Читать книгу Polizeidienst en français - Elko Laubeck - Страница 16
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„Ich mache jetzt Feierabend“, sagte die Herrscherin über die Schleuse von Agde. „Um 19 Uhr wird die Schleuse geschlossen.“
„Bien“, sagte Pocher, „ich habe auch Feierabend. Darf ich Sie auf einen Apéritif einladen?“ Nun schaute sie ihm doch etwas verdutzt in die blauen Augen, schien kurz zu überlegen und sagte dann: „Pourquoi pas?“ Sie verschwand kurz im Schleusenwärterhaus und kam wieder heraus. Sie hatte sich Sportschuhe angezogen und eine Handtasche geholt, ansonsten blieb es bei dem T-Shirt mit dem dezenten Logo des Wasserstraßenamtes VNF und dem knappen Höschen. So zogen sie die Straße hinunter und bogen in die Rue de la Digue ein. Pocher erzählte von seiner Mission im Rahmen des Austauschprogramms und davon, dass er am ersten Arbeitstag mitten in die Ermittlungen in dem Fall mit der Wasserleiche geraten sei.
„Aber jetzt erzählen Sie mal, wie eine so ausgesprochen hübsche Frau wie Sie als Schleusenwärterin arbeitet“, sagte Pocher, als sie mittlerweile auf der Terrasse des Hotels L’Avenue Platz genommen hatten. Die Kellnerin brachte zwei Gläser Weißwein. Sie stießen miteinander an.
„Oh, das ist eine lange Geschichte“, antwortete Michelle Reynouard. Sie wirkte etwas verlegen. „Offen gestanden, ganz genau weiß ich das auch nicht, aber es ist ein guter Job. Ich mache das jetzt seit drei Monaten.“ Die Schleuse in Agde sei irgendwie schon faszinierend, es gehe so gelassen zu, so langsam, und dennoch sei beim An- und Ablegen höchste Konzentration gefordert. Sie blickte Pocher in die blauen Augen und senkte dann ihr Haupt. Nein, am Ende sei es nicht ihr berufliches Traumziel gewesen, es sollte nur eine Übergangslösung sein, bis sie etwas anderes finde, vielleicht doch noch ein Studium, aber nun habe sie die Schleuse in ihr Herz geschlossen.
Ihre Eltern hätten wohl gerne gehabt, dass sie eine Akademikerin geworden wäre, mindestens Lehrerin, besser noch Ärztin. Aber das sei als heranwachsendes Mädchen nicht ihr Ding gewesen. Sie sei lieber auf dem Fußballplatz gewesen. „Ich habe Kampfsportarten gemacht, Kungfu und so, da war ich sogar richtig gut darin, na ja, da war ich 15 oder 16.“
Sie verstummte für eine Weile. Beide beobachteten das Treiben auf dem belebten Bahnhofsvorplatz.
Pocher hob sein Glas, er überlegte, wie er dieser jungen Frau näherkommen könnte, er war wie berauscht von ihr und spielte in seinen Gedanken mit der Idee, sich augenblicklich in sie zu verlieben. Er versuchte den Faden wiederaufzunehmen. „Ich heiße übrigens Gerd mit Vornamen“, unternahm er einen nächsten Schritt. Eigentlich hatte er nicht wirklich damit gerechnet, aber sein Gegenüber erhob ebenfalls das Weinglas, neigte den Kopf kokettierend zur Seite. Der Hauch eines Lächelns ging über ihre Lippen. „Schön, sehr schön“, sagte sie.
Sie nippten am Wein und beugten sich über den Bistrotisch. „Als ich mit der Schule fertig war, habe ich auch nicht geglaubt, Polizist zu werden“, sagte Gerd. „Aber ich wurde einer. Nach der Grundausbildung habe ich angefangen, Jura zu studieren, aber dann, nach sechs Semestern, gemerkt, dass das Auswendiglernen von Gesetzen und Auslegungen nicht mein Ding war. Ich wollte etwas Praktischeres machen. Ich bin dann einfach in den Polizeidienst zurückgekehrt. Ich war übrigens zwei Semester in Südfrankreich, an der Uni in Nice.“
Er wollte nun wissen, wo sie herkam, wie sie zu der Stelle kam, ihre Vorgeschichte.
„Ist das jetzt ein Verhör?“, entgegnete Michelle.
„Nein, nein“, beeilte sich Gerd zu sagen. „Das interessiert mich wirklich. Du bist reizend, noch nie bin ich einer so bezaubernden Frau begegnet.“ Er war von sich selbst überrascht, so unverhohlen seine Sympathie zum Ausdruck zu bringen.
„Ich war 17 Jahre alt, als meine Eltern tödlich verunglückten“, sagte sie nach einer Pause. „Eigentlich war ich davon überzeugt, alt genug zu sein, um mich allein durchs Leben zu schlagen. Aber das war dann doch nicht so einfach, wie ich gedacht hatte. Ich hatte in dem Alter zwar kein gutes Verhältnis zu meinen Eltern gehabt, aber dann war es plötzlich doch sehr traurig, dass sie nicht mehr da waren.“
„O, das tut mir leid“, sagte Gerd. „Was ist passiert?“
„Sie waren auf dem Rückflug von Rio nach Paris. Jetzt liegen sie auf dem Grund des Atlantiks.“ Michelle stockte einen Moment. Gerd erinnerte sich, der Absturz einer Air-France-Maschine auf dieser Route hatte auch in Deutschland Aufsehen erregt.
Sie blickte Gerd prüfend an. Sie nahm wahr, dass er eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Vater hatte, mehr vom Wesen her als vom Aussehen. Auch ihr Vater hatte sich immer sehr aufgeschlossen und neugierig gegeben, gegenüber ihren Freundinnen und den ersten Jungs. Aber er war Regierungsbeamter gewesen, hatte viel Arbeit und wenig Zeit für die Familie gehabt.
„Ich habe die Schule vernachlässigt“, setzte Michelle ihre Erzählung fort, „und habe mich ins Pariser Nachtleben gestürzt, um den Verlust zu verdrängen, zu vergessen. Aber das kannst du nicht vergessen, weißt du?“ Sie war klug genug gewesen, um sich nicht vollkommen im Vergnügen zu verlieren. Immer wieder hatte sie sich aus der Gefahrenzone, in ein unstetes In-den-Tag-Hineinleben, in das Milieu von Drogen und Kriminellen abzugleiten, selbst befreit. Sie hatte zunächst bei ihren Großeltern bei Paris gelebt, die auf der einen Seite zwar großzügig waren, auf der anderen Seite aber auch ziemlich spießig. „Eben von vorgestern“, sagte sie, und plötzlich lächelte sie triumphierend Gerd an. „Die Verlockungen waren groß gewesen, aber ich habe nie Drogen genommen. Nicht einmal.“
Ausgestattet mit einer hinreichenden Waisenrente und Abfindungen von der Fluggesellschaft hatte sie zunächst keine finanziellen Probleme, als sie in jener Zeit versuchte, sich auf eigene Füße zu stellen. Sie konnte sich sogar ein kleines Appartement leisten, als sie mit 18 von den Großeltern wegzog. Außerdem hatte sie immer noch ein kleines Vermögen auf der Kante, durch den Verkauf des Nachlasses ihrer Eltern, zu dem unter anderem eine Segeljacht auf dem Mittelmeer gehörte.
Dann war sie mit einem jungen Mann zusammen, der an der Sorbonne Literatur studierte. Über ihn geriet sie ins Studentenmilieu, aber in eines, in dem Seminare und Vorlesungen nicht ganz so wichtig waren wie das Leben darum herum. Sie war mitunter mit in Vorlesungen und Seminare gegangen, obwohl sie nicht immatrikuliert gewesen war und auch kein Abitur gehabt hatte.
Sie hatte zu lesen begonnen, alles, was ihr über den Weg kam, die Klassiker, nicht nur französische Literatur, während andere Zeitgenossen sich nur noch mit ihren Smartphones abgaben. Dann waren sie einmal mit mehreren Freunden im Sommer im Süden für ein paar Wochen, im Hérault. Sie hatten mit ein paar Bekannten ein altes Haus in einem kleinen Dorf bezogen. Der Tagesablauf war immer gleich gewesen. Die jungen Leute schliefen bis zum Mittag und mussten sich dann mit den schlechtesten Plätzen an den Badestellen am Fluss zufriedengeben. Sie spielten Karten, einer bereitete das Abendessen vor, am Abend wurde im Haus philosophiert und dabei stets viel Rotwein getrunken. Die Beziehung zu Jean, ihrem damaligen Freund, war ausgerechnet hier in die Brüche gegangen.
„Non“, korrigierte sie sich selbst, „mittlerweile war ich ja mit Serge zusammen. Er war jeden Abend betrunken und schlief immer sofort ein. Die ganze Zeit haben wir uns nur voneinander entfernt, und ich habe dann einfach mit einem anderen Jungen geflirtet. Ach, ich hatte nur Beziehungen, die relativ kurz waren, ein halbes Jahr oder so dauerten. Das waren eigentlich ganz nette Jungs. Auch ein Kunststudent war darunter. Erst war es interessant und angeregt, dann wurde es fade, weil mich das nicht wirklich weiterbrachte. Wir gingen miteinander ins Bett und verloren uns dann wieder aus den Augen.“
Während die anderen nach dem Hérault-Ausflug nach Paris zurückkehrten, blieb sie einfach im Süden, weil ihr die Gegend zusagte. Sie war der Sorbonne überdrüssig geworden, ohne Immatrikulation. Paris, das Gewimmel in der Großstadt, die geschäftige Oberflächlichkeit in den Bars und bei privaten Treffen hatten sie am Ende nicht weitergebracht. Um sich selbst zu finden, war sie in der Gegend geblieben, um noch einmal von vorn anzufangen.
Sie hatte in Montpellier eine kleine Wohnung genommen und an einem privaten Lycée Aufnahme gefunden. „Es war eine Internatsschule. Ich habe nur noch gelernt. Ich wollte alles können, französische Grammatik, Mathematik, Englisch, Spanisch, Geographie, Philosophie, Physik. Die Lehrer haben mir dabei sehr geholfen. Sie hatten erkannt, dass es mir leichtfiel, das ganze Wissen aufzusaugen, das man für das Abitur braucht. Ich habe Mitschülern geholfen. Sie hatten mich akzeptiert, obwohl ich einige Jahre älter und in manchen essenziellen Dingen auch erfahrener war. Es war eine schöne Zeit, eine schöne Lebenserfahrung. Aber sie ging plötzlich zu Ende. Es gab eine große Abschlussfeier. Es war ein Freudenfest, denn wir hatten das Abitur bestanden, aber es war auch eine Abschiedsfeier.“
Gerd fasste ihre Hand, blickte sie staunend an.
„Die anderen gingen zu ihren Eltern zurück mit all ihren Plänen, dies oder das zu studieren. Und ich stand da, mit dem Baccalauréat in der Tasche. Ich wollte mich aber nicht sofort in den Hörsälen einer Universität wieder verlieren.“
Sie wollte irgendetwas Sinnvolles machen, arbeiten. Es war ein Zufall, dass die Wasserstraßenverwaltung einen Schleusenwärter in Agde suchte.
„So bin ich Schleusenwärterin geworden“, versuchte sie einen Schlusspunkt unter ihre Erzählung zu machen. „Seit drei Monaten lebe ich hier. Es ist schön. Man verdient zwar nicht viel, aber das Geld brauche ich auch nicht, ich bin bescheiden geworden, und ich habe einen verantwortungsvollen Job, der nicht weniger wert ist als deiner.“