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Es war weg. Eindeutig. Nicht verstellt, nicht versteckt, nicht nach hinten gerutscht - weg. Aus dem Glasschrank geklaut: Sybels Geschichte des Ersten Kreuzzugs von 1841 mit den wunderbar kitschigen Illustrationen im Stil des Historismus. Natürlich war es für Forschungszwecke mittlerweile unbrauchbar, weil der nationalstolze Ton einem furchtbar auf die Nerven gehen konnte und weil die Interpretation der Quellen heutigen Forschern die Haare zu Berge stehen ließ, aber es war ein wertvolles Stück und selbst Primärliteratur zum Thema Rezeption des Mittelalters im 19. Jahrhundert. Genau deshalb hatte sie es ja aus dem Schrank nehmen wollen!

Und um sich noch einmal das Gemälde des drittklassigen Historienmalers anzusehen, das Gottfried von Bouillon bei der Krönung zum König von Jerusalem zeigte. Schön wie ein Popstar – da konnte man stramm auf die Vierzig zugehen und immer noch schmachten! Leider sah der Gute auf zeitgenössischen Abbildungen nicht halb so attraktiv aus…

Verdammt, hier gab es doch keine schwarzen Löcher! Sicher, das Historische Seminar war in einem schäbigen Altbau untergebracht, aber die Bibliothek des Mittelalterlichen Seminars war tadellos in Schuss, mit einem perfekten Online-Katalog und übersichtlichen Regalen. Und außer den wissenschaftlichen Mitarbeitern und den „Knechten“, wie man die Hilfskräfte üblicherweise nannte, hatte auch keiner einen Schlüssel zu dem Glasschrank, in dem die „Prunkstücke“ des Instituts verwahrt wurden.

Sie linste um das Regal neben dem Schrank. An den paar Arbeitsplätzen vor dem – leider mittlerweile einteiligen – Bogenfenster saßen die üblichen Leute: Teubner, der Streber, der wahrscheinlich abends eine Isomatte zwischen den Regalen ausrollte, und das putzige Pärchen Anja und Olli, zwei Knechte – oder besser Knecht und Magd. Sabine Jehlen, die für ein Fünftsemester schon richtig staubig wirkte, und zwei ratlose Anfänger, die sie nur flüchtig kannte und die verschiedene Bände der Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe um sich aufgestapelt hatten, in denen sie aber nichts zu finden schienen. Alle ganz unbescholten – und keiner hatte den dicken braunen Lederband vor sich liegen. Taschen hatte ja niemand mit hereingebracht, das war schließlich strengstens verboten.

Wer, zum Teufel?

Wenn es das erste Mal gewesen wäre, gut... Nein, nicht gut, um den Band war es wirklich schade. Aber seit etlichen Monaten verschwanden hier Bücher. Nicht die, die man für eine normale Seminararbeit brauchen konnte, sondern die Prachtbände, die historischen Erstausgaben, sogar schon zwei Handschriften – keine wirklichen Glanzstücke, eher Fragmente, aber für ein so kleines Seminar doch beträchtliche Werte.

Dass Mahlmann auch nicht bereit gewesen war, die wertvollsten Stücke als Dauerleihgabe an die Unibibliothek zu geben! Die hatten richtig abschließbare Vitrinen und Schränke und sogar einen - wenn auch dürftigen - Wachdienst. Nein, der alte Sturkopf hatte nur gesagt: „Die gehören uns und bleiben hier, basta. Da passiert schon nichts, Frau Eversbach.“

Das hatte er jetzt davon, jetzt war wieder etwas weg.

Sie müsste es Mahlmann sofort melden, aber der war natürlich schon ins Wochenende verschwunden, obwohl es erst Donnerstagmittag war. Kunststück, wenn man in Garmisch wohnte!

Mahlmann war überhaupt ein alter Faulpelz, ärgerte sie sich. Eine Vorlesung am Dienstagnachmittag, eine am Mittwochmorgen, zwei Seminare, eins am Mittwochnachmittag und eins am Donnerstagmorgen, dazwischen eine einzige Sprechstunde – und dann Wochenende von Donnerstagmittag bis Dienstagmittag. Nicht übel, und das für ein C 4-Gehalt! Man könnte die Kapazitäten der Unis leicht vergrößern, dachte sie sich wieder einmal, wenn man das Deputat der Professoren um zwei bis vier Stunden heraufsetzte und Veranstaltungen am Samstag zuließ. Ohne Extrakosten, aber davon wollten die alten Besitzstandswahrer natürlich nichts wissen.

Von Effizienz hatten die sicher noch nie was gehört!

Sie beschränkte sich darauf, Mahlmann den Verlust per Mail mitzuteilen, um ihm wenigstens das Wochenende zu verderben, und steckte ihr Smartphone danach notdürftig befriedigt wieder ein.

Teubner sah von der Aufsatzsammlung auf, aus der er gerade exzerpierte, und lächelte sie abwesend an. Ganz netter Kerl, dieser Assistent. Schrieb an seiner Habilitation – was war es gleich wieder? Irgendetwas mit den Ottonen… Sie dachte noch darüber nach, als die Bibliothekstür aufflog.

Gereizt drehte sie sich um – der schon wieder! Rücksichtsloser Hund, dieser blöde Kerl von den Germanisten. Fächerübergreifende Forschung hatte eindeutig ihre Nachteile, wenn der jetzt das Chaos aus dem Germanistischen Seminar hier auch einführen wollte. Gut, er hatte keine Hand frei, mit dem Stapel aus Büchern, Mappen und einem Laptop, den er mühsam balancierte, den Kugelschreiber zwischen den Zähnen – aber trotzdem.

Sie nahm ihm den Laptop ab, bevor er noch auf dem Linoleum zerschellte. „Es gibt da so Läden, da geben Sie dem Verkäufer etwas Geld und dafür gibt er Ihnen eine Tasche“, schlug sie leise vor und erntete einen missmutigen Blick, als er den Kugelschreiber auf den Tisch spuckte.

„Ja, und dann heißt es wieder, keine Taschen in der Bibliothek. Das kenne ich noch von meinem eigenen Studium. Danke, dass Sie das Notebook gerettet haben, aber gute Ratschläge brauche ich nicht.“

Blöder Stoffel. Und außerdem hatte er so laut gesprochen, dass alle mit offenem Mund gelauscht hatten – außer Teubner und der Jehlen, die sich nie ablenken ließ. Hatten die Germanisten eigentlich alle so schlechte Manieren? Sie versuchte, sich an ihre eigene Studienzeit zu erinnern, aber außer einem enervierenden Massenbetrieb war ihr nicht viel im Gedächtnis geblieben.

„Könnten Sie etwas leiser sprechen? Das ist hier immerhin eine Bibliothek!“

Er sah sich aufreizend gründlich um. „Stimmt!“, flüsterte er dann theatralisch, „Danke, dass Sie mich darauf hingewiesen haben!“

Es juckte sie im Handgelenk, aber sie bezähmte sich, holte sich einige Aufsatzsammlungen aus dem Regal und setzte sich – glücklicherweise schön weit von diesem unsäglichen Wülfert entfernt – wieder an den Tisch der Aufsicht.

Leider war die Frage, wer hier die Kostbarkeiten des Instituts klaute – und was um Himmels Willen er damit machte, die Dinger waren doch gestempelt! – viel interessanter als die Frage, auf welchen Quellen die eigenartige Mittelalterauffassung der Romantik beruhte. Genau genommen war auch das ein fächerübergreifendes Thema, aber sie würde den Teufel tun und das dieser Nervensäge Wülfert vorschlagen – schlimm genug, dass er sich hier mit seiner Germanistikgeschichte breit machte!

Das tat er allerdings aus gutem Grund, denn bei den Germanisten redete keiner mit ihm. Wer sich habilitierte, indem er die Verstrickungen der Leisenberger Germanisten in die NS-„Kultur“politik darlegte und entschlüsselte, wurde schnell als Nestbeschmutzer abgetan, was sie nun auch wieder nicht verstehen konnte – nach siebzig Jahren sollte man doch allmählich Distanz gewonnen haben? Außerdem war das Buch glänzend geschrieben, man sollte nicht glauben, dass der Verfasser ein derart zerzauster und unmanierlicher Kerl war.

Sie arbeitete weiter, nicht ohne immer wieder misstrauische Blicke in alle Richtungen zu werfen. Leider konnte sie sich auf die Vorstellungen der Romantiker nur sehr unzureichend konzentrieren, weil ihr dauernd anderes durch den Kopf ging: Konnte man den Glasschrank nicht doch mit einem soliden Vorhängeschloss sichern? Aber wer sollte den Schlüssel bekommen?

Warum wechselte die Jehlen jetzt plötzlich den Platz? Fühlte sie sich von Wülfert oder Teubner womöglich gestört? Nein, sie packte ein Netzteil aus – aha, der Laptop-Akku gab den Geist auf und dort drüben befand sich eine Steckdose. Kein Grund zur Panik.

Teubner las aufmerksam einen Aufsatz, Wülfert hämmerte auf seinen Laptop mit einer Wut ein, die dem Gerät auf die Dauer nicht gut tun konnte. Ob er wieder irgendwelche Peinlichkeiten bei den Germanisten – oder dieses Mal bei den Historikern – aufdeckte?

Sie verstand wirklich nicht, warum man sich über so etwas aufregen konnte: Die Zeiten, als die Wissenschaftler den Nazis in den Arsch gekrochen waren – zumeist wohl ohne selbst den Stuss zu glauben, den sie zeitgemäß verzapften – waren nun ein gutes Menschenleben lang vorbei. Es konnte sich also nicht mehr um die gleichen Persönlichkeiten handeln und andere Bevölkerungsgruppen und Institutionen hatten doch auch keine Schwierigkeiten damit, sich von vergangenen Sünden zu distanzieren? Warum dann die Germanisten nicht, bei denen es wirklich peinliche Entgleisungen gegeben hatte? So etwas konnte man doch nicht unter den Teppich kehren, schließlich konnte es ja lehrreich für die Zukunft sein? Es sah immerhin zurzeit nicht so aus, als sei das Zeitalter der Diktaturen endgültig vorbei!

Wollte sie nicht eigentlich an ihrem eigenen Artikel für diese dämliche Festschrift arbeiten? Apropos – sie zog ihr Smartphone heraus und rief die Instituts-Whatsapp-Gruppe auf, um die übrigen Schnarchnasen zum gefühlt hundertsten Mal an den Abgabetermin zu erinnern. Außer Josie Collnhausen hatte nämlich bis jetzt niemand geliefert.

Gegenüber brummte prompt ein Handy und Elli duckte sich – jetzt hatte sie Teubner aufgescheucht!

Ach, warum auch nicht? Der kleine Streber konnte sich ja nun nicht nur auf seine Habilschrift konzentrieren, wenn der gute alte Kehlheimer fünfundsiebzig wurde.

Und ziemlich gaga war, wenn man den Gerüchten glauben durfte.

Aber er musste die Festschrift ja nicht mehr lesen, wenn er nicht mehr konnte. Oder nicht mehr wollte. Die Uni feierte sein Angedenken und hatte etwas – mäßig Aufsehenerregendes – publiziert, basta.

Wülfert wurde etwas Geniales und Unverschämtes beitragen, wenn man ihn fragen würde, aber er gehörte nun einmal nicht zur historischen Fakultät. Und konnte er bitte dieses Gebrumme bleiben lassen?

Die Aufsichten waren gehalten, für Ruhe zu sorgen, aber die meisten taten natürlich nichts dergleichen, bestenfalls starrten sie Ruhestörer stumm an. Feiglinge.

War sie hier denn die einzige, die die Leute ansprach, wenn sie sich nicht benehmen konnten? Eigentlich unmöglich…

Sie zwang sich, nicht weiter über Ungerechtigkeit im Allgemeinen und im Besonderen nachzudenken, denn das brachte sie hier überhaupt nicht weiter.

Etwa eine halbe Stunde lang schaffte sie es, die Rolle Bayerns auf dem Reichstag von Besançon im Lichte bisher unbekannter oder doch wenigstens unausgewerteter Quellen zu beleuchten – über die Raufbold-Pose Ottos von Wittelsbach hinaus. Diese Geschichte kannte ja nun jeder, und echte Bayern grinsten dabei zufrieden: A gscheiter Baier hot si damois scho nix gfoin lassn!

Nicht allzu leises Gekicher schreckte sie aus ihrer Quelle auf. Die Jehlen würde doch nicht -? Nein, die lachte nie.

Ach so, Anja und Oliver amüsierten sich, hinter ihren Laptops nur unzureichend getarnt. Die beiden waren wirklich nett, aber konnten sie nicht anderswo turteln? Elli zischelte warnend, aber das dämpfte das Gekicher nur unwesentlich. Sie warf den beiden gereizte Blicke zu, die wenigstens etwas dämpfend wirkten. Die beiden waren manchmal noch sehr jung und rücksichtslos. Und offenbar ziemliche Konsumjunkies: die neuesten Tablets, nur Markenklamotten, perfekte Haarschnitte… sie selbst hatte während des Studiums nicht so ausgesehen!

Bevor sie in Erinnerungen an die glorreichen Neunziger versinken konnte, richtete sie sich energisch auf und arbeitete weiter. Schließlich waren jetzt alle da, die man in der Ferienzeit erwarten durfte, solange nicht noch jemand plötzlich von Arbeitswut befallen wurde.

Aber wer von dieser überschaubaren Truppe konnte denn den kostbaren Sybel geklaut haben? Und by the way auch die beiden Handschriften im letzten Monat und im Juli die beiden Giesebrecht-Erstausgaben? Nicht zu vergessen im Mai das Bruchstück eines Manesse-Faksimiles (nur zwei Abbildungen, aber immerhin!). Das hätte ohnehin eher zu den Germanisten gehört, fand sie.

Was alle diese Werke wert waren, wusste sie nicht, tippte aber auf einen Wert im gut fünfstelligen Eurobereich. Und der Glasschrank sah mittlerweile schon ziemlich kläglich aus!

Lücken im Regal

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