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III

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Gegen zwölf eilte sie am nächsten Tag zum Aufzug des Instituts, um in die Bibliothek zu fahren und ihren Vorgänger abzulösen. In einen interessanten Artikel über das Wesen der Städtebünde vertieft, betrat sie den Aufzug, drückte auf vier und gab, als jemand Guten Morgen wünschte, geistesabwesend Antwort, ohne sich die Mühe zu machen, aufzusehen.

Es gab ja schließlich akustische Signale, nicht wahr?

Der Aufzug plingte und Elli sah wenigstens so weit auf, dass sie die leuchtende Vier sah, dann trat sie lesend aus dem Aufzug und spürte sofort eine Hand an der Schulter.

„Hier können Sie nicht durch.“

Irritiert ließ sie das Geheft sinken. „Warum? Ich arbeite hier! Ich sollte die Aufsicht ablösen, schließlich ist es fast zwölf.“

„Ihr Name, bitte?“

Erst jetzt registrierte sie die Kleidung ihres Gegenübers – beige und grün: Polizei??

„Dr. Eleonore Eversbach. Wissenschaftliche Mitarbeiterin. Was ist denn überhaupt passiert?“

„Es gab einen – Vorfall in der Bibliothek.“

Die Pause vor dem nichtssagenden Wort war ihr nicht entgangen. „Was für einen Vorfall? Ist etwa wieder etwas gestohlen worden?“

„Gestohlen?“

„Okay, wohl nicht.“

„Könnten Sie das etwas näher erläutern?“ Das war ein gut aussehender Mann um die Vierzig, der Zivil trug und einen Kripoausweis vorzeigte. „Schönberger. Wie war das mit dem Diebstahl?“

Elli seufzte. „Seit einiger Zeit verschwinden bei uns wertvolle Bücher, Erstausgaben, historische Ausgaben, all sowas. Aber der Institutschef wollte die Polizei doch gar nicht einschalten?“

„Ach – warum nicht?“

„Weiß der Himmel. Ich hab mir schon einen Haufen bescheuerter Theorien überlegt, aber damit langweile ich Sie wohl besser nicht. Was ist denn nun wirklich passiert?“

„Wir haben in der Bibliothek eine Leiche gefunden.“

„Großer Gott – wer ist es denn?“

„Das können wir Ihnen noch nicht sagen.“

„Soll ich schauen, ob ich sie identifizieren kann? Ich kenne viele, die hier arbeiten, weil ich recht oft Aufsicht mache oder selbst hier recherchiere.“

„Danke, darauf kommen wir vielleicht zurück. Warum ist eine Aufsicht hier so notwendig?“

Elli warf dem Kommissar – oder was er nun genau war – einen befremdeten Blick zu. „Damit es ruhig bleibt und die Leute sich nicht gegenseitig stören. Und damit nichts geklaut wird. Ja, gut – das scheint nicht ganz so funktionieren. Aber ich glaube, diese Diebstähle finden nicht während der Öffnungszeiten statt. Wenn jemand an den verschlossenen Glasschrank geht, merkt man das doch.“

Die Diebstähle interessierten den Kripomenschen offenbar nicht so besonders; er winkte einem Uniformierten, der die Absperrung hochhob und sowohl den Kommissar als auch Elli durchschlüpfen ließ.

Sie folgte ihm zwischen den Regalreihen und den Arbeitsplätzen hindurch bis vor ein Fenster links hinten, wo eine zusammengekrümmte Gestalt lag, die gerade aus allerlei Blickwinkeln fotografiert wurde.

Elli registrierte die abgewetzten Jeans und die uralte schwarze Samtjacke mit den aufgestickten Mohnblumen und den mit Goldfaden umstochenen Kanten. „Das Outfit passt zu Becky. Rebecca Rottenbucher. Achtes Semester. Kann ich das Gesicht sehen?“

„Einem Moment noch“, antwortete der Kommissar. Elli sah mit ihm zusammen zu, wie die Hände eingetütet wurden und eine kleine Handtasche ebenfalls in Verwahrung genommen wurde, dann drehte einer der Weißgekleideten die Tote auf den Rücken und Elli schlug die Hand vor den Mund. „Ja“, stieß sie dann etwas erstickt hervor, „das ist Rebecca Rottenbucher. Die Arme… aber warum sollte jemand sie umbringen?“

„Was wissen Sie denn über die junge Frau?“

Elli zuckte die Achseln. „Viel nicht. Sie studiert – studierte – mittelalterliche Geschichte, wie eigentlich alle, die diese Bibliothek benutzen. Ihr Schwerpunkt war, wenn ich mich recht erinnere, Bildungsgeschichte. Ich müsste im Rechner nachsehen, was sie so ausgeliehen hat.“

„Hier kann man ausleihen?“ Der Kommissar sah sich etwas erstaunt zwischen den Regalen um.

„Ja, am Wochenende. Unter der Woche ist das hier natürlich eine Präsenzbibliothek. Was sich die Leute da aus dem Regal holen, können wir nicht dokumentieren. Aber mittelalterliche Bildungsgeschichte… dabei kann man doch nun wirklich nichts Aufregendes oder Gefährliches herausfinden? Politikwissenschaften meinetwegen oder Zeitgeschichte…“

„Wissen Sie, ob sie Feinde hatte?“

Elli schüttelte den Kopf. „Ich weiß nichts über das Privatleben der Studenten. Ich passe nur, wenn ich Dienst habe, auf, dass sie leise sind, nichts klauen, soweit möglich, ihre Handys auf Vibrationsalarm stellen und am Ende ihren Platz wieder aufräumen.“

„Wozu brauchen die denn hier ihre Handys?“

„Zum Scannen oder Abfotografieren wichtiger Seiten. Als Sie studiert haben, gab es überall bloß Fotokopierer, nicht wahr?“

Der Kommissar brummte, und Elli grinste kurz. „Keine Sorge, das war ja wohl auch meine Zeit. Heute geht nichts ohne Handy und ganz ehrlich, so viel anders sind wir ja wohl auch nicht.“

„Ja, das stimmt schon. Gibt es denn sonst noch irgendetwas, was uns weiterhelfen könnte?“

Elli schüttelte den Kopf. „Sie war immer alleine hier, sie hat auch mit niemandem gesprochen, wenn ich die Aufsicht hatte. Aber ich mache das nur Montag und Freitag nachmittags und Donnerstag den ganzen Tag. Das ist ein kleines Zubrot zu einem doch eher bescheidenen akademischen Gehalt.“

Nicken. „Und wo waren Sie heute Vormittag?“

„Zu Hause. Und Einkaufen. Was man halt so macht vor dem Wochenende. Aber Zeugen habe ich keine – das wollten Sie jetzt doch fragen, oder?“

„Sie schauen sich zu viele Fernsehkrimis an“, tadelte er und zwinkerte.

„Ich weiß – aber tut das nicht jeder? Mit diesem profunden Viertelwissen der Leute haben Sie bestimmt viel Spaß.“ Sie lächelte, aber dann wurde sie wieder ernst. „Arme Becky… Sie war zweimal in einem meiner Kurse, also weiß ich so ungefähr, wie talentiert sie als Wissenschaftlerin war… und wenn ein so junges Leben so plötzlich und sinnlos – nun ja. Grausam. Und so, wie sie dort liegt, hatte sie auch keinen angenehmen Tod, vermute ich. Was ist denn mit Ferdi?“

„Sie meinen Herrn Hambacher? Der heute Morgen die Aufsicht geführt hat?“

„Ja, genau. Er hat sie ja wohl gefunden, der Arme.“

„Ja, es hat ihn tatsächlich sehr mitgenommen – mehr als Sie, Frau Eversbach!“

Ihre Kaltschnäuzigkeit schien ihn zu verdrießen und sie fühlte sich bemüßigt, sich ihm zu erklären: „Für mich war es wohl keine so große Überraschung, denn Sie haben mich ja schon am Lift aufgehalten. Den Hambacher hat es bestimmt kalt erwischt, oder? Und dann bin ich wirklich nicht so arg empfindsam, tut mir Leid. Ich denke aber auch nicht, dass Ohnmachtsanfälle oder Heulkrämpfe Ihnen sehr gelegen kämen. Es tut mir um die arme Becky Rottenbucher wirklich leid, aber ich kann so etwas nicht richtig pathetisch rüberbringen.“

„Schon in Ordnung, Frau Eversbach. Wir müssten die Bibliothek allerdings heute schließen, damit die Spurensicherung ungestört arbeiten kann.“

„Kein Problem, schließlich sind Semesterferien. Dann müssen die paar Interessenten eben in die Unibibliothek gehen. Haben Sie einen Schlüssel, um hinterher zusperren zu können?“

„Herr Hambacher hat uns seinen anvertraut, danke. Morgen würden wir Sie bitten, uns zu zeigen, was Frau Rottenbucher ausgeliehen hat.“

„Gerne. Aber morgen ist Samstag, das haben Sie bedacht?“

„Leider haben wir kein Wochenende, wenn es einen Fall gibt. Wenn Ihnen der Termin freilich nicht passt…“

„Nein, mir macht das nichts. Aber sind Sie ganz sicher, dass dieser – äh – Fall nichts mit den Diebstählen zu tun hat? Befragen Sie doch mal den Institutsvorstand, Professor Mahlmann!“

„Danke, die Kontaktdaten hat uns Herr Hambacher schon gegeben. Können Sie uns über die Dame dort hinten noch etwas sagen?“

Elli spähte an seinem ausgestreckten Arm entlang in die hintere Ecke, wo neben dem verständlicherweise völlig fertigen Hambacher eine junge Frau saß, die unablässig die Regale scannte und offenbar ein bestimmtes Buch suchte.

„Sabine Jehlen. Fünftes Semester, Geschichte und Französisch für Lehramt Gymnasium, sehr, sehr fleißig. Ich glaube, sie ist nicht sehr gut bei Kasse und möchte wohl schnell fertig werden. So, wie sie dreinschaut, sehnt sie sich heftig nach einem Buch, das sie durchackern könnte. Nun, vielleicht kann sie sich heute ersatzweise bei den Romanisten betätigen. Die sind ja gleich gegenüber.“

Der Kommissar nickte und wirkte leicht enttäuscht, offenbar hatte er sich von der Jehlen etwas Dramatischeres erhofft.

„Brauchen Sie mich noch?“, fragte Elli schließlich, die weißgekleideten Gestalten nachdenklich betrachtend.

„Nein, vielen Dank. Aber wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte…“ Er reichte ihr eine Karte, wie man es aus dem Fernsehen kannte.

Elli verwahrte sie sorgfältig und beschloss, sich einen freien Nachmittag zu gönnen. Sofort weiterzuarbeiten wäre ja auch pietätlos, nicht wahr?

Lücken im Regal

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