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11.

Mittlerweile war es Zeit für eine kurze Mittagspause. Moulin und Pocher kamen bei einem Snack in einer Bar direkt gegenüber der noch abgesperrten Fundstelle am Ufer des Hérault ins klärende Gespräch. „Also, willkommen im Hérault“, sagte Moulin. „Eigentlich haben wir in Frankreich strenge Hierarchien und Aufgabenteilungen bei der Polizei, aber wir sind hier weit weg von Paris, und für die tägliche Arbeit ist es einfach effektiver, wenn wir auch persönlich einen guten Draht zueinander haben.“

Die Serviererin brachte je ein aufgebackenes Croque Monsieur an den Tisch und je einen Grand Crème.

„Auch Renée, unsere Team-Leiterin, ist ganz in Ordnung. Sie kennt die Stärken und Schwächen der Kollegen. Aber wenn man bei ihr nicht in kurzer Zeit auf einen zündenden Gedanken kommt, um einen Fall weiterzubringen, kann sie auch mal nervös werden. Und dann knirscht es im Getriebe.“

„Prima“, sagte Pocher. „Und wie sieht es im Privaten aus? Ich meine: Hat jeder nach Feierabend seine eigene Familie und so, oder trifft man sich auch noch mal außerhalb des Dienstes?“

„Das ist, glaube ich, ziemlich ausgewogen. Klar hat jeder seinen privaten Bereich, aber wir kennen uns gut genug. Manchmal weiß man ja gar nicht, wann Feierabend ist und wann Dienst. Aber wenn jemand privat zum Beispiel Sorgen hat oder irgendwelche Probleme, dann spürt sie das sofort. Am besten, man spricht mit ihr darüber. Sie kann eine große Hilfe sein. Übrigens: Sie ist in Psychologie geschult und hat einen entsprechenden Blick für so was.“

Sie plauderten noch eine Weile über Belanglosigkeiten, aßen ihren Imbiss und schlürften den Kaffee, sprachen über das Wetter. In Südfrankreich herrschte eine trockene Hitze, aber im frischen Nordwestwind war das gut auszuhalten. „Der Wind weht schon seit vier Tagen“, sagte Moulin, „dann bleibt das Wetter die ganze Woche so, Sonne pur, aber das hat einen großen Nachteil: Der Wind weht nämlich das warme Wasser an der Meeresoberfläche aufs offene Meer hinaus. Und von unten kommt das kalte Wasser hoch. Das Mittelmeer ist dann zwar schön sauber, aber auch eiskalt.“

Dadurch würden Tausende von Touristen an den Stränden um ihr Badevergnügen gebracht. Die würden dann die Gelegenheit nutzen, um andere Sachen zu machen, zum Beispiel durch die Gassen der alten Städte hier zu streifen. „Guck dich um“, sagte Moulin, „obwohl Strandwetter ist: Agde ist voll von Touristen, Familien mit quengelnden Kindern. Wenn der Wind von Süden käme, hätte das Wasser 23 oder 24 Grad, und alle Touristen wären am Strand von Cap d’Agde, und die Väter würden ihren kleinen Kindern im flachen Wasser das Schwimmen beibringen.“

Just in dem Moment zog eine junge Familie an dem Café vorbei, die Eltern schleiften offenbar zwei quengelnde Kinder hinter sich her, die nur zu beruhigen waren, indem ihnen ein Eis in die Hand versprochen wurde. Pocher glaubte, dass es Briten waren, nachdem er einige Wortfetzen vernommen hatte, sie schienen jedenfalls Moulins Beobachtungen zu bestätigen. Auch eine Sichtweise auf die geschichtsträchtige Stadt und den Strand am Mittelmeer, dachte sich Pocher.

„Hat der Wind einen Einfluss auf die Strömungsverhältnisse hier im Hérault?“, wechselte Pocher das Thema.

„Nein, nur marginal“, meinte Moulin. „Das Mittelmeer ist noch ein paar Kilometer weit weg, das kalte Wasser kommt nicht bis hierher. Dass der Tote vom Mittelmeer aus hierhergetrieben worden wäre, ist bei den Windverhältnissen absolut ausgeschlossen.“

„Ich habe ja die Rundschleuse in Verdacht“, kam Pocher auf das berufliche Gespräch zurück. „Die Schleusenwärterin will nichts gesehen oder bemerkt haben, aber irgendetwas stimmt da nicht. Wir werden sehen“, gab er sich dem neuen Kollegen gegenüber ganz zuversichtlich.

Sie brachen auf Richtung Place René Subra. Mit Stunden Verspätung erreichte also Gerd Pocher seinen vorläufigen Arbeitsplatz, die Polizeistation in Agde. Renée Lebrun hatte einen Raum als Besprechungszimmer vorbereitet. „Ah, da seid ihr ja, Pierre, und der neue Kollege aus Deutschland. Willkommen in Languedoc-Roussillon! Die Leichenkiste steckt noch im Stau, genau wie Riquet. Deshalb ist er mit der Analyse auch noch nicht weiter. Alles, was wir haben, sind bisher die Wasserleiche und der Fundort.“

An einer Pinnwand hingen die ausgedruckten Fotos von der Wasserleiche und vom Fundort. Daneben waren entsprechende Farbnadeln in den Stadtplan eingespießt.

„Mord, Totschlag, Selbstmord oder ein dummer Unfall, wir wissen es nicht“, sagte Lebrun. „Die Fotos sind an alle Polizeistationen rausgegangen.“ Lebrun hatte blonde, leicht gewellte Haare, war schätzungsweise Mitte vierzig, sie erinnerte Pocher ebenfalls etwas an seine Frau beziehungsweise Noch-Frau. Sie trug eine weiße Bluse, die eher aussah wie ein Herrenhemd, über einem dunkelblauen Rock. Die Beine steckten in unscheinbaren braunen Schuhen. Sie war schlank, machte einen sportlichen, durchtrainierten Eindruck.

„Ach ja“, schwenkte sie plötzlich um, „wir haben uns ja noch gar nicht richtig vorgestellt. Eigentlich sollten Sie sich heute Morgen hier einfinden, und wir waren bei der Wasserleiche. Wir sind hier im Team unter uns, nennen Sie mich Renée. Ich meine, nenne mich Renée. Geht das in Ordnung?“

„Klar“, antwortete Pocher, „Gerd!“ Es sei zwar anders gelaufen, als er es erwartet hatte, aber dafür sei er ja hier. „Die Arbeit geht vor. Ich bin nicht ins Hérault gekommen, um Urlaub zu machen und den französischen Kollegen untätig bei der Arbeit zuzuschauen.“ Er wolle mit anpacken.

„Gut“, sagte Renée. „Moulin, du fährst jetzt an den Strand. Du hast es deiner Familie versprochen. Feierabend für heute! Ich fahre noch nach Montpellier, um an die Ergebnisse der Autopsie zu kommen. Das dauert mir hier zu lange. Und wo bist du untergebracht?“, wandte sie sich an Pocher. „Über die weiteren dienstlichen Einzelheiten sprechen wir in den nächsten Tagen, Dienstvorschriften, Waffenrecht und so weiter.“

„Ich habe vorerst ein Zimmer im Hotel gegenüber vom Bahnhof“, sagte Pocher. „Ich schaue mir noch einmal die Schleuse an, die liegt quasi auf dem Weg zum Hotel. Ich habe da einen Verdacht, dass die Wasserleiche womöglich daher kam.“

„Gut möglich“, sagte Renée noch, als sie ihre Handtasche schulterte und den Raum verließ. „Morgen sind wir ein Stück weiter.“

Pierre nahm einen kleinen Rucksack, warf ihn über eine Schulter und bedeutete Gerd, das Gebäude mit ihm zu verlassen. „Feierabend. Was Renée gesagt hat, stimmt. Ich muss heute noch mit den Kindern an den Strand. Das ist nicht weit von hier.“

„Aber zieht euch warm an, wenn ihr ins Wasser geht“, scherzte Gerd.

„Soll ich dich noch ins Hotel bringen?“, bot sich Pierre an.

„Nein, danke, ich gehe lieber zu Fuß. Ich habe ja noch nicht viel von Agde gesehen.“

Diese Art von Fürsorgepflicht hatte ihn tief beeindruckt. Dass Renée Lebrun Pierre daran erinnert hatte, dass es private Verpflichtungen gab, die wichtiger waren als dienstliche Dinge, hatte er nicht erwartet. In Köln hatte es so etwas während seiner langen Dienstzeit nicht gegeben. Familiäre Verpflichtungen oder private Krisen waren von den Kollegen und Vorgesetzten nicht wahrgenommen worden. Der Dienst hatte niemals Rücksichten gekannt. Natürlich hatte er frei bekommen, als er geheiratet hatte, auch an den Tagen, an denen seine Kinder geboren wurden, aber er hatte sich nie darauf verlassen können, dass er pünktlich Feierabend bekommen würde, wenn er sich etwa mit seinen Kindern zu einem Nachmittag im Schwimmbad verabredet hätte oder wenn er eine Mittagspause einlegen wollte, um sie von der Schule abzuholen.

Pierre hatte Renée am Vortag darum gebeten, heute etwas früher Feierabend zu machen, um noch mit seinen Kindern an den Strand gehen zu können. Über die turbulenten Ereignisse des Tages hatte er es beinahe vergessen, wenn nicht Renée ihn daran erinnert hätte.

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