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IV

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Joe kehrte leicht gereizt ins Büro zurück. Erstens musste er sich erst einmal ein Team zusammensuchen, sowohl Kommissare als auch Hilfskräfte für die Routineaufgaben, zweitens hatte diese kalte Bibliotheksfrau ihn genervt und drittens hatte er überhaupt keinen Schimmer, wer ein harmloses Mädel in einer so esoterischen Bibliothek wie dieser umbringen sollte. Ja, eine Juristin, eine Betriebswirtschaftlerin, eine Informatikerin, da konnte es um Jobs gehen, um Karrieren, vielleicht um geklaute Doktorarbeiten oder Softwareplagiate.

Aber mittelalterliche Geschichte? Was konnte man denn damit schon groß werden?

Egal, erst einmal brauchte er ein Team, also schaute er in das Büro gegenüber, wo Anne mit Patrick, Maggie und Katrin gerade einen Fall abschloss. Sie konnte Katrin entbehren, gab sie nach längeren Verhandlungen zu, und Katrin folgte Joe gerne in sein Büro, denn alles war besser als Berichte zu schreiben und das Material für die Staatsanwaltschaft aufzubereiten.

Im Teamraum Marquart konnte er einem eher unbeschäftigt wirkenden Felix den Neuen, Ben Hollerbach, abschwatzen. Ben schichtete seinen Kram in die übliche Pappkiste und folgte Joe etwas ängstlich.

„Keine Sorge, hier geht es auch nicht anders zu als bei Felix“, beruhigte Joe ihn und vertraute ihn Katrins Fürsorge an, um selbst noch eine vierte Kraft aufzutreiben.

Thomas Waldmann ließ sich überreden, ihm Liz abzutreten, die Joe ebenfalls auf das Bereitwilligste folgte. Dem Team Waldmann hatte man nämlich den schönen Auftrag aufs Auge gedrückt, eine Statistik der Kriminalfälle der letzten Jahre zusammenzustellen – Art des Opfers, Art des Täters, Waffe, Motiv, Tatort, Geständnis oder Indizien… die Begeisterung hielt sich in Grenzen, aber übergeordnete Behörden, auch die Ministerien, hatten sich zu wahren Datenkraken entwickelt. Was machten die bloß mit all diesen Statistiken und Übersichten? Aufheben, falls es irgendwann einmal eine Anfrage im Landtag gab? Bis dahin war der Kram wahrscheinlich schon völlig veraltet…

Das Team hatte sich im Raum verteilt, Katrin und Liz amüsierten sich über etwas, das eine von ihnen erzählt hatte, und Ben sah noch etwas furchtsam drein und hatte seine Kiste noch nicht ausgepackt.

Joe nickte allen freundlich zu und setzte sich auf seinen Schreibtisch, auf dem ja noch gar nichts lag.

„Bis jetzt wissen wir, dass eine Studentin namens Rebecca Rottenbucher heute Morgen gegen halb zehn tot in der Bibliothek des Instituts für mittelalterliche Geschichte gefunden wurde. Katrin, übernimmst du bitte die Verteilung auf der Tafel?“

Katrin begann zu tippen und nacheinander erschienen die Fakten in blassgelb eingefärbten Kästchen auf der Tafel, allerdings in sehr willkürlicher Anordnung. Joe rutschte von seinem Schreibtisch und trat zur Tafel, wo er, während er weiter berichtete, die Kästchen mit dem Finger an die richtige Stelle zog.

„Gefunden hat sie der aufsichtführende Mitarbeiter des Instituts, ein Historiker namens Dr. Ferdinand Hambacher. Er rief sofort die Polizei, und dann kamen wir und mussten für diesen Dr. Hambacher gleich psychologische Betreuung organisieren. Er war völlig zusammengebrochen, warum, müssen wir noch eruieren. Befragen konnten wir ihn noch nicht. Berichte von Spurensicherung und Gerichtsmedizin stehen natürlich noch aus. Hilfreicher war die Nachmittagsaufsicht, die sozusagen in den Tatort gestolpert kam. Eine Dr. Eleonore Eversbach, ebenfalls Historikerin, ich vermute, Privatdozentin oder Mitarbeiterin. Genaueres weiß ich noch nicht, aber sie wird morgen hier auftauchen.“

„Adresse?“

„Im Univiertel, glaube ich. Fragen wir morgen genauer nach. Verschwinden kann sie ja wohl nicht, ohne ihre Stelle an der Uni zu verlieren. Ach ja, und sie hat behauptet, aus der Bibliothek seien in letzter Zeit immer wieder wertvolle Bücher verschwunden.“

„Ach – und das kann nicht der Grund sein? Vielleicht hat diese Rebecca den Dieb überrascht?“

Joe schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht…kommt mir zu einfach vor. Außerdem habe ich gesehen, wo diese Bücher sind – beziehungsweise waren, aber ein paar haben sie ja noch. Verschlossener Glasschrank. Ich vermute mal, dass nur ganz ausgewählte Leute einen Schlüssel haben.“

„Und die sind total wichtig und könnten einer armen Studentin leicht weismachen, dass sie den Prachtband oder was auch immer zu völlig legitimen Zwecken aus dem Schrank nehmen“, ergänzte Liz.

„Richtig. Aber wir behalten die Bücherspur natürlich im Auge.“

Katrin hatte mitgeschrieben und schickte nun ein Kästchen an die Tafel, auf dem Bücherspur? stand. Neonpink umrahmt.

Joe warf einen Blick auf Ben, der die Tafel mit offenem Mund anstarrte. „Danke, Katrin, so vergessen wir diese Spur bestimmt nicht mehr.“

„So war´s gedacht.“

Ben ließ seinen Blick zwischen dem Chef und Katrin hin und her wandern. Liz hatte das bemerkt und versuchte nun, ihn ins Gespräch zu ziehen: „Was meinst du zu all dem, Ben?“

„Ich? Oh – äh… eine Beziehungstat?“ Sofort zog er ein Gesicht, als wollte er seine Worte am liebsten wieder zurücknehmen, aber Katrin tippte schon ein passendes Kästchen.

„Auch denkbar“, lobte Joe moderat. „Dazu müssen wir über die junge Frau noch mehr herausfinden. Wer begleitet mich zu den Eltern?“

Keine freiwilligen Meldungen, kein Wunder. Eltern erzählen, dass ihr Kind, womöglich ihr einziges, tot war, wollte keiner, aber es war leider notwendig. „Nun, bevor ihr euch streitet, nehme ich Katrin mit.“

Katrin nickte schicksalsergeben.

Joe erhob sich. „Ben und Liz nehmen sich das Netz vor: Rebecca Rottenbucher und alles, was über dieses Uni-Institut zu finden ist. Komm, Katrin!“

Immerhin hatten sie den Personalausweis, auf dem eine Adresse in Kirchfelden angegeben war.

An der angegebenen Adresse fanden sie ein recht gepflegtes Reihenhaus und wappneten sich. Joe drückte auf die Klingel und sagte dann zu Katrin: „Du machst es, damit du es mal lernst.“

„Na toll! Ich kann das übrigens schon.“

Die Haustür öffnete sich zögernd und eine Frau in mittleren Jahren erkundigte sich misstrauisch, was sie denn wollten. Katrin zückte ihren Ausweis und stellte sich und Joe vor. „Frau Rottenbucher?“

„Ja…?“ Das klang noch misstrauischer.

„Es geht um ihre Tochter Rebecca. Dürfen wir hereinkommen?“

„Becky? Ich habe keine Ahnung, wo sie ist, seitdem sie in dieser WG wohnt.“

„Ach, hier wohnt sie gar nicht mehr?“

„Naja!“ Die Tür öffnete sich etwas weiter und sie traten in einen etwas unordentlichen Flur, in dem vor allem viele pastellfarbene Sneaker, bunte Schals und andere Mädchensachen für Farbe sorgten.

„Sie haben noch mehr Töchter?“, fragte Katrin. Immerhin, nicht das einzige Kind…

„Fiona und Camilla. Drei Mädchen, und keine räumt jemals irgendetwas in ihr Zimmer.“ Sie seufzte theatralisch. „Also, was hat Becky angestellt? Eigentlich ist sie eine recht Brave – aber vielleicht erzählt sie mir auch bloß nicht alles…“ Sie ging, während sie sprach, in ein ebenso heftig bewohntes Wohnzimmer voraus. Katrin holte tief Luft. „Frau Rottenbucher, vielleicht sollten Sie sich hinsetzen…“

„Oh Gott! Du lieber Himmel, ist es das, was ich jetzt denke? Nein, bitte nicht…“

Katrin setzte sich neben sie auf das abgewohnte Sofa und legte ihr die Hand auf den Arm. „Ich fürchte, es ist so. Rebecca wurde heute Vormittag tot aufgefunden. Wir hätten jetzt natürlich viele Fragen, damit wir möglichst schnell herausfinden können, wer für diese Tragödie verantwortlich ist – aber wenn Ihnen das im Moment zu viel ist, wäre das verständlich. Dann kämen wir morgen wieder.“

Joe nickte zufrieden: Sie machte das wirklich schon recht gut!

Frau Rottenbucher sah sie mit tränenlosen Augen an. „Becky ist wirklich tot? Das glaube ich nicht, ich habe doch erst gestern mit ihr telefoniert! Haben Sie mal ein Taschentuch?“

Katrin zückte die Packung und Frau Rottenbucher schneuzte sich kräftig. „Na, fragen Sie ruhig“, seufzte sie dann. „Aber ich glaube nicht, dass es Ihnen viel nützen wird…“

„Zunächst: Worum ging es denn in dem Telefonat gestern?“

„Das war eigentlich gar nichts Besonderes. Ich wollte wissen, ob sie dieses Wochenende mal vorbeikommt. Sie hat gemeint, sie hat wahrscheinlich keine Zeit, weil sie noch eine Arbeit schreiben muss. Das sagt sie ja immer!“

Sie sah Katrin empört an und jetzt füllten sich ihre Augen doch mit Wasser, wahrscheinlich war ihr aufgefallen, dass Becky dies nie wieder sagen würde.

„Sie kommt – kam – also nur selten hierher zurück?“

„Ja.“ Das klang schon recht erstickt und Katrin reichte ihr schnell ein neues Taschentuch.

„Sie meinte, ich würde zu viel herummeckern. Dabei wollte ich doch bloß wissen, wann sie mit ihrem Studium fertig ist, schließlich muss ja Milly auch noch, die macht nächstes Jahr Abitur… bloß gut, dass Fi schon mit allem durch ist…“

„Wo hat Rebecca denn dann gewohnt, wenn sie hier nur noch zu Besuch kam?“

„Besuch!“, schluchzte Frau Rottenbucher, „genau, so war sie, so fremd, plötzlich. Fi ist ja auch nicht mehr hier, aber die hat ja auch schon geheiratet, da ist das ganz normal. Wenn Becky wenigstens schon einen richtigen Beruf gehabt hätte…“

„Sie wollte Lehrerin werden, nicht wahr?“

„Ja. Hab ich auch nie verstanden. Warum nicht schön ins Büro – oder etwas mit Mode? Fremde freche Kinder erziehen…“

Katrin überlegte, dass sie wohl auch ausgezogen wäre, um sich dieses Geschwätz nicht dauernd anhören zu müssen.

„Aber jemand muss doch auch dafür sorgen, dass unsere Kinder etwas lernen?“

„Warum ausgerechnet meine Becky? Sie sehen doch, wohin das geführt hat!“

„Nun, ob ihr Studium etwas damit zu tun hat, wissen wir doch noch gar nicht.“

„Ach ja – wie ist es denn eigentlich geschehen?“

„Wir behalten die Einzelheiten noch für uns, das kann für die Ermittlungen wichtig sein. Aber Rebecca wurde in der Bibliothek für mittelalterliche Geschichte gefunden, so viel kann ich Ihnen schon verraten.“

„Muss ich – muss ich – sie identifizieren?“

„Das wäre günstig, aber wenn Sie es nicht über sich bringen können, können wir auch jemand anderen fragen, der sie gut gekannt hat. Wo hat sie denn nun gewohnt?“

„Offiziell hat sie immer noch hier gewohnt, immerhin ist das ihr Elternhaus!“

„Ja, Frau Rottenbucher, das wissen wir. Schließlich haben wir Ihre Adresse aus Rebeccas Personalausweis entnommen.“

„Ach, dann war ihre Handtasche noch da? Also war es kein Raubüberfall?“

„Nein, davon gehen wir derzeit nicht aus“, warf Joe ein, der bisher das Gespräch nur verfolgt hatte. Frau Rottenbucher warf ihm einen waidwunden Blick zu und führte das Taschentuch an die Augen.

„Aber dann – wer könnte denn wohl…? Ich verstehe das nicht“, klagte sie dann.

Katrin unterdrückte einen gereizten Seufzer. „Genau das möchten wir herausbekommen. Und dazu könnte es beitragen, wenn wir wüssten, wo Rebecca gewohnt hat, nachdem sie hier ja nur noch besuchsweise aufgetaucht ist.“

„Ja, das stimmt natürlich. Recht undankbar, nicht wahr? Nach allem, was ich für sie getan habe…“

„Frau Rottenbucher, bitte! Wo hat Rebecca gewohnt?“

„Ach, irgendwo hinter der Uni. So genau wollte ich das gar nicht wissen. Sicher in einem ganz verwahrlosten Haus. Sie hatte dort wohl ein Zimmer…“

Frau Rottenbucher verdiente sicher jede Anteilnahme, dachte Joe, aber diese Art, Fragen gar nicht oder wenigstens betont vage zu beantworten, war schon recht anstrengend. Katrin verdrehte in seine Richtung kurz die Augen und fragte dann weiter: „Zur Untermiete oder in einer WG? Einer Wohngemeinschaft?“

„Ist das nicht egal?“

„Nein, das ist nicht egal!“ In Katrins Ton hatte sich erkennbare Schärfe eingeschlichen. „Wir hoffen, dass eventuelle Mitbewohner uns weiter helfen können. Die müssten wir aber erst einmal auftreiben. Und dazu wäre die Adresse nützlich, die Sie aber offenbar nicht kennen. Oder nicht kennen wollen. Also müssen wir alle WGs an der Uni abklappern – ein unglaublicher Aufwand, da darf in den nächsten Tagen nichts mehr passieren, wo Polizei gebraucht würde. Müssen wir auch noch alle Untermietverhältnisse überprüfen, dauert es noch länger. Vielleicht ist Ihr Mann ja besser informiert als Sie?“

„Mein - Mann hat uns vor fünf Jahren verlassen. Er hat wohl eine Jüngere gefunden, aber das wollte ich so genau gar nicht wissen.“

„Mir scheint, Sie wollen eine Menge Dinge nicht so genau wissen“, warf Joe ein, der kurz davor stand, die mäßig trauernde Mutter aufs Präsidium mitzunehmen. Wollte sie nicht, dass der Mord an ihrer Tochter aufgeklärt wurde?

„Bitte?“

„Wie hätten Sie Ihre Tochter in dringenden Fällen denn erreichen wollen?“, fragte Katrin.

Frau Rottenbucher wandte den Kopf von links nach rechts, als sei sie mit zwei Gesprächspartnern restlos überfordert. „Telefon?“, schlug sie schließlich vor.

Ach so, ja. Katrin ärgerte sich über sich selbst.

„Wir haben in Rebeccas Tasche kein Handy gefunden“, warf Joe ein.

„Dann hat sie´s wohl nicht mitgenommen. Sie war doch in der Bibliothek, haben Sie gesagt? Ist Handyklingeln da nicht verboten?“

„Dann machen wir es so“, legte Katrin entnervt fest, „Sie werden ja wohl die Kontaktdaten ihrer Tochter Fiona haben. Die geben Sie uns bitte und wir fragen nach, ob diese sie etwas über ihre Schwester weiß. Ihre Jüngste soll bitte im Präsidium vorbeikommen, heute oder morgen. Bei allem Verständnis für Ihre Trauer, aber Sie sind ausgesprochen unkooperativ, Frau Rottenbucher.“

„Erst so eine schreckliche Nachricht, dann wird man noch beschimpft… gehen Sie jetzt bitte!“

Joe und Katrin wechselten einen Blick, dann sagte Joe: „Gut, Frau Rottenbucher – aber wir werden sicher wiederkommen, und wenn es dann nötig ist, nehmen wir Sie auch aufs Präsidium mit. Das haben Sie verstanden?“

Das Nicken wirkte eher teilnahmslos. Katrin schob ihr einen Block hin und bat um Name und Adresse der älteren Schwester und der WG.

Frau Rottenbucher kritzelte eine Zeitlang vor sich hin und schob den Block dann nachlässig zurück. Als Katrin sich das offenbar betont lustlos hingeworfene Geschreibsel durchgelesen hatte, fixierte sie die trauernde Mutter mit gereiztem Blick: „Hausnummern haben Sie nicht?“

„Wozu? Glauben Sie, wir schreiben uns Briefe? Fi wohnt in der Straße in dem Haus, wo unten der Metzger drin ist. Milly wohnt sowieso noch hier und diese Wohngemeinschaft oder wie man das nennt ist in der Floriansgasse, wenn die so heißt.“

„Florianstraße, wenn schon. Prima, das ist so etwa die längste Straße in der City. Kennen Sie da vielleicht auch einen Laden im Erdgeschoss?“

„Nein. Ich war da noch nie. Becky hat mich ja nie um einen Besuch gebeten.“ Dies in eindeutig beleidigtem Tonfall. Katrin und Joe wechselten einen Blick und verabschiedeten sich.

„Was ´ne blöde Kuh“, stieß Katrin auf der Straße hervor. „Die trauert doch gar nicht richtig, die ist doch bloß sauer, dass nicht alle brav zu Hause wohnen.“

„Kein Wunder, dass sich der Mann eine Lustigere gesucht hat“, stimmte Joe zu und öffnete die Fahrertür. „Schauen wir, ob wir diese Schwester finden, Fiona – wie noch? Fiona Rottenbucher ist ja auch eine abartige Kombination…“ Er stieg ein.

„Deshalb hat sie wohl auch einen Herrn Marsh geheiratet“, entzifferte Katrin auf dem Beifahrersitz. „Wahrscheinlich sind die sowieso beide bei der Arbeit. Um kurz vor zwei?“

„Schauen wir halt mal“, begütigte Joe und ließ den Motor an.

Lücken im Regal

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