Читать книгу Polizeidienst en français - Elko Laubeck - Страница 8
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Pocher ahnte, dass diese Reise ein Aufbruch in ein neues Leben sein würde. Vor 25 Jahren war er zurückgekehrt zur Polizei und kurz darauf nach Köln gegangen. 25 Jahre hatte er versucht, Kölner zu werden, aber irgendwie war es ihm nicht gelungen. Seine Kinder waren alle in Köln geboren, ihnen würde es wahrscheinlich leichter fallen, Köln als ihre Heimatstadt zu verstehen. Aber ihm war es einfach nicht gelungen. Er fühlte sich mehr als Europäer, über den Dingen und über jegliche Kirchturmpolitik stehend, und außerdem hatte sich die Domstadt wieder mehr von ihm entfremdet, seit er aus ihrem Einfamilienhaus ausgezogen war.
Tatsächlich hatte er sich im Laufe der Jahre in der Stadt ausgekannt wie kaum ein anderer, war er doch beruflich bedingt mit vielen Hinterhöfen, U-Bahnhöfen, Friedhöfen und anderen Höfen vertraut. Er kannte die einschlägigen Lokale, in denen sich die Dealer trafen. Er kannte die Leute, die die Geschicke der Stadt bestimmten, den Karneval, den berüchtigten Klüngel, das Milieu der Kleinkriminellen und Prostituierten, die Treffpunkte der Obdachlosen, die gesitteten Fassaden der gehobenen Gesellschaft und die Intrigenspiele hinter deren Kulissen.
Vielleicht 10000 Meter unter sich konnte er tatsächlich Lyon ausmachen am Zusammenfluss von Rhône und Saône. Er folgte der Autobahn Richtung Süden, er erkannte unter sich den Flughafen Antoine de Saint-Exupéry. Die bergige Landschaft mit den Cevennen im Hintergrund kam allmählich näher. Sie befanden sich offenbar schon im Sinkflug. Pocher erkannte die Route du Soleil, die Autobahn, die sich wie ein endloses Band über die Hügel parallel zur Rhône schlängelte, er kannte die Strecke und die Orte an dem Fluss, Vienne, Valence, Montélimar, Orange, Avignon und Arles. Er erkannte die großen Kühltürme des Atomkraftwerks bei Montélimar. Weiter nach Osten war der Mont Ventoux auszumachen, dahinter im Dunst die Alpenkette.
Er hatte keine Vorstellung davon, wie ihm die neuen Kollegen begegnen würden, wie er eingeführt würde. Seine größte Sorge war, dass die Franzosen auf Distanz zu ihm blieben. Er schätzte sich selbst als umgänglichen, aufgeschlossenen Kollegen ein. Nicht dass er gerade extrovertiert wäre wie viele Kölner, aber er konnte gut auf Menschen zugehen. Das brachte der Job mit sich, aber auch im Privatbereich war er aufgeschlossen, Freunden zugewandt und eigentlich auch hilfsbereit. Trotz der Trennung von Barbara hatte er Kontakt zu den gemeinsamen Freunden behalten, auch zu ihrer Familie, ihrem Vater und ihren Geschwistern, ihren Neffen und Nichten, denn sie verstanden sich gut mit seinen Kindern. Sie hatten sich auch damit arrangiert, etwa, bei Geburtstagsfeiern oder anderen Familienfesten gemeinsam aufzutreten, wobei sie es allerdings vermieden, etwa an der Tafel nebeneinanderzusitzen. Es wurde spannend.
Eine Viertelstunde später – die Aufforderung, Sitze aufzurichten, Tische einzuklappen und sich anzuschnallen, war bereits erfolgt – war Pocher dann doch fasziniert von dem grandiosen Zielgebiet. Durchs Fenster erspähte er die Lagunenlandschaft am Mittelmeer, die endlosen Sandstrände der Camargue, die Badeorte mit ihren gewaltigen Wohnanlagen und Jachthäfen. Sein Herz pochte, als das Flugzeug in einer steilen Kurve die Richtung änderte und in dieser Lage auf der linken Seite durch das Fenster nur noch der blaue Himmel über dem Mittelmeer zu sehen war. Dann glitt der Flieger wieder in die Waagerechte. Er vernahm den Ruck, der immer durch das Ausklappen der Fahrwerke entstand, die Bremsklappen waren nun weit ausgefahren. Das Flugzeug schwebte dicht über der glitzernden Wasserlandschaft, ruckelte etwas und setzte schließlich auf der Landebahn von Montpellier auf.
In der Halle wurde sein Name aufgerufen: „Monsieur Pocher à l’information.“ Sie hatten es völlig falsch ausgesprochen, aber damit hatte er schon gerechnet. Das gab ihm eine gewisse Sicherheit in der fremden Situation: Er wurde also tatsächlich erwartet! In solchen Situationen hatte er immer Angst, dass etwas hätte dazwischenkommen können und sie ihn einfach vergessen hätten. Gerd Pocher blickte sich um nach dem Informationsstand und ging dann, einen Rucksack geschultert und einen großen Rollkoffer an der Hand, darauf zu. Ein uniformierter Polizeibeamter sprach ihn an. „Monsieur Pocher?“
Dieser lächelte erfreut. „Oui, Gerd Pocher“, korrigierte er die Aussprache.
„Bien“, sagte der Beamte, stellte sich als François Leclaire vor, er habe den Auftrag, ihn ins Präsidium, ins Hôtel de Police, zu begleiten. Sie fuhren in die Stadt hinauf, was etwas mühsam schien, denn in der Innenstadt von Montpellier waren viele Straßen wegen Bauarbeiten gesperrt. Pocher bemerkte, wie er ins Schwitzen geriet. Er trug unter dem grauen Sweatshirt ein Unterhemd und hatte noch ein Blouson darüber. Seine Kleidung war beim Abflug im verregneten Hahn noch angemessen gewesen, aber jetzt bemerkte er, dass er darunter zu leiden begann. Er entschuldigte sich beim Fahrer, dass er kurz seinen Gurt löste und sich den Oberkörper freimachte. Am Ende blieb ihm aber nichts übrig, als das Sweatshirt wieder überzustreifen. Seine Sommersachen lagen im Kofferraum.
„Oh, da ist ja unser neuer Kollege aus Deutschland“, begrüßte ihn Marie-Louise Lapin. „Kommen Sie herein, Monsieur Pocher. Ab heute beginnt für Sie ein neues Leben.“ Pocher korrigierte die Aussprache seines Namens und stellte Koffer und Rucksack ab und trat auf ihren Schreibtisch zu.
„Bonjour, Madame.“ Er klang etwas verlegen. Mit einer derart charmanten und attraktiven Empfangsdame hatte er nicht gerechnet.
Die Polizeibeamtin richtete sich auf und kam ihm entgegen. „Marie-Louise Lapin, Commissaire.“ Sie war groß und schlank, brünett und trug eine knappe weiße Bluse, deren Knöpfe bis unter den Busen geöffnet waren, sodass man den BH darunter sehen konnte. Dazu trug sie einen eng geschnittenen schwarzen Rock, der ihr nicht ganz bis zu den Knien reichte, die nackten Füße steckten in Sandaletten. Sie trug goldene Armreifen am rechten Handgelenk. Pocher schätzte sie auf Mitte 40. Sie reichte ihm die Hand. „Bienvenu en France!“
Dann deutete sie Pocher an, Platz zu nehmen, und setzte sich wieder auf ihren Sessel. „Ich will mich kurz fassen. Wir haben für Sie ein Zimmer in Agde besorgt, im L’Avenue. Es liegt direkt gegenüber vom Bahnhof. Es ist natürlich schwierig, im Hochsommer noch etwas Passendes zu finden in dieser Region.“
Er werde im Team von Renée Lebrun mitarbeiten. Die hätten es gerade mit einem Fall von Kindesentführungen zu tun, bei der sie nicht wirklich vorankommen würden. Mehrere kleine Kinder seien in den vergangenen Wochen spurlos verschwunden. Dennoch dürften sie etwas Spiel haben, um sich um ihn zu kümmern und in den Arbeitsalltag bei der französischen Kriminalpolizei einzuführen. „Melden Sie sich gleich morgen gegen 8 Uhr bei ihr. Sie wird dann im Commissariat de Police in Agde sein. Und wundern Sie sich nicht, dass wir nicht so viele Leute sind, wie Sie vielleicht erwartet haben. Die Hälfte der Belegschaft ist im Urlaub.“
Außerdem seien viele Kollegen in die Touristenorte abkommandiert. „Südfrankreich ist voll. Und wir sind auch für die Küste zuständig, von Palavas-les-Flots bis Cap d’Agde. Da ist was los. Wir hoffen natürlich immer, dass wir eine ruhige Zeit und nichts zu tun haben. Aber das bleibt wohl immer ein frommer Wunsch, dass es keinen Mord und Totschlag mehr gibt, keine Schießereien, keine Rangeleien, keine Autoaufbrüche oder Diebstähle, keinen Drogenhandel und natürlich auch keine Bombenanschläge.“
Marie-Louise Lapin erläuterte ihm, dass er natürlich auch auf das französische Gesetz verpflichtet und in den nächsten Tagen alles Weitere schon erfahren werde. Ein französischer Dienstausweis sei in Vorbereitung, ob er auch eine Dienstwaffe bekomme, sei noch nicht entschieden.
Sie erledigten einige Formalitäten. Pocher setzte dienstbeflissen sein Autogramm auf die vorgesehenen Stellen. Darunter war auch ein amtliches Schreiben, das ihn als Mitglied der Nationalpolizei auswies. „Und wenn Sie noch Fragen haben, können Sie sich gerne an mich wenden“, schob sie ihm ihre Karte zu. „So“, sagte sie, „es ist spät geworden. Gehen wir eine Kleinigkeit essen?“
„Warum nicht?“, antwortete Pocher.
„Ihren Koffer können Sie so lange hierlassen.“
Marie-Louise Lapin ging leichtfüßig die Treppe hinunter. Sie hatte ein dezentes Make-up aufgelegt. Dazu kam eine fröhliche, unbeschwerte Art, die sie regelrecht jugendlich wirken ließ. Unweit des Polizeipräsidiums setzten sie sich an einen Tisch auf der Straßenterrasse einer kleinen Brasserie. Es herrschte trotz der Mittagshitze reges Treiben auf den Straßen.
„Ihr habt es ja richtig heiß hier“, redete Pocher über das Wetter. „Ich glaube, daran muss ich mich erst noch gewöhnen. In Köln hat es heute Morgen noch geregnet. Entschuldigen Sie, wenn ich das frage, aber damit hatte ich einfach nicht gerechnet: Ist die französische Kriminalpolizei immer so charmant?“
Madame Lapin lachte und bedankte sich für das Kompliment. „Nun, wir machen unseren Job, und wir versuchen, trotzdem fröhlich zu sein, uns unser Leben nicht vermiesen zu lassen, obwohl wir in vorderster Front an den dunklen Abgründen menschlichen Daseins arbeiten, in der Verbrechensbekämpfung eben. Man muss dem ganzen kriminellen Sumpf, mit dem wir es zu tun haben, etwas entgegensetzen. Ja, ich lebe gern. Und ich bin äußerst zufrieden mit meinem Leben.“
Die Bedienung brachte Kaffee und zwei Stücke Quiche Lorraine.
„Ich glaube, ich habe schon angefangen, mich hier sehr wohlzufühlen, nach nur einer halben Stunde Montpellier“, sagte Pocher.
Während sie aßen, erläuterte Madame Lapin die Erwartungen an die nächsten Tage. „Die Woche scheint ruhig zu werden. Renée Lebrun und ihr Kollege Pierre Moulin hatten zuletzt in Sète ermittelt. Das ist ihr Haupteinsatzgebiet. Einige Fälle sind zwar noch nicht abgeschlossen, aber es liegen keine akuten Kapitalverbrechen vor. Ich denke, dass Sie mit ihnen gut klarkommen werden. Die sind sehr aufgeschlossen wie wir eigentlich alle hier. Moulin ist ein guter Kumpel und Lebrun ebenso. Unterstützen Sie sie bei der Suche nach den verschwundenen Kindern!“
„Die Quiche Lorraine ist ausgesprochen gut“, sagte Pocher beiläufig. Madame Lapin hatte eine gebräunte Haut, die leicht gewellten Haare umwehten ein Gesicht, das kleine Fältchen in den Augen- und Mundwinkeln sympathisch wirken ließen. Sie hatte einen schlanken Hals und ein etwas spitzes Kinn, eine geradlinige Nase und dunkle Augen. Sie brauchte nichts zu verbergen.
„Sie sehen auch ausgesprochen gut aus“, sagte Marie-Louise Lapin. „Sie sind in den besten Jahren. Machen Sie was daraus! Ich hoffe, dass wir uns gut verstehen.“ Sie beugte sich etwas vor. Irgendwie erinnerte sie ihn an Barbara.
Sie plauderten noch eine Weile angeregt über Gott in Frankreich und die Welt und gingen dann ins Präsidium zurück. „Ich hoffe, wir sehen uns bald“, sagte Madame Lapin zum Abschied. „Leclaire bringt Sie noch zum Bahnhof. Nehmen Sie den nächsten Zug nach Agde. Die müssten jetzt eigentlich im Halbstundentakt fahren. Warten Sie noch einen Augenblick!“ Dann lehnte sie sich zurück in ihren Bürostuhl und rief den Fall mit dem mysteriösen Verschwinden der Kinder auf den Schirm ihres Rechners, inzwischen waren Bilder eingescannt. „Vielleicht wäre das Ihr Auftrag für den Anfang: Finden Sie Lucas Grospièrre, Hugo Martin und Raphaël Chapias!“
„Ich werde mir Mühe geben, Madame le Commissaire.“ Pocher lächelte seine neue Chefin etwas unsicher an. „Die verschwundenen Kinder?“
„Vom Erdboden verschluckt. Versetzen Sie sich in die Lage der Eltern, welche Not, welche Verzweiflung sie gerade erleiden und das Schlimmste befürchten. Je me réjouis de notre bonne coopération.“ Die charmante Kommissarin reichte ihm zum Abschied die Hand. „Übrigens ist Commandante Sabine Fréjus ebenfalls heute Morgen in Köln angekommen. Sie ist unsere Kollegin, die am Austauschprogramm teilnimmt, allerdings war sie hier in Montpellier im Einsatz und hatte nicht viel mit dem Team um Renée Lebrun zu tun.“
„Je m’attacherai“, sagte Pocher. „Au revoir!“