformierter Beamter kam auf sie zu: „Ein Gast der Krassen Kati. Erstochen.“
„Bitte?“, konnte sich Joe nicht verkneifen.
„Erstochen“, wiederholte der Beamte leicht erstaunt.
„Nein. Krasse Kati? Wer ist das denn?“ Es klang nach einer Unterweltgröße.
„Das Lokal hier heißt halt so“, erläuterte der Polizeimeister. „Wahrscheinlich, weil die Adresse Katharinenstraße lautet. Jedenfalls, der Tote hat hier mit Freunden getrunken -“
„Bitte“, unterbrach Spengler, „lassen Sie doch dieses Zombiegerede. Meinetwegen sagen Sie das Opfer – aber ein Toter kann nicht trinken.“
Der Uniformierte nahm noch etwas mehr Haltung an und las die übrigen Fakten mit beleidigtem Unterton von seinem Notizblock ab: „Also, das Opfer heißt Wenzel, Achim Wenzel, dreißig Jahre alt, hat hier mit drei Freunden gesessen und Bier getrunken. Dann wollte er wohl zur Toilette und kam nicht zurück, also haben seine Freunde, die selbst nicht mehr ganz nüchtern sind, den Wirt alarmiert. Der hat auf der Toilette nachgesehen und dann im Hof. Anscheinend neigen die Gäste, wenn sie etwas angeschlagen sind, dazu, sich lieber auf dem Hof – äh – zu erleichtern, anstatt die steile Treppe in den Keller zu nehmen.“
Ja, so roch es hier auch: Bier, Müll, Abgase und Urin. Joe sah sich naserümpfend um – ein typischer Hinterhof zwischen unrenovierten Altbauten, düster, eng, voll gestellt, mit feuchten Wänden und ohne das geringste Fitzelchen Grün.
„Gut, danke.“ Spengler trat an die Leiche heran, die unter einem Tuch lag.
„Arzt und Spurensicherung kommen gleich“, informierte er den zweiten Beamten, der neben dem weißen Bündel hockte, und nickte ihm zu, worauf der das Tuch ein Stück zurückschlug. Zum Vorschein kam das Gesicht eines recht gut aussehenden jungen Mannes, der erstaunt wirkte und sie aus babyblauen Augen anstarrte. Das helle Haar war zerzaust, die Haut leicht gebräunt.
„Hübscher Kerl“, kommentierte Spengler. „Vielleicht war´s eine Frau“, schlug Joe etwas schüchtern vor. „Eifersucht oder so.“
„Warten wir´s ab.“
Der Beamte schlug das Tuch weiter zurück, zum Vorschein kam ein sorgfältig gebügeltes weiß-blau gestreiftes Hemd, das durch einen großen und zwei kleine Blutflecke verunziert wurde.
„Drei Stiche“, murmelte Spengler. „Die kleinen Flecken – Joe?“
„Entweder nicht tödlich oder post mortem?“, antwortete dieser etwas unsicher.
„Brav. Könnte durchaus sein. Naja, warten wir auf den Arzt, der kann uns sicher mehr sagen. Wo sind denn diese Saufkumpane?“
„Drinnen. Im Nebenzimmer. Der Kilian passt auf sie auf.“
„Ausgerechnet!“, seufzte Spengler. POM Franz Kilian pflegte den Zeugen jedes Gespräch zu verbieten, anstatt einfach mitzuschreiben.
Sie betraten das Lokal durch den Hintereingang. Sehr attraktiv präsentierte es sich nicht: Direkt neben der Tür ging es steil hinunter zu den Toiletten, wie man auch deutlich riechen konnte; die Wände des schmalen Gangs waren voll gestellt mit Putzeimern (die anscheinend selten benutzt wurden), leeren Bierträgern, zwei Körben Altpapier und einem Stapel leerer Kartons, der jeden Moment in sich zusammenzufallen drohte. „Was für ´ne Kaschemme“, murmelte Spengler.
„Vielleicht ist das Bier gut?“, mutmaßte Joe. Spengler angelte eine der leeren Flaschen aus dem Träger. „Finden Sie? Ich weiß ja nicht...“
Joe betrachtete traurig die Flasche. „Nein, wirklich nicht. Und essen würde ich hier auch nichts. Ist ja ekelhaft!“
Durch einen Perlenvorhang betraten sie das Lokal, wo die Bedienung eifrig Gläser spülte. „Sind Sie von der Polizei? Die drei sitzen da drüben.“ Im Nebenraum fanden sie die drei, die alle in ein Bierglas starrten und schwiegen; Kilian stand neben der Tür stramm und fixierte sie, als habe er sie bereits des gemeinschaftlichen Mordes überführt. Spengler schickte ihn nach draußen, was ihn zu kränken schien.
„Nun, meine Herren“, begann er dann und setzte sich zu den dreien, während Joe sich bescheiden an den Nachbartisch verzog und sein Notizbuch aufschlug, „dann bräuchte ich zunächst mal Ihre Namen.“
Joe notierte Dieter Regensburger, Hans-Joachim Pfeifer und Ulrich Löbl und harrte weiterhin der Dinge mit halb erhobenem Kugelschreiber.
„Sie waren hier mit Achim Wenzel verabredet?“
„Ja“, sagte Pfeifer, „wie jeden Freitag. Das ist sozusagen unser Stammtisch. Schauen Sie, wir schuften die ganze Woche für einen Hungerlohn, und am Wochenende haben wir die liebe Familie am Hals. Da braucht man doch wenigstens mal einen schönen Abend.“
„Ah ja. Und was schuften Sie so für einen Hungerlohn?“
Pfeifer war Elektriker, Regensburger Verwaltungsangestellter (Joe bemühte sich, nicht höhnisch zu prusten – schuften? Hungerlohn??) und Löbl machte die Büroarbeit bei einer Spedition.
„Und Herr Wenzel?“
„Der war was Besseres – aber das hat er sich nie raushängen lassen. Naja, fast nie. Er war Diplomkaufmann“, verkündete Löbl so stolz, als falle von diesem akademischen Glanz auch etwas auf sie ab.
„Und worüber haben Sie sich so unterhalten, bei Ihren Stammtischen?“
„Sagen Sie das bloß nicht so, als hätte Achim mit uns Prolls kein gemeinsames Thema finden können!“, brauste Regensburger auf.
„So hab ich das doch gar nicht gemeint“, beschwichtigte Spengler. „Also?“
„Naja – das Übliche eben. Fußball... Weiber... was man mal machen müsste...“
„Und, was müsste man mal so machen?“
„Zum Beispiel eine Reise. Ohne unsere Ehekreuze. Vielleicht mal nach Asien...“ Löbl schaute so lüstern, dass es Joe in der rechten Faust zu jucken begann. „Oder mal eine Saison lang zu jedem Auswärtsspiel.“
„Oder mal zusammen in einen richtig scharfen Puff“, warf Pfeifer ein und zwinkerte Spengler zu. Der warf ihm einen mitleidigen Blick zu, sagte aber zunächst nichts. „Obwohl“, sinnierte Regensburger, „der Achim, der war ja ganz gut versorgt...“
„Aha. Seine Frau ist also kein Ehekreuz?“
„Die? Und wie! Drei Bälger, das müssen Sie sich mal vorstellen! Drei Bälger in vier Jahren!“
„Na“, warf Joe ein, „die hat sie ja wohl nicht ganz alleine gemacht, oder?“
„Reingelegt hat sie ihn! Er musste sie heiraten! Und dann hat sich´s nicht mal gelohnt. Und aufpassen kann sie auch nicht, immer wieder – zack!“
„Wieso hat er denn nicht aufgepasst?“, wollte Spengler wissen, von dieser Ehe nun doch fasziniert.
„Er? Wieso denn er? Das ist doch Weiberkram. Und so mit ´nem Gummi, das macht ihm keinen Spaß, hat er gesagt. Nee, die Iris ist nicht die Traumfrau. Aber er hat ja noch die Cora. Und was er von der erzählt hat, was die alles mit sich machen lässt – Junge, Junge! Da hat er uns vorhin erst Sachen ins Öhrchen geflüstert..."
„Zum Beispiel?“
Pfeifer wand sich, anscheinend war er einer von der Sorte, die gerne Obszönitäten hörte, sie aber nicht aussprechen konnte. Je lüsterner, desto verklemmter, dachte Joe und spitzte die Ohren. Was dieses sagenhafte Cora mit sich anstellen ließ, interessierte ihn nun doch. Außerdem musste es in den Bericht.
„Naja, also – äh – er hat nicht den üblichen Weg genommen... Ich meine, so was sieht man ja sonst nur im Film, nicht... da haben wir dann schon gestaunt.“ Sobald er die Klippe umschifft hatte, sprach er schneller, als sei er erleichtert. „Analverkehr?“, fragte Spengler, und Joe staunte, wie geschäftsmäßig, beinahe gelangweilt seine Stimme dabei klang.
„Äh – also, ja. Kann man so sagen, ja.“ Pfeifer wischte sich über die Stirn.
„Und das hat er so herumgetratscht.“ Spengler stellte das einfach fest.
„Na, warum auch nicht? Ich meine, er hat ganz gerne mal ein bisschen erzählt, wie gut er es mit den Mädels konnte. Er war ja auch ein toll aussehender Kerl.“ Naja, besser als ihr drei Jammergestalten allemal, dachte sich Joe. Hühnerbrust, Halbglatze, Bierbauch. Instinktiv fuhr sich durch sein volles dunkelblondes Haar und spannte kurz seine wohltrainierten Bauchmuskeln an.
„Außerdem waren wir seine Freunde“, mischte sich Löbl ein. „Wem hätte er es denn sonst erzählen sollen? Seiner Alten vielleicht?“
„Vielleicht hatte er sogar noch eine dritte Tussi“, überlegte Regensburger.
„Was?“, fragten Spengler, Löbl und Pfeifer zugleich und starrten ihn an. Pfeifer, der am blödesten geglotzt hatte, fasste sich auch als erster: „Du meinst den Anruf vorhin? Stimmt. Das war sicher seine Neueste.“
„Was hat sie denn gesagt?“, fragte Spengler und versuchte, nicht allzu neugierig zu klingen. „Gar nix. War ´ne SMS. Schauen Sie doch auf sein Handy! Wir haben noch geblödelt, weil wir erst dachten, er kriegt eine SMS und geht sofort aufs Klo, als ob er nicht von selbst merkt, dass das Bier wieder raus will.“
„Joe, haben wir sein Handy?“
Joe sah auf. „Soll ich fragen gehen?“
„Ich bitte darum. Und bestellen Sie noch drei Bier, ja?“
„Sie sind richtig!“, lobte Pfeifer. „Für´n Bullen, meine ich.“
Joe eilte in den Hof und orderte unterwegs drei Helle. Die Spurensicherung war noch zugange, und ein Beamter überreichte ihm eine Plastiktüte: „Die Geldbörse des Toten und seine Uhr. Und ein Kamm.“
„Kein Handy?“
„Nö. Kein Handy, kein Ehering.“
Joe hastete zurück. Spengler sah auf und registrierte stirnrunzelnd Joes bedauerndes Kopfschütteln. Die drei Freunde des Opfers bekamen gerade ihr frisches Bier und waren abgelenkt, so konnte Joe seinem Chef kurz die Tüte mit den übrigen Habseligkeiten zeigen. Spengler wandte sich wieder den dreien zu, die alle drei ein frischer Schaumschnurrbart zierte. Unisono hoben sie die Gläser. „Prost – und danke!“
„Der Achim wollte ja eine Runde schmeißen, wenn er wiederkommt“, sinnierte Löbl. „Schöne Scheiße.“