Читать книгу Lücken im Regal - Elisa Scheer - Страница 9
VII
ОглавлениеElli schlenderte gemütlich über den Markt und versuchte, ihre etwas überladene Eistüte so zu verspeisen, dass sie sich nicht bekleckerte. Lecker war das Eis wirklich – Grapefruit, Birne und Haselnuss. Nahezu gesund, wenn man mal von dem astronomischen Zuckeranteil absah. Aber der Mensch war ja schließlich auf Süßes konditioniert, nicht wahr?
Und die Einzige war sie auch nicht – jeder zweite schleckte Eis und betrachtete die Schaufenster von Läden, die er mit der Eistüte ohnehin nicht betreten durfte. Sie selbst wandte sich der Rathausbuchhandlung zu und betrachtete ohne großes Interesse, was die Schaufenster zu bieten hatten – Reisen nach Burgund? Nun gut, auf den Spuren der Geschichte direkt ganz interessant. Im nächsten Sommer vielleicht.
Leichte Küche? Salate konnte sie auch so, Fleisch mochte sie nicht besonders.
Luxushäuser? Tolle Aufnahmen, bestimmt – aber musste ein einzelner (oder auch eine einzelne Familie) wirklich mehrere hundert Quadratmeter Wohnfläche verbrauchen? Das war ja fast schon obszön!
Abrupt wandte sie sich ab, bremste mitten im Schwung, um die Birneneiskugel nicht zu verlieren, und stand vor dem schüchternen Assistenten, Teubner. Hatte der eigentlich auch einen Vornamen?
Er lächelte vorsichtig. „Frau Eversbach?“
„Herr Teubner, Grüß Gott. Schrecklich, was heute geschehen ist, nicht wahr?“
„Bitte? Ich habe heute noch keine Zeitung gelesen… was ist denn passiert?“
„Aber Herr Teubner, der Mord in der Bibliothek?“
„W-was? Es ist ein Mord - ? Das kann doch gar nicht – Ich war heute nicht in der Bibliothek, es tut mir Leid…“
„Herr Teubner, Sie haben doch keine Anwesenheitspflicht! Und wären Sie dagewesen, hätten Sie ohnehin bald wieder gehen müssen, denn die Polizei hat die Bibliothek für das Publikum gesperrt.“
„Aha. Ja, natürlich – oh, meinen Sie, morgen auch noch?“ Er sah sie regelrecht verzweifelt an. Elli war leicht erstaunt: War es denn so tragisch, wenn er einmal ein paar Tage nicht in die Bibliothek konnte?
Das sagte sie ihm auch: „Sie könnten doch auch in die Unibibliothek gehen. Oder ihre Ausbeute zu Hause in Ruhe auswerten!“
„Ach, ja – aber das verstehen Sie nicht…“
„Nein?“, fragte Elli nicht ohne Schärfe, „Glauben Sie, ich arbeite nicht wissenschaftlich? Man kann doch nicht immer recherchieren, ohne das Gefundene zu verarbeiten – irgendwann beginnt man Dingen nachzuforschen, die mit der eigentlichen Arbeit nur noch am Rande oder gar nichts mehr zu tun haben.“
„Vielleicht haben Sie da nicht ganz Unrecht…“, überlegte Teubner und Elli wollte sich schon wieder über dieses mehr als maue Lob ärgern, aber da lächelte Teubner sie so zutraulich an und sah dabei so verblüffend niedlich aus, dass ihr Ärger sofort verrauchte.
„Ich werde es versuchen“, versprach er dann. „Es bleibt mir ja auch nichts anderes übrig, nicht wahr?“
„Das sehe ich genauso. Worüber arbeiten Sie im Moment eigentlich genau?“
„Naja, genau… es geht mir um das Verhältnis von Otto I zu seinen Söhnen.“
„Ah ja – mir war gar nicht bewusst, dass es da neues Material geben könnte… Sie meinen Liudolf und Otto II?“
„Und die Rolle Adelheids bei diesem Bruderzwist.“
„Zwist? Ich bin keine Spezialistin, aber hat Liudolf sich aus Angst um sein Erbe nicht gegen den Vater erhoben, als der kleine Otto noch in den Windeln lag?“
„Im Großen und Ganzen stimmt das wohl, aber es gibt da durchaus einige Aspekte, die eine Neuinterpretation der Situation möglich machen.“
„Und darüber habilitieren Sie sich also?“
„Ja. Ich hoffe natürlich, eines Tages eine Professur zu bekommen. Nicht hier, versteht sich. In München vielleicht – oder Tübingen… Heidelberg… Marburg…“
„Berlin?“
„Ach, ich weiß nicht – die Interpretationen an der FU sind ja doch öfter etwas ideologisch verfärbt, nicht wahr?“
„Es gäbe ja auch noch die Humboldt-Universität...“
Teubner seufzte und sah wieder drein wie das wandelnde Kindchenschema. Dann sah er auf seine Uhr, riss die Augen erschrocken auf und verabschiedete sich hastig.
Elli sah ihm, ihre Eiswaffel langsam verspeisend, nachdenklich nach. Eigentlich machte er einen recht netten Eindruck, aber etwas hatte sie doch gestört… Weiterschlendernd grübelte sie darüber nach, was das sein konnte, bis es ihr endlich einfiel: Er hatte sich überhaupt nicht danach erkundigt, wer denn in der Bibliothek umgebracht worden war! War er so empfindsam (das würde zu seinem Babyface passen, überlegte sie) oder so desinteressiert?
Und hätte es die Höflichkeit nicht erfordert, wenigstens kurz nachzufragen, woran sie selbst gerade arbeitete? Stattdessen diese merkwürdig vage Auskunft über sein Arbeitsgebiet… ihr war eigentlich nicht bewusst, dass es zur Familiengeschichte Ottos des Großen noch irgendwelche Desiderate gab. Hausarbeiten über Widukind von Corvey, Liutprand von Cremona und andere Quellen zur Geschichte der Ottonen – okay. Aber eine Habilschrift? Da musste man doch etwas grundlegend Neues zutage fördern!
Merkwürdiger Mensch. Sehr auf sich selbst fokussiert, jedenfalls kam es ihr so vor, aber vielleicht kannte sie ihn zu wenig, um das schon beurteilen zu können. In der Bibliothek war er stets sehr konzentriert und schien nichts von seiner Umgebung wahrzunehmen. Gestern hatte er doch hinter seinen Büchern nicht einmal aufgesehen, als Wülfert solchen Krach gemacht hatte – oder? Sie konnte sich nicht erinnern. Teubner war genauso konzentriert wie die Jehlen – wahrscheinlich interessierte die sich auch nicht für den Mord an Becky Rottenbucher, nur dafür, dass die Bibliothek umgehend wieder geöffnet wurde!
Gab es so etwas wie Geschichtsnerds?
Sie schlenderte nachdenklich nach Hause und überlegte dabei, ob sie andere Historiker befragen sollte. Ob wohl alle so ungerührt reagierten? Die Jehlen bestimmt! Nein, die würde sie nicht fragen, erstens wusste die es schließlich schon, zweitens würde die Antwort nur ihr Menschenbild verdüstern und drittens hatte sie gar keine Kontaktdaten.
Kurz bevor sie zu Hause ankam, fiel ihr aber ein, wen sie fragen konnte: Josie!
Josephine von Collnhausen war eine Kollegin – nun ja: Kollegin: Sie war bereits habilitiert und hatte eine Privatdozentur an der UL, verfügte aber über einen guten Überblick über Studierende und Lehrende.
Was lehrte Teubner in diesem Semester überhaupt? Zu Hause warf sie ihren Schlüssel in die Schale auf der Flurkommode und eilte zu ihrem Rechner.
Mit langer Routine klickte sie sich durch die Daten der UL, bis sie die Veranstaltungen der mittelalterlichen Geschichte einsehen konnte – sie fand Josies Vorlesung über die ersten Habsburger, ihre eigenen Übungen und Seminare (Schwerpunkt: Luxemburger und Habsburg im 14. Jahrhundert) und schließlich auch Teubner, ganz unten. Das lag aber eher am Alphabet als an seiner noch zu geringen Bedeutung in der Fakultät.
Teubner bot ein Proseminar an, Die Italienpolitik der Ottonen und Salier, und eine Übung zum Umgang mit Geschichtsschreibern aus der Ottonischen Zeit – tatsächlich, Widukind und Liutprand. Naja, für Leute im Grundstudium mochte das angehen – ziemlich mainstream, jedenfalls nichts, wo sich noch großartig Lorbeeren ernten ließen. Sie starrte vor sich hin: Warum hatte Teubner sich einen derart ausgelutschten Schwerpunkt ausgesucht?
Also fischte sie ihr Handy aus der Tasche und rief Josie an.
Die klang etwas gehetzt und wurde gelegentlich von Quieken und Prusten unterbrochen.
„Ist das deine Süße, die da mitreden will?“
„Ja, das ist Fritzi – also, Friederike. Fritzi, du spielst jetzt mal schön im Laufstall, ja?“
Kurze Stille, dann nahm Josie das Telefon offensichtlich wieder auf. Man hörte empörtes Geschrei, das zunehmend leiser wurde, dann klappte eine Tür und Josie fragte: „Jetzt aber, was gibt es denn? Wenn du mir von dem Mord in der Bibliothek erzählen willst, das weiß ich schon. Armes Mädel!“
Ja, das war eine angemessene Reaktion!
„Ich versteh bloß nicht, warum jemand so eine Brave wie die Becky Rottenbucher umbringen sollte“, fuhr Josie fort. „Ich meine, wenn jemand dem Wülfert seinen Laptop über den Schädel gezogen hätte… man müsste bloß auf die germanistische Fakultät in toto zeigen…“
„Nervt der dich auch?“
Josie lachte. „Suchst du nach einem Motiv für mich? Ich fürchte, da muss ich dich enttäuschen. Wülfert ist eine Nervensäge, aber ein glänzender Wissenschaftler. Und die Germanisten hatten es echt mal notwendig, dass man ihre Vergangenheit aufdeckt. Sollen sie sich ruhig genieren!“
„Denke ich auch. Sag mal, was weißt du über den Teubner?“, kam Elli zur Sache.
Josie schien verdutzt zu sein: „Wolfgang Teubner? Der, der immer dreinschaut wie ein Hundebaby? Was hast du denn mit dem?“
„Nichts!!“, quiekte Elli, ehrlich entsetzt. „Wie meinst du das denn bitte?“
Kichern. „Eigentlich nicht so, wie du es eben wohl vermutet hast. Ich wollte nur wissen, warum er dich beschäftigt.“
„Ich hab ihn vorhin in der Stadt getroffen und ihm von dem Mord erzählt. Er wusste noch nichts davon, aber er hat sich kein bisschen nach Becky erkundigt, sondern ihn hat nur interessiert, wann er wieder in die Bibliothek kann.“
„Ziemlicher Nerd“, meinte Josie, „aber das passt zu dem Wenigen, was ich über ihn weiß. Er ist unglaublich ehrgeizig – und ich habe gehört, dass er davon träumt, mit seiner Habilitation ganz groß rauszukommen. Sozusagen der Szenestar zu werden und sich dann die Professuren aussuchen zu können.“
Elli lachte: „LMU, Sorbonne, Oxford und Harvard? Das könnte ihm so passen – aber doch nicht mit dem Thema!“
„Warum? Hat er dir was über sein Thema erzählt? Mir ist nur zu Ohren gekommen, dass er es krampfhaft geheim hält.“
„Mir hat er erzählt, er schreibt über das Verhältnis von Baby Otto II zu Liudolf. Das kam mir verflixt komisch vor, da gibt es doch schon lange nichts Neues mehr zu entdecken, oder?“
„Ich wüsste jedenfalls nichts. Ein klassisches Proseminarthema, das wäre doch sogar Hauptseminarstudenten zu öde. Darüber kann man sich nicht mehr habilitieren.“
„Aber warum erzählt er dann so etwas?“
„Wahrscheinlich hat er Angst, du schnappst ihm das echte Thema weg?“
„Ich hab mich noch nicht einmal entschieden, ob ich mich habilitieren will, und der ist so paranoid drauf?“
„Ich finde, es könnte zu ihm passen. Er ist doch total auf seine Karriere fixiert. Aber jetzt muss ich mal schauen, ob Fritzchen sich beruhigt hat. Meistens spielt sie ganz vergnügt, nachdem sie pro forma gegen den Laufstall protestiert hat.“
„Damit du nicht glaubst, du könntest dir alles herausnehmen?“
„Genau. Wir halten uns auf dem Laufenden, was Klein-Teubner betrifft, okay?“
Dann war Teubners Verhalten eigentlich nachvollziehbar, beschloss Elli schließlich und legte das Thema erst einmal ad acta.
Aber Becky? Sie hatte bei ihr im vorletzten Jahr ein Seminar besucht und im letzten Semester eine Übung zur Quellensuche im Netz. Sehr intelligent, sehr eifrig und sehr souverän in ihren Kenntnissen, hatte sie damals notiert. Ein nettes, talentiertes Mädchen, auch sehr sozial, was man bei Gruppenarbeiten und Teamwork leicht feststellen konnte. Das Gegenteil zu Teubner – der war ja offensichtlich nahezu asozial…
Warum sollte aber jemand Becky umbringen? Sie zog ihren Schmierblock näher zu sich heran und begann nach kurzem Nachdenken zu kritzeln:
Sie hatte Ärger mit jemandem – aber weswegen?
Sie hatte etwas mit jemandem – aber mit wem?
Sie wusste etwas über jemanden – aber was?
Ganz toll, wirklich. Mehr Fragen als Antworten: Wieso Ärger? So weit, dass man sich über Forschungsgebiete zerstreiten konnte, war eine Lehramtsstudentin vor dem ersten Staatsexamen nun wirklich noch nicht.
Wenn zwei das gleiche Buch für ihre Recherchen brauchten… ach, dann konnte man sich ja wohl friedlich einigen? Mord und Totschlag wären wohl gewaltig übertrieben…
Moment mal! Wenn man jemanden in der Mittelalterbibliothek umbringen wollte, was brauchte man da?
Na klar, einen Bibliotheksausweis!
Dann war der Täter also einer von den Mittelalterhistorikern… und er musste gewusst haben, wann Becky in der Bibliothek war. Gut, sie konnten sich verabredet haben…
Halt, Denkfehler! Mit einem Germanistenausweis oder auch bloß mit dem Studentenausweis konnte man auch in die Bibliothek. Von den Alt- und Neuhistorikern mal ganz zu schweigen…
Diese Überlegungen waren eigentlich völliger Bockmist – an diesem Morgen hatte doch wohl jemand Aufsicht gehabt? Der konnte doch die paar Hanseln bestimmt benennen, die sich in der vorlesungsfreien Zeit in die Bibliothek verirrten?
Ferdi Hambacher musste also der Kripo weiterhelfen können. Hatte es vermutlich schon – wenn er nicht immer noch traumatisiert war. Auch sonst war er ein empfindsames Kerlchen, das war ihr schon öfter aufgefallen.
Die Kripo konnte mit dem Fall bestimmt alleine fertig werden, beschloss sie und nahm energisch die Mappe mit den Materialien für ihren Artikel zur Hand.