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II

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In den Ferien schloss die Bibliothek um sechzehn Uhr und Elli war froh, nach Hause gehen zu können, sie war müde und hungrig und hatte sich die letzte Stunde nur noch gelangweilt, auch weil außer ihr niemand mehr dort gewesen war. Die beiden Hiwis und die Anfänger waren schon nach der Mittagspause nicht wiedergekommen (Kunststück, bei dem Wetter wäre sie auch lieber an den Mönchensee gefahren!), Wülfert hatte sich nach halb zwei ziemlich lautstark davongemacht, so dass sie sich fast gewünscht hatte, sein Laptop fiele herunter und ginge kaputt. Recht geschehen wäre ihm!

Die Jehlen sah kurz vor zwei auf die Uhr, quiekte auf und eilte davon, gerade, dass sie ihre Bücher noch zurückstellte. Und Teubner hatte sich gegen drei mit verlegenem Lächeln verabschiedet.

Ihre Wohnung empfing sie heiß und stickig, eher Hochsommer als Spätsommer.

Sie riss alle Fenster auf, um Durchzug zu machen, schleuderte die Schuhe von sich und zog sich auf dem Weg ins Bad erst einmal aus: Jetzt eine schöne lauwarme Dusche!

Zehn Minuten später, in einen dünnen Rock und eine verkrumpelte Leinenbluse gekleidet, fühlte sie sich schon besser und machte sich eine Kleinigkeit zu essen, hauptsächlich Tomaten, Gurken und hartes Ei. Bei dieser Hitze etwas Warmes? Schrecklicher Gedanke!

Sie aß und sah sich dabei zerstreut eine alte Folge einer SOKO-Serie an, zappte zwischendurch zum Dokukanal und schnell wieder weg, weil es um Kristallschädel ging – den Quatsch kannte sie schon – und guckte sich schließlich in einem Schwarzweißschinken aus schätzungsweise den Vierzigern fest. Schließlich beschloss sie, an einem so schönen – wenn auch verdammt schwülwarmen – Abend lieber nach draußen zu gehen und vielleicht ein Eis zu essen. Wozu wohnte sie schließlich im Univiertel? Eisdielen an jeder Straßenecke!

Beim Herumschlendern dachte sie wieder über die dahinschwindenden Kostbarkeiten in der Mittelalterbibliothek nach, nur kurz unterbrochen, als sie sich Schokolade, Pistazie und Birne in eine extra große Waffel mit Krokantrand füllen ließ. Kaum war sie einige Schritte gegangen, eifrig lutschend (Birne war ja gesundes Obst, nicht?), waren die verschwundenen Prachtstücke wieder in ihren Gedanken. Nun gab es nur noch ein weiteres Handschriftenfragment (14. Jahrhundert) und die Erstausgabe einer sozialistischen Kampfschrift aus dem Jahre 1869. Was tat diese Kampfschrift überhaupt beim Mittelalter?

Wenn Mahlmann weiterhin tatenlos zusah, wie die auch noch verschwanden, würde sie einen Hausmeister beauftragen, den überflüssigen Glasschrank in sein Büro zu schaffen. Als Mahnmal.

Ja, und am besten schon mal Bewerbungen für andere Unis schreiben. Doof, denn eigentlich gefiel es ihr hier doch! Zwei Jahre in München, zwei Jahre in Tübingen – auch nett, aber Tübingen war ihr zu versponnen und München zu überlaufen. Außerdem hatte sie in München für ein echtes Loch eine horrende Miete gezahlt, während ihre eigene Wohnung hier (gut, auch nicht wirklich günstig) viel schöner war – es lebe die Provinz!

Vielleicht sollte sie morgen Mittag als erstes die beiden Kostbarkeiten irgendwo verstecken… aber wo? Morgen hatte jemand anderes sich für die Aufsicht eingetragen, aber sie wusste nicht auswendig, wer, sonst hätte sie ihn anmailen können.

Sie aß ihr Eis auf und kehrte in einem weiten Bogen, die Schattenseiten der Straßen nutzend und gelegentlich gegen die tiefstehende Sonne anblinzelnd, nach Hause zurück. Dort scrollte sie noch kurz durch ihre Whatsapp-Gruppen, was sie sofort bereute: In der Mittelaltergruppe fanden sich haufenweise mehr oder weniger durchsichtige Ausreden, warum die Artikel für die Festschrift noch gar nicht fertig sein konnten. Am besten waren die beiden, die den Artikel angeblich längst geschickt hatten – vielleicht hatten sie sich bei der Adresse vertippt? Haha. Verlogene Bande.

Die Familiengruppe war auch kaum besser: Berni schickte einen Link zu neuen Luxusautos, weil er ihren ältlichen Kleinwagen untragbar fand; Margret hatte einige Fotos gepostet, aber die darauf zu sehenden Pferde sahen eigentlich alle gleich aus, irgendwie rotbraun und beängstigend groß. Elli stand nicht auf Pferde und verstand nicht, warum Frauen, die sich rapide den mittleren Jahren näherten (Klein-Margret war immerhin auch schon zweiunddreißig), plötzlich wieder pferdeverrückt waren wie mit zwölf. Und vor allem verstand sie nicht, warum sie dann alle anderen damit elenden mussten. Da, schon wieder: Du solltest auch mal Reitstunden nehmen, das würde einen ganz neuen Menschen aus dir machen.

Frechheit! Die alte Elli war wohl nicht gut genug?

Und Reni war auch nicht besser: Ein Foto ihrer drei Süßen (Laura, Lorenz und Leonie) wurde begleitet von der Frage, wann Elli denn nun endlich? Sie werde doch auch nicht jünger… es sei allerhöchste Zeit.

Verflixte Geschwister!

Sie tippte eine grußlose Antwort:

Danke für die Hinweise auf mein Versagen (kein anständiges Auto, kein Pferd, kein Nachwuchs), das hat mich richtig aufgemuntert. Aber mir taugt mein Leben genauso, wie es ist, und euch GEHT ES NICHTS AN!!

Das sollte für mindestens eine Woche beleidigtes Schweigen sorgen. Sie schickte es befriedigt ab.

Wenn sie ein Haustier brauchte, würde sie der Spinne oben in der Ecke über dem Fernseher einen Namen geben, die konnte sich wenigstens selbst ernähren!

Und Leonie als Patenkind reichte ja wohl als Kindersatz!

Sie legte ihr Handy beiseite und überlegte, was sie morgen alles zu tun hatte. Vormittags sollte sie einmal einkaufen, den Müll entsorgen und durch die Wohnung saugen. Ach, morgen war ja schon wieder Freitag! Auch gut, am Wochenende war die Bibliothek zu, da würde sie ihren Artikel fertig schreiben und markieren, wo sie noch Belege brauchte. Und dann konnte er raus! Schließlich sollte sie ja auch noch die letzten Arbeiten aus ihrem Seminar über Karl IV und Prag als Zentrum des Heiligen Römischen Reiches fertig korrigieren. Dreißig Arbeiten waren es insgesamt gewesen, vier lagen hier noch herum.

Was machte Josie gleich wieder im kommenden Semester? Die durfte sogar eine Vorlesung halten, nachdem sie nun habilitiert war. Sie las über den Aufstieg der Habsburger, oder? Vom armen Rudolf bis zu Karl V, ganz schön ambitioniert.

Merkwürdig, wie viele Leute zurzeit im Spätmittelalter – Habsburger gegen Luxemburger – unterwegs waren…

Und Regionalgeschichte war zurzeit ohnehin das must have. So ähnlich wie Regionalkrimis, die sämtliche Sender und alle Bücherregale überschwemmten.

Lasen sich aber recht nett. Und Elli musste zugeben, dass sie Serien der Marke SOKO Hintertupfingen ganz gerne anschaute. Leicht zu lösen, putziges Lokalkolorit und skurrile Gestalten. Am liebsten sah sie diese Eifelgeschichten…

Aber Mittelalter und Fernsehen waren ja nun wohl nicht ihr ganzer Lebensinhalt, nicht? Was würde sie sagen, wenn jemand sie fragte: „Und was machst du so?“

Sie legte sich wieder aufs Sofa und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Familie… naja, meistens gab es schnell Krach. Oder sie floh unter einem Vorwand, weil die Konversation – Gäule, Bälger, dicke Schlitten – so öde war. Aber Papa war eigentlich wirklich in Ordnung, er schaute sich sämtliche History-Folgen an und diskutierte dann mit ihr. Mama erwähnte immerhin nur manchmal die biologische Uhr – als seien Renis Kinder nicht genug. Aber das war auszuhalten…

Nun, und außer der Familie? Freunde? Natürlich, aber so viele auch nicht, und da die meisten mittlerweile Familie hatten, gab es gewaltiges Abfeiern nur noch dann, wenn wirklich ausnahmslos alle einen Babysitter gefunden hatten. Und das kam so gut wie nie vor…

Also traf sie sich mal mit der einen, mal mit der anderen Freundin in der Mittagspause auf einen raschen Teller Pasta oder einen noch rascheren Kaffee – und ansonsten tratschte man in der Whatsapp-Gruppe. Dem letzten gemeinsamen Treffen waren, wenn sie sich recht erinnerte, drei Wochen und gefühlt zweihundert Chatbeiträge Verhandlungen vorausgegangen – wo und vor allem wann man sich treffen konnte. Sie grinste bei der Erinnerung, wie dann fast alle pausenlos auf ihre Smartphones gestarrt hatten, um keine Nachricht des Babysitters zu verpassen.

Sie selbst hatte mit Nina, der einzigen, die auch keine Kinder hatte, einen langen Blick gewechselt. „Ich glaube, das nächste Treffen machen wir, wenn das jüngste Kind Abitur hat“, hatte Nina dann gemurmelt – aber die Muttertiere hörten ohnehin nicht zu, da hätte sie auch brüllen können.

„Dann müssen sie wahrscheinlich Studienfach und Studienplatz auswählen, weil sie ihre Kinder derart zur Unselbständigkeit erzogen haben, dass die alleine gar nichts auf die Reihe kriegen“, hatte sie selbst gemurrt. Und dann hatten sie sich über ihre Urlaubsziele unterhalten – ohne Spielplätze, ohne Mini-Disco, ohne Kinderbetreuung.

Freunde also auch nicht so sehr, außer eben Nina. Und die war zurzeit in Südfrankreich im Urlaub.

Hobbys? Lesen, Filme gucken, kurze Städtereisen, ab und zu joggen, Fahrradtouren (wenn das blöde Ding nicht gerade wieder einen Platten hatte), Aufsätze zu allen möglichen abseitigen Aspekten des späteren Mittelalter schreiben… nicht gerade glamourös!

Damit war sie schon wieder beim Mittelalter angekommen, dem langweiligen alten Zeugs, wie Reni, das Muttertier, und Margret, die Stallmagd, es zu nennen pflegten.

Na und? Sie fand dafür Kinder und Pferde nicht übermäßig spannend, und das stand ihr auch durchaus zu. Dann war sie eben langweilig, basta. War sie gerne.

Und jetzt würde sie ein bisschen stöbern. Irgendetwas fand sich doch immer, das man wegwerfen, verkaufen oder verschenken konnte. Sie liebte Übersichtlichkeit, aber es sammelte sich immer Kram an…

Mit dem Wertstoffhofkorb (dem mit dem schamhaften Deckel, wegen des manchmal peinlichen Inhalts) wanderte sie einmal durch die Wohnung und entdeckte zwei Krimis, bei denen sie mittendrin die Lust verloren hatte. Vielleicht hatten sie noch einen Versuch verdient? Ein kurzer Blick hinein: nein. Der eine hatte diese unglaublich nervtötende Heldin, der andere diesen machohaften Ermittler, der jede Frau anbaggerte. Noch nervtötender…

Die beiden wanderten in den Korb, ein merkwürdiges kleines Tongefäß, dunkelrot glasiert, folgte ebenso wie zwei Fläschchen mit längst umgekipptem Duftöl. Duftnote: ranzig, eindeutig. Müll oder Giftmobil?

Für heute war das schon ganz nett – aber summa summarum war ihr Leben eigentlich recht ereignislos…

Gott bewahre mich vor einem interessanten Leben… wer hatte das gesagt?

Sie hatte keine Ahnung, aber es klang nach Konfuzius.

Egal.

Andererseits war die Frage, wer die kostbaren Bücher und Handschriften (gut, Handschriftenfragmente) aus der Bibliothek des Instituts für mittelalterliche Geschichte klaute, doch wohl aufregend genug? Allerdings war diese Frage nicht zu beantworten, solange Mahlmann die Sache unter den Teppich kehrte und sich weigerte, die Polizei hinzuzuziehen…

Warum war er eigentlich so zickig? Steckte er womöglich selbst hinter diesen Aktionen? Schlich sich nachts in die Bibliothek (den Generalschlüssel hatte er schließlich) und nahm sich Handschrift um Prachtband um Erstausgabe?

Absurde Vorstellung, aber wer wusste das schon…

Aber vielleicht wusste er nur, wer es war, hatte vielleicht auch nur einen Verdacht – ein Lieblingsstudent? Ein bettelarmer Assistent? Dann sollte die Uni eben die Leute besser bezahlen!

Ein Freund oder Verwandter? Hatte Mahlmann Kinder? Einen drogensüchtigen Sohn vielleicht? Nein, das klang schon sehr nach Vorabendkrimi. Wie sehr diese Endlosserien das Denken der Zuschauer beeinflussten, wäre auch einmal ein Thema für eine wissenschaftliche Untersuchung.

Aber nicht mehr heute! Ihr einladend aufgeschlagenes Bett lockte durch die offene Schlafzimmertür…

Lücken im Regal

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