Читать книгу Lücken im Regal - Elisa Scheer - Страница 8

VI

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Fiona Marsh war tatsächlich zu Hause und gelinde verblüfft, als die Polizei vor ihrer Tür stand: „Ich weiß jetzt gar nicht, wieso -“

„Hat Ihre Mutter Sie denn nicht angerufen?“

„Nein, warum? Ist denn etwas passiert?“ Sie schwieg kurz, dann sagte sie: „Blöde Frage, sorry. Wäre nichts passiert, wären Sie ja wohl auch nicht hier, nicht wahr? Kommen Sie doch weiter!“

„Ja, leider ist wirklich etwas passiert. Man hat Ihre Schwester tot aufgefunden.“

Fiona Marsh fiel auf das Sofa, das hinter ihr stand, und wedelte matt mit der Hand. Joe und Katrin nahmen das als Aufforderung und setzten sich ebenfalls, ihr gegenüber.

Sie sah auf. „Welche Schwester? Becky oder Milly?“

„Rebecca. Man hat sie in der Bibliothek gefunden.“

„Ein Unfall? Nein, Unsinn – Sie sind von der Kripo, nicht wahr? Dann muss sie ja jemand… aber das verstehe ich nicht, Becky war die Harmloseste weltweit. Eine ganz Liebe, vielleicht ein kleines bisschen langweilig. Sehr fleißig… Die einzige, die etwas sauer auf sie war, war Mama, weil Becky ausgezogen ist, aber das war ja wohl kein Wunder. Mama kann einen Heiligen auf die Palme bringen, sie will immerzu alles wissen und fragt immerzu, wann man denn nun ein Leben führt, wie sie es sich vorstellt. Und wenn man sich dem entzieht, ist sie beleidigt. Ohnehin hat sie ja keiner lieb. Aber dass sie daran selbst schuld ist, kann man ihr nicht klarmachen. Also, nicht dass Sie mich da falsch verstehen, jemanden umbringen würde sie aus so bescheuerten Gründen bestimmt nicht. Nur schmollen.“

„Das scheint uns auch so“, antwortete Katrin, die eine Tante mit ähnlichem Verhalten hatte. „Sie wollte ja nicht einmal wissen, wo Becky genau gewohnt hat. Sogar Ihre Adresse hat sie betont ungenau angegeben. Nur gut, dass es hier nur einen einzigen Metzger gibt…“

„Becky wohnt in der Florianstraße 37 im ersten Hintergebäude. Eine Dreier-WG, die anderen beiden Mädchen heißen Bille und Tanja. Alles ganz solide – nur Mama mal wieder mit ihrem Getue!“ Sie schnaubte. „Was glauben Sie, warum sich Papa vom Acker gemacht hat? Ein Wunder, dass er´s überhaupt so lange ausgehalten hat…“

„Haben Sie seine Adresse auch noch? Wir glauben zwar nicht, dass er uns viel weiterhelfen kann…“

„Glaube ich auch nicht. Wir haben zwar mit ihm eine Whatsapp-Gruppe, aber da tauscht man ja keine Geheimnisse aus, nicht?“

„Vor allem, da Whatsapp zu Facebook gehört“, nickte Katrin. Sie bekam noch eine Adresse in München und erkundigte sich dann, ob Becky einen Freund gehabt habe.

„Ja, den Markus. Markus Sonnleitner, ein ganz lieber Kerl, auch wenn er Jurist ist.“ Fiona grinste kurz. „Er wohnt aber tatsächlich noch bei seinen Eltern, mit allem Pipapo. In Leiching.“

„Schick!“, reagierte Katrin pflichtgemäß.

„Ja, der Vater ist irgendwas Wichtiges. Was genau, hab ich vergessen. Bank oder so ähnlich? Ich kann´s rauskriegen, wenn Sie das brauchen!“

„Machen wir selbst, danke schön.“

Draußen sahen sie sich an: Immerhin! „Dann mal in die WG. Und danach sollten wir den Freund informieren. Den wird es wohl ziemlich treffen…“, legte Joe fest, der gerade an seine Kira dachte.

In der WG trafen sie nur Bille an, die den Namen Sybille Bauernfeind zu Protokoll gab und gebührend schockiert war: „Ausgerechnet die Becky, die ist – war – doch so eine Nette! Und total harmlos, wirklich! Hat nie einem was Böses gewollt, hat allen geholfen, hat mit allen gut zusammengearbeitet… wenn Tanja oder ich mal wieder vergessen hatten, die Spülmaschine zu füllen, hat sie das stillschweigend übernommen und wenn wir uns verlegen entschuldigt haben, hat sie nur abgewunken: Ist doch egal… So war sie eben – und so jemanden bringt einer um? Und fleißig war sie, jeden Tag in der Bibliothek, damit diese verflixte Seminararbeit perfekt wurde. Ich meine, es sind doch gerade Semesterferien! Nicht für Becky. Ich will ja auch ein gutes Examen machen, obwohl das mit Mathe/Physik nicht ganz so wichtig ist, da kriegt man leichter eine Stelle, aber ich mach doch jetzt nichts für die Uni, lieber jobbe ich, damit ich Geld fürs nächste Semester habe.“

Katrin nickte zu diesen sprudelnd vorgetragenen Informationen; Joe runzelte die Stirn. „Und Becky musste nicht arbeiten?“

„Ach doch, natürlich. Ihre Mutter war ja offensichtlich beleidigt, weil sie ausgezogen ist, also hat sie von der nichts bekommen. Ihr Vater hat ihr ein bisschen was gezahlt, aber das hat gerade für die Miete gereicht. Wenn sie was essen wollte oder mal ein T-Shirt kaufen, musste sie schon auch was arbeiten. Wie wir alle. Tanja kellnert und Becky hat bei einer komischen Firma in der Altstadt die Ablage gemacht und Rechnungen geschrieben und solchen Kram. Ich glaube, dreimal pro Woche. Damit ist sie ganz gut hingekommen.“

„Wie heißt denn die Firma?“

„Sorry, das weiß ich nicht. Die sind irgendwo in der Nähe vom Markt, in einem Hintergebäude, und sie machen irgendwas Langweiliges.“

„Wo ist denn Beckys Zimmer? Vielleicht finden wir da etwas Genaueres?“

„Dürfen Sie das denn? Müssen Sie mir da nicht so ein rosa Blatt zeigen?“

Joe lächelte. „In diesem Fall nicht. Sie sollten nicht alles glauben, was Sie im Fernsehen sehen. Also, wo ist Beckys Zimmer?“

Bille ging voraus und stieß eine von drei Türen auf. „Hier!“

Katrin und Joe staunten, als sie sich umsahen: Welch perfekte Ordnung! Ziemlich untypisch – oder war das ein Vorurteil? Die Möbel waren zum größten Teil IKEA- Produkte, die schon einige Male zu oft umgezogen waren, wie ihr abgewracktes Aussehen nahelegte, aber alles war blitzblank und staubfrei, Bücher und Ordner standen in Reih und Glied, die Ordner waren auf das Sauberste beschriftet, der kleine Schreibtisch war fast leer, das Bett ordentlich gemacht und der Kleiderschrank geschlossen.

„Respekt“, sagte Katrin deshalb zu Bille, „so sah mein Zimmer während des Studiums nicht aus.“

Bille lächelte traurig. „Ja, Becky ist – war – einfach perfekt. Ich will ja nicht sagen, dass es viel besser jemand anderen hätte erwischen sollen, aber – nun ja.“

„Das denkt man sich in einer solchen Situation verständlicherweise oft“, beruhigte Joe sie. Katrin setzte sich an den Schreibtisch und begann, die Schubladen rasch, routiniert und ohne die Ordnung zu zerstören durchzusehen.

Studienunterlagen, Nachweis der Krankenversicherung, Bescheinigungen über erzielte ECTS-Punkte, ein kurzer Briefwechsel mit einer Versicherung wegen eines belanglosen Haftpflichtfalls, das Bonusheft der Krankenkasse… alles sauber in Klarsichthüllen in einer Mappe verwahrt. In einer Pappschachtel lagen davor einige garantiert funktionierende Stifte und ein USB-Stick. Immerhin gab es auch eine Visitenkarte mit Logo und Adresse eines Immobilienbüros in der Burggasse.

Katrin hielt sie hoch: „Ist das das Büro, in dem Becky gearbeitet hat?“

Bille trat näher. „Ja, stimmt.“

Katrin schaltete den Laptop ein und stellte fest, dass Becky Rottenbucher einen Passwortschutz eingerichtet hatte.

„Joe, hast du etwas gefunden?“

„Nein. Alles extrem ordentlich und extrem harmlos. Keine Drohbriefe, keine dubiosen Erkenntnisse, kein gar nichts. Und du?“

„Ich werde den Laptop und den Stick mitnehmen, vielleicht ist da ja etwas drauf.“

„In Ordnung. Dann besuchen wir jetzt den Freund.“

„Mei, der Arme!“, rief Bille aus, die wieder neugierig in der Tür lehnte. „Der wird sowas von fertig sein, die beiden waren doch so glücklich miteinander. Ich glaube, sie wollten sogar heiraten… also, nicht jetzt gleich, der muss ja auch erst noch fertigstudieren.“

„Das ist Markus Sonnleitner, nicht wahr?“

„Sie haben sich ja schon schnell informiert“, staunte Bille.

„War Becky in letzter Zeit irgendwie anders als sonst?“, fragte Katrin. „Aufgeregt, nervös, ängstlich?“

Joe, der zuerst billigend genickt hatte, schüttelte nun den Kopf: Warum engte sie das Feld so ein? Konnte Becky nicht auch besonders glänzender Laune gewesen sein?

„Ja, oder vielleicht glücklicher als sonst?“ Katrin schien seine unausgesprochene Kritik gespürt zu haben.

„Nein“, antwortete Bille nachdenklich, „nichts davon. Bestenfalls war sie ein bisschen gereizt, weil ihre Mutter so genervt hat. Eine SMS nach der anderen…“

„Verständlich. Ach ja, und sollte Ihre Mitbewohnerin – Tanja? – heimkommen, soll sie uns anrufen, damit wir einen Termin im Präsidium ausmachen können.“ Joe reichte ihr seine Karte.

„Da fragt man sich doch wirklich“, murrte Katrin, als sie unten wieder ins Auto stiegen. „Wer kann nur dieses Mädchen getötet haben – und aus welchem Grund? Die war doch sowas von harmlos!“

Joe ließ den Motor an. „Vielleicht war diese Harmlosigkeit nur Fassade? Ich finde, Rebecca Rottenbucher ist praktisch zu gut, um echt zu sein.“

„Du meinst, sie führte ein Doppelleben?“ Diese Idee gefiel Katrin, die gelegentlich durchaus romantische Anwandlungen hatte.

„Hm, naja, vielleicht nicht ganz so. Aber sie muss irgendein Geheimnis gehabt haben.“

„Vielleicht war sie auch nur zur falschen Zeit am falschen Ort?“, gab Katrin zu bedenken. „Hast du nicht erwähnt, dass diese Bibliothekstante von Diebstählen gesprochen hat? Was, wenn sie wirklich einfach nur den Dieb überrascht hat?“

Joe schien mit dieser Theorie immer noch nicht ganz glücklich zu sein, jedenfalls brummelte er vor sich hin.

„Dann wäre es vielleicht nur Raub in Tateinheit mit Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge“, spekulierte Katrin weiter. „Weniger spektakulär auf jeden Fall.“

„Ich glaub´s nicht“, knurrte Joe. „Wo wohnt der Sonnleitner gleich wieder?“

„Leiching. In der… Moment… Puellstraße. Das muss in der Nähe vom Zollhausplatz sein.“

„Den kenne ich, danke.“

„Scharfe Hütte“, kommentierte Katrin zehn Minuten später, als sie vor der breit angelegten Villa aus den zwanziger Jahren standen. „Arm sind die nicht, was?“

„Logistik geht immer gut, wenn man bedenkt, dass alle Welt im Netz einkauft und sich dann alles liefern lässt. Du auch, was?“

„Was soll ich machen? Wenn ich schon mal frei habe, schaffe ich es gerade mal zum Zeitungsladen um die Ecke, um meine Lieferungen abzuholen. Und stell dir vor, jeder gurkt in die Altstadt zum Einkaufen – was für ein Dreck in der Luft! Ein paar Lieferwagen sind da allemal besser.“

„Ist ja gut!“ Joe läutete und hielt den Polizeiausweis vor die Kamera, die sich suchend zu ihm gedreht hatte. Die Antwort bestand darin, dass auch das Gartentor surrte und sich langsam öffnete.

„Keine Rückfragen? Seltsam“, fand Joe. „Solche Leute sind doch im Allgemeinen etwas vorsichtiger?“

Das Rätsel klärte sich auf, als sie sich der schweren Haustür näherten, denn in dieser Tür stand ein ausgesprochen hübscher junger Mann, Neugierde in den blauen Augen.

„Herr Sonnleitner? Markus Sonnleitner?“

Joe und Katrin zeigten noch einmal ihre Ausweise vor.

„Ja, ich habe schon im Video gesehen, dass Sie von der Polizei sind. Worum geht es denn?“

„Wenn wir hereinkommen dürften?“, fragte Katrin.

„Aber bitte!“

Sie wurden in ein gewaltiges Wohnzimmer mit Blick in einen gepflegten Garten und tatsächlich einem Kamin geführt und auf schwarze Ledersofas genötigt.

Katrin stellte durch unauffälliges Suchen in ihrer Tasche fest, dass sie noch genügend Taschentücher bei sich hatte, und nickte beruhigt.

„Sie sind mit Rebecca Rottenbucher befreundet?“, fragte Joe.

Markus Sonnleitner lachte. „Sie wollen mir jetzt aber nicht erzählen, dass Becky etwas angestellt hat? Das würde ich Ihnen nämlich nicht abkaufen. Becky ist die liebste und harmloseste und – ja – korrekteste Frau, die man sich nur vorstellen kann!“

„Es wäre schön, wenn wir nur so etwas zu melden hätten“, ermannte sich Joe. „Herr Sonnleitner, es tut uns wirklich sehr, sehr leid, aber wir haben Rebecca Rottenbucher heute Vormittag tot aufgefunden.“

Sonnleitner schwieg einen Moment, dann fragte er: „W-was?“ und kippte einfach um, glücklicherweise nur auf dem Sofa, auf dem er saß.

„Armer Kerl“, murmelte Katrin und schoss schnell ein Foto von ihm, während Joe ihm die Wangen tätschelte, bis er wieder zu sich kam.

„H-haben Sie eben wirklich gesagt, Becky ist tot?“

Als beide kummervoll nickten, begann er leise zu weinen und Katrin zog schnell die Taschentücher heraus, die er auch dringend brauchte. Sie ließen ihn erst einmal weinen, aber bevor sie sich erkundigen konnten, ob er vielleicht wenigstens einige wichtige Fragen beantworten konnte, hörten sie das Geräusch eines Schlüssels und ein Paar in mittleren Jahren trat ein und blieb wie erstarrt stehen, als es durch die offene Flügeltür des Wohnzimmers die etwas befremdliche Runde sah.

Dann trat die Dame eilig vor. „Wer sind Sie und was machen Sie in unserem Haus? Haben Sie etwa unseren Jungen zum Weinen gebracht?“

Sie fiel auf das vierte Sofa und funkelte Joe und Katrin kriegerisch an. Beide zückten wieder einmal ihre Kripo-Ausweise. „Wir mussten Herrn Sonnleitner leider davon in Kenntnis setzen, dass Frau Rottenbucher heute tot aufgefunden wurde“, erklärte Joe dann und wunderte sich selbst über seine geschraubte Sprache. Auf die Tigermutter schien der Satz aber besänftigend zu wirken, jedenfalls fragte sie in erstaunlich normalem Tonfall: „Becky? Becky soll tot sein? Aber – das kann doch gar nicht sein?“

„Leider ist es doch so. Wir hätten Ihren Sohn gerne dazu befragt, weil wir noch so gut wie keine Fakten haben, aber vielleicht können Sie uns auch weiter helfen. Dann müssten wir Ihren Sohn in seiner Trauer heute noch nicht behelligen…“

Frau Sonnleitner blinzelte und überdachte dies, aber nun griff ihr Mann ein, der genauso aussah, fand Katrin, wie man sich einen CEO vorstellte: „Wenn ich das vielleicht übernehmen dürfte?“

„Natürlich, Herr Sonnleitner. Sie kannten Rebecca Rottenbucher?“

„Aber ja! Die beiden waren zwar meistens bei ihr in diesem WG-Zimmer, aber ab und an trafen sie sich auch hier. Markus hat hier ja schließlich eine großzügige Suite.“ Dies wurde mit einer weit ausholenden Handbewegung illustriert.

„Und die beiden haben sich auch immer gut verstanden?“

„Aber natürlich. Becky war ja auch ein wirklich nettes Mädchen. Markus und sie haben sich sehr geliebt.“

Ein lauteres Schluchzen aus der gegenüberliegenden Sofaecke zeigte, dass Markus durchaus zugehört hatte. Sonnleitner senior tätschelte seinem weinenden Sohn etwas ungeschickt die Schulter.

„Sie war so ungemein fleißig“, warf Markus´ Mutter nun ein, in einem leicht erstaunten Tonfall. „Man konnte ja fast glauben, sie wollte eines Tages Professorin werden!“

Markus hob den Kopf von der Sofalehne und präsentierte ein verquollenes Gesicht: „Wollte sie ja auch!“

„Wirklich? A-aber wozu denn?“

Diese Frage leuchtete nun niemandem ein.

„Wie meinen Sie das, Frau Rottenbucher? Halten Sie historische Forschungen für sinnlos?“ Katrin klang recht scharf, aber sie ärgerte sich tatsächlich über diese Mutter.

„Ach nein, natürlich nicht – aber für ein Mädchen… wenn Markus sie eines Tages tatsächlich geheiratet hätte… sie hätte sich doch gar nicht richtig um ihn gekümmert?“

„Cordula, ich glaube, du bist besser still“, mahnte Sonnleitner. Markus starrte seine Mutter aus rotgeränderten Augen an: „Was heißt denn wenn? Natürlich hätten wir geheiratet, und zwar nicht, damit ich eine kostenlose Haushälterin habe!“ Er schniefte und vergrub das Gesicht wieder in der Sofalehne.

„Ich weiß nicht recht“, murmelte seine Mutter.

„Sie waren mit der Beziehung also nicht so recht einverstanden, Frau Sonnleitner?“ Joe legte alle männliche Autorität in seine Frage, denn die Dame schien auf so etwas ja zu reagieren.

„Ach, naja, Becky war schon ein recht nettes Mädchen, gell, Michael?“

Ihr Mann nickte. „Definitiv. Ich wäre mit ihr als Schwiegertochter – eines Tages – durchaus einverstanden gewesen.“

„Wirklich?“ Seine Frau sah ihn erstaunt an. Katrin gelang es, diesen Moment unauffällig zu fotografieren.

„Ja, mein Schatz. Und das weißt du auch!“

Markus wischte sich die Augen und sah seine Eltern konsterniert an, dann stand er auf. „Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich alleine mit Ihnen unterhalte. Kommen Sie bitte mit?“

„Aber Junge! Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“

Markus musterte seine Mutter verächtlich, antwortete nicht und steuerte die Treppe im Hintergrund an, gefolgt von Joe und Katrin.

Der erste Stock wies einen großzügigen Flur auf; Markus zückte einen Schlüssel und öffnete eine Tür auf der rechten Seite.

„Sie schließen Ihr Zimmer ab?“ Katrin war erstaunt.

„Sie haben meine Mutter doch gerade erlebt? Wenn sie hier rein könnte, würde sie sich doch um den Jungen kümmern, hier alles aufräumen, bis ich nichts mehr finde, überall herumschnüffeln und hinterher blöde Fragen stellen.“

„Wer ist die da auf dem Foto? Hast du diese Rechnung schon bezahlt?“ Katrin grinste.

„Genauso! Andererseits wohne ich gerne hier und ich konzentriere mich lieber auf mein Studium, anstatt für eine astronomische Miete für ein Kämmerchen an der Uni alberne Jobs zu machen. Je eher ich fertig bin… Scheiße.“

Ihm stiegen wieder die Tränen in die Augen und Katrin reichte ihm schnell ein neues Taschentuch.

„Wir hatten wirklich geplant, in etwa drei Jahren zu heiraten. Dann wäre ich mit dem Referendariat durch gewesen und Becky hätte den Doktor gehabt. Und dann – entweder Uni oder Schule für sie und eine Kanzlei für mich. Wir haben uns unser Leben schon so schön ausgemalt!“

Er bot ihnen einen Platz auf dem Sofa an und setzte sich selbst in einen Sessel.

„Was möchten Sie denn wissen?“

„Zunächst einmal: Wann haben Sie Becky zum letzten Mal gesehen?“

„Gestern. Wir waren am Nachmittag im Herzhofener Biergarten, aber abends hatte ich eine Verabredung mit dem Chef einer Kanzlei, bei der ich gerne einen Teil des Referendariats machen will – wollte.“ Er schluckte.

Katrin sagte ernst: „Ich kann Ihre Reaktion durchaus verstehen, aber wenn Sie Ihre Karrierepläne aufgeben, wird das Ihre Trauer bestimmt nicht mildern.“

„Ja, ich weiß… schauen wir mal, ich kann es ja eh noch gar nicht glauben.“

„Das dauert immer eine Zeitlang“, zeigte auch Joe Einfühlungsvermögen. „Und Becky war gestern ganz so wie immer?“

„Ja. Becky war immer gut gelaunt und optimistisch. Und supergut organisiert – was sie alles geschafft hat, da konnte man sie nur bewundern. Gestern war sie ganz genauso.“

„Wissen Sie noch, worüber Sie sich gestern unterhalten haben?“

„Nichts Aufregendes. Was sie in der Bibliothek gefunden hat -“

„Ach ja?“

„Na, irgendeine Quelle für die Arbeit, die sie gerade am Schreiben war… eine Stelle bei einem Widukind, gibt´s den? Widukind von Irgendwo?“

„Das können wir eruieren, keine Sorge. Es ging also nicht um irgendwelche Vorgänge in dieser Bibliothek?“

„Vorgänge? Da war doch total tote Hose, das hat Becky ja so gut gefallen – kaum jemand da, alle ganz leise, der Scanner immer frei… nur einer hat genervt, aber der hat wohl hauptsächlich mit der Aufsicht gestritten. Nein, da war nichts los. Ja, dann haben wir überlegt, was wir am Samstag machen könnten. Den Abend halten wir uns immer frei…“ Wieder stieg ihm das Wasser in die Augen.

„Wir wollten ins Kino und hinterher Eis essen gehen, im San Carlo. Dann haben wir uns ein bisschen gestritten, aber bloß darüber, welche Eissorten am besten sind und ob Weißwursteis eine Perversion ist oder nicht.“

„Konflikte gab es also keine?“

„Nein, gar nichts. Und Becky hat auch sonst nie Ärger gehabt, vielleicht außer mit ihrer Mutter, aber die war halt so. Vielleicht sind Mütter immer so, ich weiß es nicht, mich nervt meine auch. Aber ich glaube, Beckys Mutter wusste von mir gar nichts und meine Mutter war zwar vorhin etwas seltsam, aber eigentlich hatte sie nichts gegen Becky. Sie fand es nur schade, dass die Eltern nicht mehr zusammen sind.“

„Ungeordnete Verhältnisse?“

„Ja, so ungefähr. Aber das war wirklich alles, wenn man von Mamas vorsintflutlichem Frauenbild absieht. Sie wäre eine teuflische Schwiegermutter geworden, aber das war Becky schon klar und da war sie auch sehr tapfer.“

„Mit ihren Mitbewohnerinnen ist sie gut ausgekommen?“

„Bille und Tanja? Aber klar – und wenn nicht, hätte sie sich doch etwas anderes suchen können, nicht wahr? Sie hat aber immer nett von den beiden gesprochen. Bille macht gerade ein Praktikum am Mariengymnasium und Becky war da letztes Jahr auch, also hatten sie einiges auszutauschen.“

„Aha – auch eine Historikerin?“

„Nein, Mathe und Physik – aber was man bei diesen ersten Unterrichtsstunden beachten sollte und wie die Lehrer da so sind… das ist wohl immer ähnlich. Tanja macht, glaube ich, BWL. Ich denke, man darf sich auch nicht zu viel von einer WG versprechen – da war nicht viel Gemeinschaft, nur die günstigere Miete und für jede ein schönes großes Zimmer.“

„Also keine Diskussionen darüber, wer wann was putzen musste?“

„Naja, schon, aber es reichte meist, den Flur durchzusaugen, das haben alle hingekriegt. Und Becky ist – war – sowieso wahnsinnig ordentlich…“ Er begann wieder zu weinen und dieses Mal beruhigte er sich nicht mehr so schnell.

„Ich glaube, wir lassen Sie erst einmal alleine, Herr Sonnleitner. Allerdings kommen wir bestimmt noch einmal auf Sie zu“, verkündete Joe und Katrin fügte hinzu: „Und es tut uns wirklich sehr, sehr leid für Sie.“

„J-ja. Danke.“ Er weinte heftig, als Katrin die Tür hinter ihnen schloss.

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