Читать книгу Lösung - Elisa Scheer - Страница 8
Freitag, 15.4.2005: 21:45
Оглавление„Die Frau tut mir aber trotzdem Leid“, beharrte Joe, als sie in Mönchberg im Benediktsweg parkten.
„Gute Gegend“, lobte Spengler und öffnete seine Tür. „Ja, mir auch. Jetzt steht sie da mit drei kleinen Kindern. Aber glauben Sie, dass dieser Achim so ein Verlust war? Betrogen hat er sie schließlich auch.“
„Und grob angepackt. Haben Sie die blauen Flecken an ihren Armen gesehen?“
„Sicher. Vielleicht ist sie so besser dran. Allerdings könnte sie so auch ein ganz nettes Motiv haben, nicht?“
„Chef, das ist nicht ihr Ernst! Diese kleine Frau?“
„So klein ist sie nicht, sie wirkt nur so auf uns. Und man braucht nicht viel Kraft, um einem Angetrunkenen ein Messer hineinzurennen. Morgen fragen wir sie mal nach ihrem Alibi.“
„Die Frau hat gerade ihren Mann verloren!“
„Eben. Vielleicht war das genau ihr Ziel? So, und jetzt die Schwester.“
„Verdächtigen Sie die etwa auch?“
„Wer weiß? Aber erst mal hoffe ich, dass sie uns etwas über den teuren Verblichenen erzählen kann.“ Er klingelte, und Joe wartete neben ihm.
Nichts. Spengler klingelte noch einmal. Wieder nichts. Nur in der Ferne das Zuschlagen einer Autotür und das Fiepen einer Fernbedienung. Und noch weiter weg das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges.
„Treibt sich rum, die Gute“, kommentierte Joe.
„Schönberger, bitte! Es ist Freitagabend. Verkneifen Sie sich die moralinsauren Anwandlungen. Vielleicht ist sie im Theater oder bei einer Dichterlesung.“
„Dann wäre sie aber ganz schön aus der Art geschlagen, wenn man sich den Bruder vor Augen hält. Auf jeden Fall ist sie nicht da.“
Sie wandten sich ab und stießen fast mit einer Frau zusammen, die sie nicht bemerkte, weil sie in ihrem Lacktäschchen nach dem Schlüssel kramte. Irritiert sah sie schließlich auf. Um die dreißig, registrierte Joe. Gut zurechtgemacht, aber in der Basis eher unscheinbar. Blond, blauäugig, ein bisschen rundlich. Sie kam ihm vage bekannt vor, aber ihm fiel nicht ein, woher.
„Wollen Sie etwa zu mir?“
„Wenn Sie uns sagen, wie Sie heißen?“, fragte Spengler zurück. Ihr Gesicht verschloss sich. „Wer sind Sie denn überhaupt?“
„Kripo Leisenberg. Wir suchen Frau Wenzel.“
„Das bin ich“, gab sie zu, harmlos erstaunt. „Was ist denn passiert? Hab ich falsch geparkt oder was? Ist – o Gott, ist bei mir eingebrochen worden?“ Sie wollte zur Haustür stürmen, wurde aber von ihrem wadenlangen Rock etwas behindert. „Warten Sie doch! Bei Ihnen ist nicht eingebrochen worden. Es geht um Ihren Bruder.“
„Achim? Was ist mit ihm?“ Sie schien sich wieder beruhigt zu haben.
„Es tut mir sehr Leid, aber Ihr Bruder wurde heute tot aufgefunden“, brachte Spengler es hinter sich. Ihre Augen weiteten sich, aber sie schwieg. Dann sagte sie: „Kommen Sie mit rauf.“
Sie folgten ihr in den ersten Stock, wo sie eine weißlackierte und mit Messing verzierte Wohnungstür aufschloss und den beiden bedeutete, einzutreten. Sie knipste das Licht an und wies aufs Wohnzimmer. „Setzen Sie sich doch, bitte.“
Joe fand es immer wieder interessant, sich in fremden Wohnzimmern umzusehen. Richteten die Leute sich eigentlich so ein, wie es ihnen wirklich gefiel oder so, wie sie wirken wollten? Oder gingen sie mit der Mode?
Sabine Wenzel – verflixt, auch den Namen kannte er irgendwo her! – hatte ihr Wohnzimmer, einen durchschnittsgroßen und standardmäßig weiß gestrichenen Raum mit dunkelgrauem Teppichboden, einem Fenster und einer Sprossentür, die auf den Balkon führte, sehr nüchtern eingerichtet. Weiße Regale, gefüllt mit Büchern, selbst aufgenommenen Videokassetten, die penibel mit gedruckten Etiketten beklebt waren, einigen DVDs und CDs und einigen ordentlichen weißen Pappschachteln, die ebenfalls sauber etikettiert waren: „Kassetten“, „Postkarten“, „Stadtpläne.“ Joe war beeindruckt. Bei ihm und bei allen Leuten, die er kannte, enthielten solche Kisten nie das, was draufstand – bei dieser Frau aber garantiert schon.
Zwei dunkelgraue Zweisitzer ohne Zierkissen, dazwischen ein vollkommen leerer weißer Tisch – das Standardmodell von Ikea, das Joe erkannte, weil er es selbst besaß - , an der Wand ein kleiner Esstisch in weiß mit zwei ebenfalls weißen, ungepolsterten Stühlen. Weiße, glatte Gardinen, eine weiße Lampe mit dunkelgrauem Rand. Sehr monochrom, das alles. Und alles von Ikea, wenn ihn seine Erinnerung nicht trog. Gefiel ihr genau diese Kombination oder gab es sie exakt so im Katalog? Eher nicht, glaubte er, im Katalog wäre das alles noch mit Sofakissen und diversem Schnickschnack dekoriert gewesen.
Sabine Wenzel kam zurück, nun ohne die gefütterte Jacke. Sie trug ein matt schimmerndes Kostüm aus dunkelbraunem Taft oder einem ähnlichen changierenden Stoff, Strümpfe in der gleichen Farbe und dunkelbraune Lackpumps. Sie musste wirklich etwas Besseres vorgehabt haben. Ihr Täschchen stellte sie auf den Tisch und setzte sich auf das freie Sofa.
„Nun? Ich hatte zuerst vermutet, er habe einen Unfall gehabt, aber wenn Sie sagen, Sie hätten ihn gefunden... War er betrunken?“
„Durchaus möglich. Warum fragen Sie?“
„Nun, das kam leider öfter vor. Was ist denn nun passiert?“
„Er ist ermordet worden. Im Hinterhof der Krassen Kati.“
„Krasse Kati? Die arme Frau, was für ein Name! Was hat sie damit zu tun?“
„Nichts. Es handelt sich um eine Kneipe in der Katharinenstraße.“
Sie schaute einen Moment lang angestrengt vor sich hin, dann hellte sich ihr eher rundes Gesicht auf. „Das ist hinter der Uni, oder?“
„Richtig. Sehr schockiert scheinen Sie nicht zu sein?“
Sie zuckte die Achseln. „Wir haben uns nicht wirklich nahe gestanden. Außerdem war mir schon nach Ihren ersten Worten klar, dass ihm etwas zugestoßen ist. Nur hätte ich eben als erstes vermutet, dass er betrunken Auto gefahren und dabei verunglückt ist.“
„Was hatte er denn für einen Wagen?“
„Einen roten Mazda. Diese kleinen Zweisitzer mit den Schlafaugen, kennen Sie die? So eine Art Porsche für Arme?“
„Werden die überhaupt noch gebaut?“, mischte Joe sich ein.
„Das weiß ich nicht. Er hatte ihn schon vor seiner Ehe, er ist ja erst seit etwas über drei Jahren verheiratet.“
„Und schon drei Kinder?“, konnte Spengler sich offenbar nicht verkneifen.
„Ja... unsere Eltern haben damals darauf bestanden, dass er Iris heiratet. Und ihm die Wohnung dafür überlassen – und später dann vererbt -, damit sie ein vernünftiges Dach über dem Kopf haben. Ich glaube, Luca ist drei Monate nach der Hochzeit geboren – Moment, ja. Genau. Ich muss es ja wissen, ich bin seine Patin.“ Sie lächelte kurz.
„Und dann fährt er einen Zweisitzer?“
„Naja...“ Sie wirkte verlegen. „Er war, glaube ich, in dieser Ehe noch nicht ganz angekommen. Der Wagen war wohl ein Rest von Illusion, das er noch ein freier Mann sei.“ Sie deutete bei „freier Mann“ die Anführungszeichen gestisch an.
„Oder schon wieder im Abreisen begriffen“, kommentierte Spengler. „Zumindest hatte er seinen Freunden zufolge eine Geliebte.“ Sie starrte ihn konsterniert an. „Das glaube ich nicht! Davon hätte Iris mir doch erzählt!“
„Vielleicht weiß sie´s nicht“, schlug Joe vor und notierte sich seine Eindrücke, in der Hoffnung, dass Spengler sie später nicht wieder als Beweis seiner angeblichen Naivität abtäte.
„Was haben Ihre Eltern Ihnen denn vererbt?“, wechselte Spengler das Thema. „Mir? Ich brauchte doch nichts“, wehrte sie ab. „Diese Wohnung hier ist praktisch abbezahlt, ein Auto habe ich auch, und im öffentlichen Dienst bin ich ja unkündbar. Naja, theoretisch habe ich noch den Pflichtteil zu kriegen, aber wie sollte Achim das denn machen? Außer der Wohnung haben meine Eltern nicht allzu viel hinterlassen, und das bisschen Bargeld brauchten Achim und Iris für die Kinder. Ich hab ja keine...“
„Man hat Sie also praktisch enterbt?“
„Unsinn! Das klingt ja so, als hätten meine Eltern Achim vorgezogen. Nein, es ging einfach danach, wer die größeren Bedürfnisse hatte. Und das war eben Achim. Damals hatte er keinen festen Job, eine schwangere Freundin und eine ganz furchtbare winzige Wohnung. In Spitzing! Dort kann man doch keine Kinder aufwachsen lassen! In der Sophienstraße gibt es sogar einen pädagogisch gestalteten Spielplatz im Hof.“
Spitzing war wirklich das Letzte, überlegte Joe. Das einzige Spiel, das die Kinder dort lernten, war, Telefonzellen abzufackeln. Obwohl – mittlerweile hatte die Telecom die wahrscheinlich schon alle abgebaut. Und diese Sabine Wenzel wirkte zwar nicht so, als neidete sie Achim das Erbe, aber konnte man´s wissen? Er kritzelte Neid? schräg an den Rand der Seite.
„Wo waren Sie eigentlich heute Abend?“, fragte Spengler nun, erneut das Thema wechselnd. „Auf einer Vernissage“, antwortete Sabine Wenzel. „Verdächtigen Sie mich etwa? Nein, nein, lassen Sie nur, ich habe schon den einen oder anderen Krimi gelesen. Reine Routine, ich weiß. Die Vernissage war in der Galerie Leyenschläger, kennen Sie die?“
„Nein. Wo ist die?“
„In der Avenariusgasse. Sehr interessant, übrigens. Junge russische Fotografen. Vielleicht kaufe ich mir eins der Bilder.“
„Und dort hat man Sie auch gesehen? Und kann sich an Sie erinnern?“
„Ja... ich denke schon. Ich meine, der Inhaber, Michael Leyenschläger, kennt mich. Ich habe dort schon einmal ein Bild gekauft.“
Joe sah sich um – nur kahle Wände. Sie hatte seinen Blick bemerkt. „Es hängt im Schlafzimmer. Möchten Sie es sehen? Gerrit Heldenberg, Lösung. Ein tolles Bild. Sehr beruhigend.“
„Später“, wehrte Spengler ab. „Von wann bis wann waren Sie dort?“
„Ich glaube, ich bin so gegen kurz vor sieben gekommen“, überlegte sie. „Ja, stimmt. Ich muss eine der ersten gewesen sein, der Parkplatz im Hof war noch ganz leer.“
„Und wann sind Sie gegangen?“
„Schwer zu sagen. Wann war ich denn hier? Jetzt ist es zehn nach zehn – Viertel vor? Dann dürfte ich um halb zehn gefahren sein. Die Veranstaltung war so gegen zehn nach neun vorbei... ja, genau.“
„Aha. Aber was haben Sie zwischen zehn nach neun und halb zehn gemacht? Wenn Sie um zehn nach die Galerie verlassen haben, hätten sie doch kurz vor halb schon hier sein können?“
„ Der Parkplatz auf dem Hof war total zugeparkt, und Sie kennen das ja: Wer als erster kommt, kann dafür erst als letzter fahren. Ich musste warten, bis die Autos weg waren, die die Zufahrten blockierten. Das hat bestimmt eine gute Viertelstunde gedauert.“
„Gut... Michael Leyenschläger, ja? Wenn Sie uns dann noch das Bild zeigen würden?“
Sie erhob sich würdevoll. „Kommen Sie bitte?“ Es gab außer dem Wohnzimmer nur noch ein weiteres Zimmer. Joe schätzte die Wohnung auf insgesamt knapp fünfzig Quadratmeter. Und der Bruder hatte mehr als Doppelte – gut, die waren auch zu fünft.
Das Schlafzimmer war genauso streng eingerichtet wie das Wohnzimmer – ein weißer Einbauschrank, ein weißes Bett, das nicht in der Mitte stand (typisch alte Jungfer, dachte Joe und tadelte sich selbst dafür), höchstens einszwanzig breit, weiße Wände, weiße Vorhänge, eine einfarbig dunkelgraue Tagesdecke aus zugegebenermaßen teuer aussehendem gesteppten Stoff – und das Bild.
Es war eher klein, vielleicht vierzig mal sechzig, und zeigte auf cremefarbenem Grund dicke schwarze Linien, die in der oberen linken Ecke wild verknäuelt waren und sich dann auf ihrem Weg in die gegenüberliegende Ecke entwirrten. Einige wurden gebündelt, einige ordentlich miteinander verflochten, manche endeten in einem dicken roten Punkt; die übrigen liefen zunehmend parallel bis in die rechte untere Ecke, wo sie gesittet aus dem Bild verschwanden. Joe fand das Bild blöd und ertappte sich bei dem Gedanken, das könne er auch. Spengler baute sich vor dem Bild auf und betrachtete es schweigend. „Haldenberger?“, fragte er dann.
„Heldenberg“, korrigierte Sabine Wenzel. „Gerrit Heldenberg.“
„Schreiben Sie das auf, Schönberger. Heldenberg. Lösung – oder Lösungen?“
„Lösung. Gefällt es Ihnen?“
„Es beschreibt unsere Arbeit“, antwortete Spengler und drehte sich um. „So, wie sie laufen sollte, jedenfalls. Im Moment befinden wir uns leider noch hier.“ Er zeigte auf das Knäuel. „Ich hoffe, es gibt Drucke davon. Oder wenigstens ein Poster.“