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ОглавлениеKapitel 10 Die Wächter des Toten
Zwischen dem Tod von Lord Mount Severn und seiner Bestattung überstürzten sich die Ereignisse; bei einem davon ist der Leser vielleicht geneigt, Einwände zu erheben und zu glauben, es habe keine Grundlage in den Tatsachen, in den Abläufen des wahren Lebens, sondern müsse eine wilde Schöpfung aus dem Gehirn der Autorin sein. Wer das meint, hat Unrecht. Die Autorin liebt wilde Schöpfungen nicht mehr als der Leser. Die Ereignisse haben sich tatsächlich so abgespielt.
Der Earl starb am Freitagmorgen bei Tagesanbruch. Die Nachricht verbreitete sich schnell. Das geschieht beim Tod eines Adligen regelmäßig, wenn er im guten oder im schlechten Sinn in der Welt wahrgenommen wurde. Bevor der Tag vorüber war, wusste man es auch in London – und das hatte zur Folge, dass am frühen Samstagmorgen ein ganzer Schwarm von Harpyien, wie der Earl sie genannt hätte, eingetroffen war und East Lynne umkreiste. Es waren Gläubiger aller Arten; für kleine und große Summen, von fünf oder zehn Pfund bis hin zu fünf- oder zehntausend. Manche waren höflich, manche ungeduldig, manche laut und grob und wütend; manche kamen, um die Vollstreckung in die Vermögenswerte zu erwirken, und einige – um die Leiche festzunehmen!
Diese letzte Maßnahme wurde auf schlaue Weise vollzogen. Zwei Männer, beide mit bemerkenswerten Hakennasen, schlichen sich aus der Menge der Johlenden davon, sahen sich listig um und begaben sich zum Seiten- oder Lieferanteneingang. Auf ihr sanftes Betätigen der Glocke erschien ein Küchenmädchen.
„Ist der Sarg schon gekommen?“, fragten sie.
„Sarg – nein!“, lautete die Antwort des Mädchens. „Das Gehäuse ist noch nicht da. Mr. Jones hat es erst für neun Uhr versprochen, und jetzt ist es noch nicht acht.“
„Das wird nicht lange dauern“, erwiderten sie. „Er ist unterwegs. Wir möchten bitte hinauf in das Zimmer seiner Lordschaft gehen und ihn vorbereiten.“
Das Mädchen rief den Butler. „Zwei Männer von Jones, dem Leichenbestatter, Sir“, verkündete sie. „Demnächst kommt der Sarg, und sie wollen hinaufgehen und ihn vorbereiten.“
Der Butler führte sie selbst die Treppe hinauf und ließ sie in das Zimmer. „Das reicht“, sagten sie, als er mit ihnen eintreten wollte. „Sie müssen sich nicht die Mühe machen zu warten.“ Nachdem sie die Tür hinter dem ahnungslosen Butler geschlossen hatten, bezogen sie beiderseits des Toten Position wie zwei unheilvolle Klageweiber. Sie hatten eine Verhaftung der Leiche vorgenommen; sie gehörte ihnen, bis ihr Anspruch befriedigt war, deshalb setzten sie sich, um den Toten zu beobachten und zu sichern. Welch angenehme Beschäftigung!
Vielleicht eine Stunde später kam Lady Isabel aus ihrem Zimmer und öffnete geräuschlos die Tür zur Kammer des Toten. Am Tag zuvor war sie mehrmals dort gewesen – das erste Mal mit der Haushälterin, und danach, als das unsägliche Entsetzen sich ein wenig gelegt hatte, allein. Dennoch war sie an diesem Morgen wiederum nervös und hatte das Bett bereits erreicht, bevor sie es wagte, den Blick vom Teppich zu heben und sich dem Anblick zu stellen. Jetzt fuhr sie zurück, saßen dort doch zwei seltsam aussehende Männer – und attraktive Männer waren es auch nicht.
Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, es müssten Leute aus der Nachbarschaft sein, die gekommen waren, um eine müßige, unverzeihliche Neugier zu befriedigen. In einem ersten Impuls wollte sie den Butler rufen; im zweiten sprach sie die Männer selbst an.
„Suchen Sie hier etwas?“, fragte sie leise.
„Verbindlichen Dank für die Nachfrage, Miss. Alles in Ordnung.“
Worte und Tonfall erschienen ihr äußerst eigenartig; außerdem waren sie sitzen geblieben, als hätten sie ein Recht, hier zu sein.
„Warum sind Sie hier?“, wiederholte sie. „Was tun Sie hier?“
„Naja, Miss, ich habʼ nix dagegen, es Ihnen zu sagen, denn Sie sind ja wohl seine Tochter“ – wobei er mit dem linken Daumen über die Schulter zu dem verstorbenen Earl wies – „und wie man hört, hat er sonst keine nahen Angehörigen. Wir sind verpflichtet, Miss, ʼne unangenehme Aufgabe zu erfüllen und ihn festzunehmen.“
Die Worte hörten sich für sie wie Griechisch an, was die Männer auch erkannten.
„Leider is er ʼnen kleinen Geldbetrag schuldig geblieben, Miss – was Sie vielleicht wissen, unsere Auftraggeber wissen es jedenfalls. Als die gehört haben, was passiert is, ham se uns geschickt, damit wir die tote Leiche festnehmen, und das ham wer gemacht.“
In der erschrockenen Lady Isabel kämpften Verblüffung, Entsetzen und Angst. Den Toten festnehmen? Von einer ähnlichen Übeltat hatte sie noch nie gehört, und sie hatte auch nie an so etwas geglaubt. Festnehmen zu welchem Zweck? Um was zu tun? Um sie zu entstellen? – Zu verkaufen? Mit pochendem Herzen und aschfahlen Lippen wandte sie sich um und verließ das Zimmer. Zufällig kam Mrs. Mason in der Nähe der Treppe vorüber. Isabel lief in ihrem Entsetzen zu ihr, fasste ihre beiden Hände und brach in eine Flut von nervösen Tränen aus.
„Diese Männer – da drin!“, keuchte sie.
„Welche Männer, Mylady?“, gab Mrs. Mason überrascht zurück.
„Ich weiß es nicht; ich weiß es nicht. Ich glaube, sie wollen nicht hierbleiben; sie sagen, sie hätten Papa festgenommen.“
Nach einer Pause voller fassungslosem Erstaunen wandte sich die Haushälterin auf dem Absatz um und ging in das Zimmer des Earl; sie wollte wissen, ob sie die rätselhaften Worte durchschauen konnte. Isabel lehnte sich gegen das Treppengeländer, zum Teil, um sich zu stützen, zum Teil aber auch, weil sie Angst hatte, sich von ihnen weg zu bewegen; von unten drangen rätselhafte Geräusche an ihre Ohren. Fremde, Eindringlinge waren offensichtlich in der Diele, redeten hektisch und in bitter klagenden Ton. In immer größerem Entsetzen hielt sie die Luft an und hörte zu.
„Wozu soll es gut sein, dass Sie die junge Dame sehen?“, rief der Butler in tadelndem Ton. „Sie weiß nichts über die Angelegenheiten des Earl; sie hat jetzt schon genug Kummer, auch ohne weitere Sorgen.“
„Ich werde sie sehen“, erwiderte eine verärgerte Stimme. „Wenn sie so vornehm und edel ist, dass sie nicht herunterkommen und die eine oder andere Frage beantworten kann, werde ich den Weg zu ihr schon finden. Wir sind hier beschämend viele, die beschwindelt worden sind, und jetzt sagt man uns, es gebe niemanden, mit dem wir sprechen können; niemand hier außer der jungen Dame, und die darf nicht gestört werden. Es hat sie nicht gestört, dass sie mitgeholfen hat, unser Geld auszugeben. Wenn sie nicht herkommt und mit uns spricht, hat sie nicht die Ehre und die Gefühle einer Lady. Basta.“
Lady Isabel unterdrückte ihre widerstrebenden Gefühle, glitt die Treppe ein Stück weiter herunter und rief leise nach dem Butler. „Was hat das alles zu bedeuten?“, fragte sie. „Ich muss es wissen.“
„Ach, Mylady, begeben Sie sich nicht unter diese groben Männer! Sie können nichts ausrichten; bitte gehen Sie zurück, bevor sie Ihrer ansichtig werden. Ich habe nach Mr. Carlyle geschickt und erwarte ihn hier jeden Augenblick.“
„Hat Papa denen allen Geld geschuldet?“, fragte sie und schauderte.
„Ich fürchte, so ist es, Mylady.“
Sie ging schnell weiter, kam in der Diele an den wenigen Nachzüglern vorüber und betrat das Esszimmer, wo sich die Hauptmenge versammelt hatte und das Geschrei am lautesten war. Bei ihrem Anblick wurde alle Wut zumindest äußerlich gedämpft. Sie sah so jung, so unschuldig, so kindlich aus in ihrem hübschen Morgenkleid aus pfirsichfarbenem Musselin; das Gesicht, das von den fallenden Locken überschattet war, schien so wenig in der Lage, mit ihnen zu kämpfen oder ihr Anliegen zu verstehen, dass sie Isabel nicht mit Beschwerden überschütteten, sondern in Schweigen verfielen.
„Ich habe gehört, wie einer von Ihnen gerufen hat, ich solle zu Ihnen kommen“, begann sie. Ihre Aufregung hatte zur Folge, dass die Worte abgehackt herauskamen. „Was wollen Sie von mir?“
Jetzt sprudelten sie mit ihren Anliegen heraus, wenn auch nicht wütend; sie hörte zu, bis ihr übel wurde. Es waren viele beträchtliche Forderungen; Schuldbriefe und Schuldscheine, überfällige Rechnungen und unbezahlte Rechnungen; hohe, ausstehende Schulden aller Art und relative Kleinigkeiten, Forderungen für Hausverwaltung, Bedienstetenuniformen, Gärtnerlohn, Brot und Fleisch.
Was sollte Isabel Vane antworten? Welche Entschuldigung konnte sie vorbringen? Welche Hoffnungen oder Versprechungen machen? Verwirrt stand sie da, wandte sich, unfähig zu sprechen, von einem zum anderen, die Augen voller Mitleid und Zerknirschung.
„Eigentlich, junge Lady“ ergriff einer das Wort, der das Äußere eines Gentleman zur Schau trug, „hätten wir nicht herkommen und Ihnen Ungelegenheiten bereiten sollen – zumindest kann ich das für mich sagen –, aber die geschäftlichen Vertreter seiner Lordschaft, Warburton & Ware, zu denen viele von uns gestern Abend eilig gegangen sind, haben uns gesagt, wir würden für niemanden auch nur einen Schilling finden, es sei denn, man könne das Mobiliar zu Geld machen. Wenn das so ist, heißt es ‚wer zuerst kommt, mahlt zuerst‘; deshalb bin ich im Morgengrauen hergekommen und habe eine Vollstreckung vorgenommen.“
„Die wurde schon vorgenommen, bevor Sie gekommen sind“, warf ein Mann ein, der, nach seiner Nase zu urteilen, ein Bruder der beiden in der oberen Etage sein konnte. „Aber was ist ein solches Mobiliar schon für unsere Forderungen – wenn man sie zusammennimmt? Nicht mehr als ein Eimer Wasser für die Themse.“
„Was kann ich tun?“, schauderte Lady Isabel. „Was soll ich Ihrer Ansicht nach tun? Ich habe kein Geld, das ich Ihnen geben könnte, ich …“
„Nein, Miss“, unterbrach sie ein stiller, blasser Mann. „Wenn die Berichte stimmen, wurde Ihnen noch schlimmeres Unrecht getan als uns, denn Sie werden weder ein Dach über dem Kopf noch eine einzige Guinee haben, die Sie Ihr Eigentum nennen könnten.“
„Er war gegenüber allen ein Schuft“, unterbrach eine unbeherrschte Stimme. „Er hat Tausende ruiniert.“
Der Sprecher wurde niedergezischt; nicht einmal diese Männer beleidigten leichtfertig eine empfindsame junge Dame.
„Vielleicht können Sie uns nur eine Frage beantworten, Miss“, beharrte die Stimme trotz des Zischens. „Gibt es irgendwo Geld, mit dem man …“
Aber mittlerweile hatte ein anderer das Zimmer betreten: Mr. Carlyle. Als er Isabels weißen Gesichtes und ihrer zitternden Hände ansichtig wurde, unterbrach er den, der zuletzt gesprochen hatte, ohne große Umschweife.
„Was hat das alles zu bedeuten?“, fragte er im Ton der Autorität. „Was wollen Sie?“
„Wenn Sie ein Freund des verstorbenen Grafen sind, sollten Sie wissen, was wir wollen“, lautete die Antwort. „Wir wollen, dass die Schulden bezahlt werden.“
„Aber dazu müssen Sie nicht an diesen Ort kommen“, gab Mr. Carlyle zurück. „Dass Sie hier auf so ungewöhnliche Weise hereinschneien, ist zu nichts nütze. Sie müssen sich an Warburton & Ware wenden.“
„Bei denen waren wir schon und haben eine Antwort bekommen – sie haben uns ganz kühl versichert, dass es hier für niemanden etwas zu holen gibt.“
„Jedenfalls werden Sie hier nichts holen“, stellte Mr. Carlyle, an die gesamte Versammlung gewandt, fest. „Erlauben Sie mir zu verlangen, dass Sie das Haus sofort verlassen.“
Dass sie ihm folgen würden, war unwahrscheinlich, und das sagten sie.
„Dann warne ich sie vor den Folgen einer Weigerung“, sagte Mr. Carlyle in aller Ruhe. „Sie betreten das Eigentum eines Fremden. Dieses Haus gehört nicht Lord Mount Severn. Er hat es schon vor einiger Zeit verkauft.“
Sie glaubten es besser zu wissen. Einige lachten und sagten, solche Tricks seien doch uralt.
„Hören Sie zu, Gentlemen“, erwiderte Mr. Carlyle in der einfachen, geradlinigen Art, die ihre eigene Wahrheit in sich trug. „Eine Behauptung aufzustellen, die widerlegt werden könnte, wenn die Angelegenheiten des Earl untersucht werden, wäre einfach töricht. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort als Gentleman – nein, als Mitmensch –, dass dieses Anwesen mit dem Haus und allem, was darin ist, von dem Lord Mount Severn schon vor Monaten veräußert wurde; während seines jüngsten Aufenthaltes war er als Gast hier. Gehen Sie und fragen sie seine geschäftlichen Vertreter.“
„Wer hat es gekauft?“, wurde sofort gefragt.
„Mr. Carlyle aus West Lynne. Einige von Ihnen kennen ihn möglicherweise aufgrund seines Ansehens.“
Einige kannten ihn tatsächlich.
„Ein schlauer junger Anwalt“, bemerkte eine Stimme, „genau wie vor ihm sein Vater.“
„Das bin ich“, fuhr Mr. Carlyle fort. „Und da ich ein ‚schlauer Anwalt‘ bin, wie Sie zu urteilen mir die Ehre erweisen, werden Sie nicht annehmen, dass ich mein Geld in einem Kauf investiere, der nicht vollkommen abgesichert und gesetzestreu ist. Ich war in der Angelegenheit kein Agent; ich habe Agenten beschäftigt; ich habe mein eigenes Geld investiert, und East Lynne gehört mir.“
„Wurde der Kaufpreis schon gezahlt?“, wollte nicht nur einer wissen.
„Er würde zu gegebener Zeit gezahlt – letzten Juni.“
„Was hat Lord Mount Severn mit dem Geld gemacht?“
„Das weiß ich nicht“, erwiderte Mr. Carlyle. „Ich habe keine Kenntnis von Lord Mount Severns Privatangelegenheiten.“
Ein bedeutungsschweres Murmeln setzte ein. „Seltsam, dass der Earl sich zwei oder drei Monate an einem Ort aufgehalten hat, der ihm nicht gehört.“
„Das mag Ihnen so erscheinen, aber gestatten Sie mir, es zu erklären“, erwiderte Mr. Carlyle. „Der Earl brachte den Wunsch zum Ausdruck, East Lynne zum Abschied einen Besuch von einigen Tagen abzustatten, und ich stimmte zu. Bevor die wenigen Tage vergangen waren, erkrankte er und blieb seit jener Zeit hier, weil er für eine Abreise zu gebrechlich war. Genau der heutige Tag – dieser Tag, Gentlemen, an dem wir hier stehen –, war seit langem für seine Abreise festgelegt.“
„Und Sie sagen uns, Sie hätten auch das Mobiliar gekauft?“
„Alles, wie es hier steht. Sie müssen meinen Worten nicht glauben, denn der Beweis wird angetreten werden. East Lynne stand zum Verkauf; ich hörte davon und wurde zum Käufer – genau wie ich von einem von Ihnen ein Anwesen hätte kaufen können. Und da es nun mein Haus ist und Sie keine Ansprüche gegen mich haben, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich zurückziehen würden.“
„Als nächstes erheben Sie auch noch Anspruch auf die Pferde und die Kutschen, Sir“, rief der Mann mit der Hakennase.
Mr. Carlyle hob stolz den Kopf. „Was mir gehört, gehört mir, ist rechtmäßig erworben und bezahlt – mit einem fairen, angemessenen Preis. Die Kutschen und Pferde haben damit nichts zu tun; die hat Lord Mount Severn mitgebracht.“
„Und ich habe für sie einen sicheren Wächter in den Außenanlagen, der darauf achtet, dass sie nicht weglaufen“, nickte der Mann selbstzufrieden. „Und wenn ich mich nicht irre, sind oben auch sichere Wächter für etwas anderes.“
„Was für ein verfluchter Spitzbube war doch Mount Severn.“
„Was er auch gewesen sein mag, es gibt ihnen nicht das Recht, die Gefühle seiner Tochter in Wallung zu bringen“, unterbrach Mr. Carlyle mitfühlend. „Und ich hätte gedacht, dass Männer, die sich als Engländer bezeichnen, die Schande verschmäht hätten. Gestatten Sie, Lady Isabel“, fügte er hinzu, wobei er gebieterisch ihre Hand nahm und sie aus dem Zimmer führen wollte, „ich werde hierbleiben und diese Angelegenheit regeln.“
Aber sie zögerte und blieb stehen. Das Unrecht, das ihr Vater diesen Männern angetan hatte, machte sich in ihrem Gerechtigkeitsgefühl schmerzhaft bemerkbar, und sie bemühte sich, ein Wort der Entschuldigung und des Kummers auszusprechen; sie glaubte, es tun zu sollen; sie wollte nicht, dass man sie für vollkommen herzlos hielt. Aber es war eine schmerzhafte Aufgabe; die Farbe in ihrem blassen Gesicht kam und ging, und ihr Atem ging schwer unter ihrer übermäßigen Trübsal.
„Es tut mir sehr leid“, stammelte sie; in dem Bemühen, zu sprechen, gewann das Gefühl die Oberhand über sie, und sie brach in Tränen aus. „Ich habe von alledem nichts gewusst; über die Angelegenheiten meines Vaters wurde in meiner Gegenwart nicht gesprochen. Ich glaube, ich habe nichts; wenn ich etwas hätte, würde ich es unter Ihnen so gerecht aufteilen, wie es mir möglich ist. Aber sollten die Möglichkeiten jemals in meiner Macht stehen – sollte mir jemals Geld gehören, werde ich dankbar alle Ihre Forderungen begleichen.“
Alle ihre Forderungen! Lady Isabel hatte kaum darüber nachgedacht, was „alle“ beinhalten würde. Aber solche Versprechungen, die in solch einem Augenblick gemacht wurden, hatten einen unbefangenen Klang. Kaum einer der Anwesenden konnte etwas anderes empfinden als Mitgefühl und Sorge um sie, und Mr. Carlyle zog sie aus dem Zimmer. Er schloss die Tür hinter der lautstarken Versammlung, und nun setzte das hysterische Schluchzen ein.
„Ich bin sehr bekümmert, Lady Isabel! Hätte ich diese Unannehmlichkeit vorhergesehen, ich hätte sie Ihnen ersparen können. Können Sie allein nach oben gehen, oder soll ich Mrs. Mason rufen?“
„Oh ja! Ich kann allein gehen; ich bin nicht krank, nur ängstlich und unruhig. Aber das ist nicht das Schlimmste“, sagte sie schaudernd. „Da oben sind zwei Männer – da oben – bei Papa.“
„Oben bei Papa.“ Mr. Carlyle war verblüfft. Er sah, dass sie von Kopf bis Fuß zitterte, während sie vor ihm stand.
„Ich verstehe es nicht, und es erschreckt mich“, fuhr sie mit dem Versuch einer Erklärung fort. „Sie sitzen im Zimmer ganz nahe bei ihm und sagen, sie hätten ihn festgenommen.“
Eine leere, wie vom Donner gerührte Pause trat ein. Mr. Carlyle sah sie an, sagte aber nichts; dann wandte er sich um und warf einen Blick zum Butler, der in der Nähe stand. Der Mann antwortete nur mit einem leichten Kopfschütteln, und Mr. Carlyle erkannte darin etwas Unheilvolles.
„Ich werde das Haus von diesen Leuten befreien“, sagte er zu Lady Isabel, wobei er hinter sich in Richtung des Esszimmers wies, „und dann begleite ich Sie nach oben.“
„Zwei Rüpel, Sir, und sie haben sich in Besitz des Leichnams gebracht“, flüsterte der Butler Mr. Carlyle ins Ohr, als Isabel hinausging. „Sie haben sich mit einer hinterhältigen, betrügerischen List Zugang zu dem Zimmer verschafft, indem sie sagten, sie seien die Leute des Leichenbestatters, und er könne nicht bestattet werden, wenn ihre Forderungen nicht bezahlt werden, auch wenn es einen Monat dauert. Es hat uns allen den Magen herumgedreht, Sir. Als Mrs. Mason es mir gesagt hat – sie war die Erste, die es wusste –, war ihr so übel, wie man sich nur vorstellen kann.“
Erst einmal kehrte Mr. Carlyle in das Esszimmer zurück und trug die Hauptlast der Wut dieser wilden und, wie man auch sagen kann, hinters Licht geführten Männer. Die Wut entlud sich nicht auf ihm – ganz im Gegenteil – sondern auf das Andenken des unglücklichen Lord, der eine Etage höher lag. Einige hatten das Leben des Earl zur Vorsicht versichern lassen, und die waren jetzt am besten dran. Sie verließen das Haus schon nach kurzer Zeit; Mr. Carlyles Erklärungen waren unbestreitbar, und sie kannten das Gesetz gut genug, um nicht als unbefugte Eindringlinge auf seinem Anwesen zu bleiben.
Die Wächter des Toten waren nicht so leicht abzuschütteln. Mr. Carlyle ging in das Sterbezimmer und überprüfte ihre Legitimation. Einen ähnlichen Fall hatte es in seinem eigenen Erfahrungsbereich noch nie gegeben, wohl aber bei seinem Vater, und Mr. Carlyle fiel ein, dass er davon gehört hatte. Die Leiche eines kirchlichen Würdenträgers, der hochverschuldet gestorben war, wurde festgenommen, als man ihn durch den Kreuzgang zu seinem Grab in der Kathedrale trug. Die Männer, die hier über Lord Mount Severn wachten, erhoben große Ansprüche; und so mussten sie sitzen bleiben, bis Mr. Vane vom Castle Marling eingetroffen war, der neue Earl of Mount Severn.
Am folgenden Morgen, einem Sonntag, fuhr Mr. Carlyle erneut nach East Lynne und stellte zu seiner Überraschung fest, dass niemand angekommen war. Isabel saß allein im Frühstückszimmer. Die Mahlzeit stand unberührt auf dem Tisch und sie – so schien es – zitterte auf einer niedrigen Ottomane vor dem Feuer. Sie sah so krank aus, dass Mr. Carlyle es nicht unterlassen konnte, eine Bemerkung darüber zu machen.
„Ich habe nicht geschlafen, und mir ist sehr kalt“, antwortete sie. „Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan, so entsetzt war ich.“
„Entsetzt worüber?“, fragte er.
„Über diese Männer“, flüsterte sie. „Es ist seltsam, dass Mr. Vane nicht gekommen ist.“
„Ist die Post schon da?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte sie teilnahmslos.
Sie hatte kaum geendet, da trat der Butler mit einem Tablett voller Briefe ein, die meisten davon Kondolenzschreiben für Lady Isabel. Sie griff einen davon heraus und öffnete ihn hastig, denn er trug den Poststempel von Castle Marling. „Das ist die Handschrift von Mrs. Vane“, bemerkte sie zu Mr. Carlyle.
Castle Marling, Samstag.
Meine liebe Isabel,
Ich bin schrecklich bekümmert und erschrocken über die Nachricht, die in Mr. Carlyles Schreiben an meinen Mann übermittelt wurde. Er ist mit seiner Yacht auf Kreuzfahrt gegangen, deshalb habe ich es geöffnet. Der Himmel weiß, wo er gerade ist, irgendwo entlang der Küste, aber er hat gesagt, er werde Sonntag zu Hause sein, und da er sein Wort gewöhnlich sehr gewissenhaft hält, rechne ich mit ihm. Sei versichert, dass er keinen Augenblick verlieren und nach East Lynne eilen wird.
Ich kann nicht ausdrücken, was ich für dich empfinde, und bin zu erschüttert, als dass ich noch mehr schreiben könnte. Bemühe dich, den Kopf hoch zu halten, und glaube mir, liebe Isabel, ich bin mit aufrichtiger Sympathie und großem Bedauern immer die Deine
Emma Mount Severn.
Als Isabel die Unterschrift las, kehrte die Farbe in ihrer blassen Wangen zurück. Wenn sie die Absenderin gewesen wäre, so dachte sie, hätte sie diesen ersten Brief noch mit Emma Vane unterschrieben. Isabel reichte Mr. Carlyle die Notiz. „Das ist sehr unglücklich“, seufzte sie.
Mr. Carlyle überflog das Schreiben, so schnell Mrs. Vanes unleserliche Handschrift es ihm erlaubte, und zog die Lippen auf seltsame Weise ein, als er die Unterschrift sah. Vielleicht war ihm der gleiche Gedanke gekommen wie zuvor schon Isabel.
„Wenn Mrs. Vane auch nur einen Pfifferling wert wäre, wäre sie selbst hergekommen, wo sie doch Ihre einsame Lage kennt“, stieß er impulsiv hervor.
Isabel stützte den Kopf in die Hand. In ihrem Kopf gingen alle Schwierigkeiten und Bekümmernisse durcheinander. Es waren noch keine Anweisungen zur Vorbereitung des Begräbnisses erteilt worden, und sie hatte das Gefühl, sie habe auch nicht das Recht, solche Anweisungen zu geben. Die Earls von Mount Severn wurden in Mount Severn bestattet; aber ihren Vater dorthin zu bringen, wäre mit großen Kosten verbunden; würde der neue Earl es gutheißen? Es schien, als wäre sie seit dem vorherigen Morgen mit ihrer Lebenserfahrung alt geworden; ihre Ideen hatten sich verändert, ihre Gedankengänge waren gewaltsam von ihrem Kurs abgebracht worden. Statt einer jungen Dame von hoher Stellung, von Wohlstand und Rang war sie jetzt in ihrer eigenen Betrachtung eher eine unglückselige Arme und ein Eindringling in dem Haus, das sie bewohnte. In Liebesgeschichten ist es üblich, junge Damen – insbesondere wenn sie gut aussehen und interessant sind – so darzustellen, als seien sie sich nüchterner Sorgen und Notwendigkeiten vollkommen unbewusst und gleichgültig gegenüber der Aussicht auf zukünftige Armut – eine Armut, die Hunger, Durst, Kälte und Nacktheit mit sich bringt; aber natürlich hat diese Gleichgültigkeit im wahren Leben nie existiert. Isabel Vanes Trauer um ihren Vater – den sie unabhängig davon, welches Bild er für andere abgab, zutiefst geliebt und verehrt hatte – war äußerst schmerzhaft; aber inmitten des Kummers und der einzigartigen Schwierigkeiten, die sein Tod mit sich gebracht hatte, konnte sie die Augen vor ihrer eigenen Zukunft nicht verschließen. Die schiere Unsicherheit, die Bekümmernis, deren Schatten sie vorauswarf, drängten sich ihr auf, und die Worte des geradlinigen Gläubigers klangen ihr noch in den Ohren: „Sie werden kein Dach über dem Kopf haben und keine Guinee mehr ihr eigen nennen.“ Wohin sollte sie gehen? Bei wem sollte sie wohnen? Sie befand sich jetzt in Mr. Carlyles Haus. Und wie sollte sie die Dienstboten bezahlen? Ihnen allen schuldete sie Geld.
„Mr. Carlyle, seit wann gehört dieses Haus Ihnen?“, fragte sie und brach damit das Schweigen.
„Der Kauf wurde im Juni abgeschlossen. Hat Lord Mount Severn Ihnen nie erzählt, dass er es an mich verkauft hat?“
„Nein, nie. Gehören alle diese Dinge Ihnen?“ Sie sah sich im Zimmer um.
„Das Mobiliar wurde mit dem Haus verkauft. Aber solche Dinge nicht“, erwiderte er, wobei sein Blick das Silber auf dem Frühstückstisch streifte. „Nicht die Teller und die Tischwäsche.“
„Nicht die Teller und die Tischwäsche. Dann haben diese armen Männer, die gestern hier waren, ein Anrecht darauf“, rief sie eilig.
„Das weiß ich nicht genau. Ich glaube, der Teller gehört zum unveräußerlichen Familienvermögen – und der Schmuck auch. Und die Tischwäsche hat ohnehin keinen Wert.“
„Gehört die Kleidung mir?“
Er lächelte und sah sie an. Lächelte über ihre Schlichtheit und versicherte ihr, sie seien keines anderen Eigentum.
„Ich wusste das alles nicht“, seufzte sie. „Und ich verstehe es nicht. In den letzten ein oder zwei Tagen sind so viele seltsame Dinge geschehen, dass es mir vorkommt, als verstünde ich überhaupt nichts mehr.“
Sie konnte es tatsächlich nicht verstehen. Sie hatte keine eindeutige Vorstellung von der Transaktion, durch die das Eigentum an East Lynne auf Mr. Carlyle übergegangen war. Viele unbestimmte Gedanken suchten sie heim. In ihrem Kopf schwelten Ängste, sie könne ihm etwas schulden, Ängste, das Haus mit allem, was darin war, könne ihm – vielleicht nur zum Teil – zur Liquidation übergeben werden.
„Schuldet mein Vater Ihnen irgendwelches Geld?“, hauchte sie in ängstlichem Ton.
„Nicht das geringste“, antwortete er. „Lord Mount Severn war bei mir während seines ganzen Lebens nie verschuldet.“
„Und doch haben Sie East Lynne gekauft?“
„Das hätte auch jeder andere tun können“, antwortete er, wobei er ihren Gedankengang durchschaute. „Ich habe nach einem geeigneten Anwesen gesucht, um mein Geld zu investieren, und East Lynne schien mir passend.“
„Ich merke, in welcher Lage ich bin, Mr. Carlyle“, fuhr sie fort, wobei die aufmüpfigen Tränen ihr wieder in die Augen schossen, „und dass ich mich mit der Bitte um Obdach aufdränge. Aber ich weiß mir nicht zu helfen.“
„Sie können helfen, mir Kummer zu bereiten“, antwortete er sanft, „denn das tun Sie, wenn Sie von Verpflichtungen reden. Die Verpflichtung liegt auf meiner Seite, Lady Isabel. Und wenn ich meiner Hoffnung Ausdruck verleihe, dass Sie in East Lynne bleiben, wenn es Ihnen von Nutzen ist, und so lang dieser Zeitraum auch sein mag, dann sage ich das mit vollster Aufrichtigkeit, das versichere ich Ihnen.“
„Sie sind sehr freundlich“, sagte sie stockend. „Nur für ein paar Tage – bis ich wieder denken kann. Ach, Mr. Carlyle, steht es um Papas Angelegenheiten wirklich so schlimm, wie sie gestern gesagt haben?“ Sie brach ab, denn die Verwirrung kehrte mit ganzer Kraft wieder zurück. „Ist nichts übrig?“
Nun hätte Mr. Carlyle ausweichen und ihr versichern können, es sei noch viel übrig, um sie zu beruhigen. Aber gegen den Gedanken, sie zu täuschen, sträubte sich jede Faser seines Wesens. Er erkannte, wie sie unausgesprochen auf seine Aufrichtigkeit baute.
„Ich fürchte, die Sache sieht nicht gerade glänzend aus“, antwortete er. „Das heißt, soweit wir es bisher erkennen können. Aber vielleicht wurden für Sie irgendwelche Regelungen getroffen, von denen wir noch nichts wissen. Warburton & Ware…“
„Nein“, unterbrach sie ihn. „Ich habe nie von Regelungen gehört, und ich bin sicher, dass es keine gibt. Ich sehe das Schlimmste eindeutig vor mir. Ich habe kein Zuhause – kein Zuhause und kein Geld. Dieses Haus gehört Ihnen; das Stadthaus und Mount Severn gehen an Mr. Vane. Und ich habe nichts.“
„Aber Mr. Vane wird doch sicher entzückt sein, Sie in Ihrer alten Heimat willkommen zu heißen. Die Häuser gehen an ihn – aber es scheint fast, als hätten Sie ein größeres Anrecht darauf als er oder Mrs. Vane.“
„Mein Zuhause bei denen!“, gab sie zurück, als hätten die Worte ihr einen Stich versetzt. „Was sagen Sie da, Mr. Carlyle?“
„Ich bitte um Verzeihung, Lady Isabel. Ich hätte es mir nicht angemaßt, selbst das Thema anzusprechen, aber…“
„Nein, ich glaube, ich muss mich entschuldigen“, unterbrach sie ihn in ruhigerem Ton. „Ich bin dankbar, dass Sie daran Interesse haben – dass Sie mir eine solche Freundlichkeit erweisen. Aber ich kann nicht zusammen mit Mrs. Vane wohnen.“
Mr. Carlyle erhob sich. Es würde nichts nützen, wenn er noch länger blieb, und er hielt es nicht für angemessen, sich weiterhin aufzudrängen. Er äußerte die Vermutung, es könne angenehmer sein, wenn Isabel eine Freundin bei sich hätte. Mrs. Ducie sei zweifellos bereit zu kommen, und sie sei eine freundliche, mütterliche Frau.
Isabel schüttelte in vorübergehendem Schaudern den Kopf. „Fremde, hier….mit dem allen…in Papas Zimmer!“, murmelte sie. „Mrs. Ducie ist gestern herübergekommen und wollte vielleicht bleiben – ich weiß es nicht. Ich hatte Angst vor Fragen und habe nicht mit ihr gesprochen. Wenn ich denke…daran denke…bin ich dankbar, dass ich allein bin.“
Als Mr. Carlyle hinausging, hielt die Haushälterin ihn auf.
„Sir, wie lauten die Nachrichten von Castle Marling? Pound sagt, ein Brief sei eingetroffen. Kommt Mr. Vane?“
„Er war mit der Yacht unterwegs. Mrs. Vane hat ihn gestern zurückerwartet, also kann man hoffen, dass er heute hier sein wird.“
„Was ist zu tun, wenn er nicht kommt?“, keuchte sie. „Der Bleisarg sollte zugelötet werden, denn Sie wissen ja, Sir, in welchem Zustand er war, als er starb.“
„Er kann auch ohne Mr. Vane zugelötet werden.“
„Natürlich – ohne Mr. Vane. Darum geht es nicht, Sir. Werden diese Männer es zulassen? Die Leichenbestatter waren heute Morgen bei Tagesanbruch hier, aber diese Männer haben angedeutet, sie würden den Toten nicht aus den Augen lassen. Die Worte hörten sich für uns schwerwiegend an, aber wir haben keine Fragen gestellt. Haben sie ein Recht, es zu verhindern, Sir?“
„Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht“, erwiderte Mr. Carlyle. „Die Maßnahme kommt so selten vor, dass ich kaum etwas darüber weiß, welches Recht sie haben oder nicht haben. Erwähnen Sie das nicht gegenüber Lady Isabel. Und wenn Mr. Va…wenn Lord Mount Severn eintrifft, schicken Sie jemanden und setzen Sie mich davon in Kenntnis.“