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6.

Renée Lebrun und Pierre Moulin waren zu Fuß in die Altstadt gegangen. Es war zwar heiß, aber außerhalb des Polizeigebäudes, das sich ohne Klimaanlage regelrecht aufgeheizt hatte, war die Luft erträglicher, immerhin ging ein leichter Wind. Francine Chapias hatte in der Altstadt eine kleine, bescheidene Wohnung.

„Haben Sie Neuigkeiten, haben Sie etwas gehört, wo mein Sohn abgeblieben sein könnte?“ Mit diesen Worten öffnete die Sängerin erwartungsvoll die Wohnungstür.

„Non, pardonnez-moi“, sagte Renée Lebrun. „Nous pouvons entrer quand même?“

„Entrez s’il vous plaît!“

Renée und Pierre folgten der jungen Frau, die in ein schlichtes schwarzes Kleid gehüllt war, in die Wohnküche und setzten sich an den Tisch.

„Café?“, fragte die Frau.

Die beiden Polizeibeamten nickten zustimmend. „Café au lait pour moi“, ergänzte Renée Lebrun.

„Ich will nicht darum herumreden“, sagte die Beamtin, als Francine Chapias den Kaffee zubereitet hatte. „Wir wissen immer noch nicht, wo Ihr Sohn abgeblieben ist. Aber wir haben einen Verdacht. Oftmals sind es nahe Verwandte oder Bekannte, die das Vertrauen der Kinder ausnutzen, um sie für ihre, sagen wir: perversen Lüste zu gewinnen. Entschuldigen Sie bitte, es klingt vielleicht sehr hart für Sie, aber es könnte uns vielleicht weiterbringen: Gibt es im Umkreis Ihrer Familie jemanden, dem man zutrauen könnte, Ihren Sohn entführt zu haben?“

„Non“, sagte Madame Chapias. „Non! Ich habe keine Familie. Meine Eltern sind früh verstorben. Ich habe eine Schwester. Sie ist mit einem Amerikaner verheiratet und lebt in den USA. Oh, ich weiß, worauf Sie hinaus wollen. Sie meinen, dass so versaute Schweine dahinterstecken, die es mit kleinen Kindern treiben, ihre Hilflosigkeit ausnutzen. Sagen Sie, dass das nicht wahr ist!“

Pierre Moulin schaute sich in der Wohnküche um und bemerkte, dass einige Heiligenbildchen aufgehängt waren, Reproduktionen von biblischen Darstellungen berühmter Renaissance-Künstler, aber auch heidnische Szenen wie eine kleine Reproduktion der Geburt der Venus von Botticelli.

„Madame Chapias“, sagte Madame Lebrun. „Sie müssen uns schon helfen, wenn wir Ihren Sohn lebend wiederfinden sollen. Sie haben gesagt, dass Sie alleinerziehend seien, aber es muss doch einen Vater geben. Wer ist der Vater von Raphaël?“

Madame Chapias starrte die Beamtin entsetzt an. „Non“, sagte sie. „Non!“

„Sie können es ruhig sagen, im Vertrauen.“

„Non, j’ai juré par la Sainte Vierge Marie“, sagte Madame Chapias. „Niemals werde ich verraten, wer der Vater ist. Ich habe ein Gelübde darauf abgelegt. Aber Sie dürfen sich sicher sein, dass er für so etwas nicht infrage kommt.“

„Warum sind Sie sich so sicher?“ Renée Lebrun bemerkte, wie sich die Frau unwillkürlich das schwarze Kleid glatt strich und dabei über ihren Bauch fuhr. Sie schritt zum Fenster und blickte auf die Straße hinaus.

„Nein, der Vater des Kindes kann nicht sein Entführer sein“, sagte die Mutter. „Finden Sie Raphaël!“ Tränen standen ihr in den Augen.

Madame Lebrun erhob sich, schritt zu der Frau und schloss sie in ihre Arme. „Wir werden Raphaël finden“, versicherte sie. „Je jure par la Sainte Vierge Marie.“

Renée und Pierre kehrten zur Polizeistation zurück.

„Irgendwie ist es doch merkwürdig, mit welcher Beharrlichkeit sie sich weigert, die Identität des Kindsvaters preiszugeben“, sagte Renée. „Was meinst du?“

„Nun, sie wird ihre Gründe dafür haben. Vielleicht will sie die Erinnerung an den Vater aus ihrem Leben verdrängen“, sagte Pierre. „Meinst du nicht, dass sie ein wenig wie eine Nonne wirkt, auch mit ihrem schlichten schwarzen Kleid?“

„Das wird es sein“, sagte Renée. „Vielleich meint sie das damit, wenn sie sagt, dass sie ein Gelübde abgelegt hat. Vielleicht hatte sie sich ganz der Enthaltsamkeit verschrieben wie eine Nonne und schämt sich nun darüber, dass sie schwach geworden war und sich der fleischlichen Liebeslust hingegeben hatte, dass sie ein Kind bekommen hatte. Wer weiß, vielleicht ist sie ja sogar erneut schwach geworden.“

„Das verstehe ich jetzt nicht.“ Pierre blickte sie an, während sie nebeneinander durch die Stadt schritten.

„Ich bin mir nicht ganz sicher“, sagte Renée. „Aber ich glaube, sie ist schwanger. Sie hat zwar keinen Babybauch, aber doch so eine gewisse Gestik und Mimik. Ist dir aufgefallen, dass sie sich immer wieder mal ganz zärtlich über den Bauch strich? Sie stellte die Kaffeetasse ab, strich sich über den Bauch, sie holte eine zweite Tasse Kaffee, strich sich über den Bauch. Na ja, und so eine kleine Wölbung hatte der Bauch schon, finde ich, ein wenig zeichnete sich schon ab durch das Tuch ihres Kleids.“

„Vielleicht war es der Heilige Geist“, scherzte Pierre. „Trotzdem: Kannst du dir vorstellen, dass unter den Geistlichen hier in Agde Männer sind, die es mit kleinen Jungs treiben? Immer wieder kommt es ja ans Tageslicht, dass katholische Priester ihnen anvertraute kleine Jungen, Ministranten, Schüler missbrauchen, um ihre pädophilen und auch homosexuellen Neigungen zu befriedigen.“

„Schon möglich“, sagte Renée. „Aber sie nutzen ihre Autorität und die Frömmigkeit der Kinder, niemandem davon zu erzählen, sie hüten es als ihr Geheimnis im Schutz der dicken Kirchenmauern. Nichts dringt nach außen, bis es im späteren Leben doch herauskommt, dass Männer als Kinder systematisch missbraucht worden waren. Nein, Raphaël ist seit Tagen verschwunden. Das passt nicht zum pädophilen Priester, der das Vertrauen der Kinder missbraucht und während der Bibelstunde an ihnen herumfingert. Die halten die Kinder nicht tagelang fest.“

„Trotzdem sollten wir mal einen Blick auf den Klerus von Agde werfen“, meinte Pierre. „Es ist unsere verdammte Pflicht, auch hinter die heiligen Gemäuer zu schauen, wenn es dort nach Unsittlichkeit riecht.“

Sie erreichten das Polizeigebäude und bemerkten bereits im Treppenhaus, dass es deutlich abgekühlt war. Die Klimaanlage funktionierte offenbar wieder.

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