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Kapitel 3 Barbara Hare

West Lynne war ein Ort von einer gewissen Bedeutung, insbesondere nach seiner eigenen Einschätzung, denn da es weder eine Industriestadt noch Bischofssitz war, ja noch nicht einmal die Hauptstadt der Grafschaft, war es, was Sitten und Gebräuche anging, ein wenig primitiv. Außerhalb der Stadt, in östlicher Richtung, kam man an mehreren freistehenden Landhäusern vorüber. In deren Nachbarschaft stand die Kirche St. Jude, die, was ihre Gemeinde anging, aristokratischer war als die anderen Kirchen von West Lynne. Die Häuser verteilten sich über ungefähr eine Meile, und die Kirche lag am Anfang der Reihe nicht weit vom belebten Teil des Ortes. Nochmals eine Meile weiter gelangte man zu dem wunderschönen Anwesen, das East Lynne genannt wurde.

Zwischen den erwähnten Herrenhäusern und East Lynne war die Straße auf einer Meile sehr einsam und größtenteils von Bäumen überschattet. Ein Haus stand dort ganz allein ungefähr eine dreiviertel Meile bevor man nach East Lynne gelangte. Es lag auf der linken Seite, ein klobiges, hässliches rotes Backsteinhaus mit einem Wetterhahn auf dem First, das in einer gewissen Entfernung von der Straße erbaut war. Davor erstreckte sich ein flacher Rasen, und in der Nähe des Lattenzaunes, der ihn von der Straße trennte, wuchs ein eine Baumgruppe von einigen Yards Tiefe. Der Rasen wurde in der Mitte von einem schmalen Kiesweg unterteilt, über den man Zugang zur Eingangsveranda des Hauses erhielt. Von dort trat man in eine große, geflieste Diele mit je einem Empfangszimmer rechts und links und dem breiten Treppenhaus auf der Rückseite; neben dem Treppenhaus gelangte man zu den Wohnungen und Arbeitsräumen der Dienstboten. Das Haus wurde The Grove genannt; es war Eigentum und Wohnsitz von Richard Hare, Esq., der allgemein Richter Hare genannt wurde.

Der Raum, der beim Eintreten zur Linken lag, war das allgemeine Wohnzimmer; der andere war größtenteils mit lavendelfarbenen und braunen Leinentapeten geschmückt und wurde nur bei besonderen Gelegenheiten geöffnet. Der Richter und Mrs. Hare hatten drei Kinder, einen Sohn und zwei Töchter. Anne, das Ältere der Mädchen, hatte frühzeitig geheiratet; Barbara, die Jüngere, war jetzt neunzehn; und Richard, der Älteste – auf ihn werden wir später zu sprechen kommen.

An einem frostigen Abend Anfang Mai, wenige Tage nach dem Besuch von Mr. Carlyle bei dem Earl of Mount Severn, saß Mrs. Hare in diesem Wohnzimmer. Die blasse, kränkliche Frau war zwischen Decken und Kissen begraben – aber tagsüber war es warm gewesen. Am Fenster saß ein hübsches Mädchen, sehr liebreizend mit blauen Augen, blonden Haaren, einem blühenden Teint und kleinen, scharf geschnittenen Gesichtszügen. Sie blätterte lustlos in einem Buch.

„Barbara, jetzt ist doch sicher schon Zeit für den Tee.“

„Die Zeit vergeht dir anscheinend sehr langsam, Mama. Erst vor knapp einer Viertelstunde habe ich dir gesagt, dass es zehn Minuten nach sechs ist.“

„Ich habe solchen Durst!“, verkündete die arme Kranke. „Sieh doch noch einmal auf die Uhr, Barbara.“

Barbara Hare erhob sich mit einer Geste unverhohlener Ungeduld, öffnete die Türe und warf einen Blick auf die große Uhr in der Diele. „Es fehlen noch neunundzwanzig Minuten bis sieben Uhr, Mama. Du könntest eigentlich tagsüber deine Armbanduhr anlegen; seit dem Essen hast du mich schon viermal weggeschickt, damit ich auf die Uhr sehe.“

„Ich habe solchen Durst!“, wiederholte Mrs. Hare mit einer Art Schluchzen. „Wenn es doch bloß sieben Uhr schlagen würde! Ich komme um ohne meinen Tee!“

Nun könnte man meinen, dass eine Lady in ihrem eigenen Haus, die „ohne ihren Tee umkommt“, doch sicher die Anweisung geben könnte, ihn zu servieren, auch wenn die übliche Stunde noch nicht geschlagen hat. Nicht so Mrs. Hare. Seit ihr Ehemann sie vor vierundzwanzig Jahren zum ersten Mal in dieses Haus gebracht hatte, hatte sie es nie gewagt, ihren eigenen Willen zum Ausdruck zu bringen; kaum einmal hatte sie aus eigener Verantwortung eine Anweisung gegeben. Der Richter Hare war streng, gebieterisch, halsstarrig und selbstgefällig; sie war furchtsam, sanftmütig und unterwürfig. Sie hatte ihn von ganzem Herzen geliebt, und ihr Leben war eine einzige lange Unterwerfung ihres Willens unter den Seinen gewesen; eigentlich hatte sie keinen eigenen Willen; immer galt der Seine. Dennoch war sie weit davon entfernt, die Knechtschaft als Joch zu empfinden – manche Charaktere haben solche Gefühle nicht. Und um Mr. Hare Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Sein machtvoller Wille, wonach alles sich ihm beugen musste, war ein Fehler, aber seine Freundlichkeit stand außer Frage. Er wollte zu seiner Frau nie unfreundlich sein. Von seinen drei Kindern hatte allein Barbara seine Willensstärke geerbt.

„Barbara“, setzte Mrs. Hare noch einmal an, als sie glaubte, es müsse mindestens eine Viertelstunde verstrichen sein.

„Ja, Mama?“

„Läute und sage ihnen, sie sollen alles in Bereitschaft halten, damit keine Verzögerung eintritt, wenn es sieben schlägt.“

„Du liebe Güte, Mama! Du weißt doch, dass immer alles bereitsteht. Und wir haben keine Eile, denn Papa ist wahrscheinlich nicht zu Hause.“ Dennoch erhob sie sich, betätigte mit einer verdrießlichen Bewegung die Glocke, und als der Dienstbote eintrat, sagte sie ihm, er solle pünktlich den Tee servieren.

„Wenn du wüsstest, mein Liebes, was ich für einen trockenen Hals habe und wie ausgedörrt mein Mund ist, hättest du mehr Geduld mit mir.“

Barbara schlug mit einem Ausdruck der Lustlosigkeit ihr Buch zu und wandte sich lustlos zum Fenster. Sie wirkte müde, aber nicht vor Erschöpfung, sondern wegen des Zustandes, den die Franzosen mit dem Wort ennui ausdrücken. „Da kommt Papa“, sagte sie kurz darauf.

„Ach, da bin ich aber froh“, rief die arme Mrs. Hare. „Vielleicht macht es ihm nichts aus, sofort Tee zu trinken, wenn ich ihm sage, welchen Durst ich habe.“

Der Richter trat ein. Er war ein mittelgroßer Mann mit wichtigtuerischen Gesichtszügen, wichtigtuerischem Gang und einer flachsblonden Perücke. In seiner Adlernase, den zusammengepressten Lippen und dem spitzen Kinn mochte man vielleicht eine Ähnlichkeit mit seiner Tochter erkennen; allerdings hatte er nie auch nur halb so gut ausgesehen wie die hübsche Barbara.

„Richard“, ergriff Mrs. Hare in dem Augenblick, in dem er die Tür öffnete, zwischen ihren Decken das Wort.

„Ja?“

„Darf ich jetzt bitte den Tee bringen lassen? Würde es dir sehr viel ausmachen, ihn heute Abend ein wenig früher zu trinken? Ich habe wieder Fieber, und meine Zunge ist so trocken, dass ich nicht mehr weiß, wie ich sprechen soll.“

„Ach, es ist ja kurz vor sieben; du musst nicht mehr lange warten.“

Mit dieser überaus liebreizenden Antwort auf die Bitte einer Kranken verließ Mr. Hare das Zimmer und knallte die Tür zu. Er hatte nicht unfreundlich oder grob gesprochen, sondern einfach nur voller Gleichgültigkeit. Aber noch bevor Mrs. Hares schwacher Seufzer der Enttäuschung vorüber war, öffnete sich die Tür erneut, und die flachsblonde Perücke wurde wieder hereingestreckt.

„Es macht mir nichts aus, ihn jetzt zu trinken. Es wird eine schöne Mondnacht, und ich werde mit Pinner zu Beauchamp gehen und dort eine Pfeife rauchen. Lassʼ ihn kommen, Barbara.“

Der Tee wurde zubereitet und eingenommen, und nachdem Squire Pinner am Tor vorgesprochen hatte, machte der Richter sich auf den Weg zu Mr. Beauchamp. Dieser Gentleman bewirtschaftete große Ländereien und war auch der Agent oder Verwalter des Lord Mount Severn für East Lynne. Er wohnte ein Stück weiter die Straße entlang in kurzer Entfernung hinter East Lynne.

„Mir ist so kalt, Barbara“, schauderte Mrs. Hare, während sie zusah, wie der Richter den Kiesweg hinunterging. „Ob dein Papa es wohl töricht finden würde, wenn ich ihnen sage, sie sollten ein wenig Feuer machen?“

„Lassʼ es anzünden, wenn du magst“, erwiderte Barbara und läutete. „Papa wird ohnehin nichts davon erfahren, denn er wird erst nach der Zubettgehzeit nach Hause kommen. Jasper, Mama friert und möchte, dass ein Feuer angezündet wird.“

„Viele dünne Stöcke, Jasper, damit es schnell brennt“, sagte Mrs. Hare mit bettelnder Stimme, als seien es nicht ihre Stöcke, sondern die von Jasper.

Mrs. Hare bekam ihr Feuer, zog ihren Stuhl davor und legte die Füße auf das Kamingitter, um die Wärme aufzufangen. Barbara begab sich, immer noch lustlos, in die Diele, nahm dort einen Wollschal vom Ständer, warf ihn sich über die Schulter und ging hinaus. Sie schlenderte den geraden, herrschaftlichen Weg hinunter, blieb an dem eisernen Tor stehen und blickte darüber hinweg auf die öffentliche Straße, die allerdings an dieser Stelle und zu dieser Stunde nicht sehr öffentlich war, sondern so einsam, wie man es sich nur wünschen konnte. Es war eine stille, angenehme Nacht, wenn auch etwas kalt für Anfang Mai, und der Mond stieg am Himmel in die Höhe.

„Wann kommt er wohl nach Hause?“, murmelte sie, während sie den Kopf an das Gitter lehnte. „Ach, was wäre das Leben ohne ihn? Wie elend waren diese paar Tage! Was hat ihn wohl dorthin geführt? Was hält ihn ab? Corny sagt, er sei nur für einen Tag weggegangen.“

Aus der Ferne drang das schwache Echo von Schritten an ihre Ohren. Barbara zog sich ein wenig zurück und versteckte sich unter den Bäumen – von einem zufälligen Passanten wollte sie nicht gesehen werden. Als die Schritte aber näher kamen, ging plötzlich eine Wandlung mit ihr vor; ihre Augen leuchteten auf, ihre Wangen färbten sich dunkelrot, und ihre Adern pulsierten in einem Übermaß von Begeisterung: Sie kannte diese Schritte nur allzu gut und liebte sie.

Vorsichtig spähte sie wieder über das Tor und blickte die Straße hinunter. Eine stattliche Gestalt, deren Größe und Kraft eine Anmut in sich trugen, ohne dass sich ihr Besitzer dessen bewusst gewesen wäre, kam aus der Richtung von West Lynne schnell auf sie zu. Wieder schreckte sie zurück; wahre Liebe ist stets furchtsam; und welche Qualitäten Barbara Hare sonst auch besitzen mochte, ihre Liebe zumindest war wahrhaftig und tief. Aber das Tor öffnete sich nicht mit der energischen, schnellen Bewegung, die für die sie ausführende Hand charakteristisch war, sondern die Schritte schienen vorüberzugehen und sich nicht in ihre Richtung zu wenden. Barbaras Herz sank. Wieder stahl sie sich an das Tor und sah mit sehnsuchtsvollem Blick nach draußen.

Ja, natürlich ging er weiter. Er dachte nicht an sie, kam nicht zu ihr; in der Enttäuschung und aus dem Impuls des Augenblicks rief sie ihn:

„Archibald!“

Mr. Carlyle – denn kein anderer war es – wandte sich auf dem Absatz um und kam zum Tor.

„Sie sind es, Barbara! Halten Sie Ausschau nach Dieben und Wilderern? Wie geht es Ihnen?“

„Wie geht es Ihnen?“, gab sie zurück und hielt das Tor auf, damit er eintreten konnte. Während sie sich die Hand gaben, bemühte sie sich, ihre Aufregung zu zügeln. „Wann sind Sie zurückgekommen?“

„Gerade erst, mit dem Achtuhrzug. Er hatte Verspätung, weil er an den Bahnhöfen unverzeihlich lange getrödelt hat. Sie hatten nicht daran gedacht, dass ich darin saß, das verrieten mir ihre Blicke, als ich ausgestiegen bin. Ich war noch nicht zu Hause.“

„Nein! Was wird Cornelia sagen?“

„Ich war für fünf Minuten in der Kanzlei. Aber ich habe ein paar Worte mit Beauchamp zu reden und gehe sofort hin. Danke, ich kann jetzt nicht hereinkommen; ich habe vor, es auf dem Rückweg zu tun.“

„Papa ist zu Mr. Beauchamp gegangen.“

„Mr. Hare! Wirklich?“

„Er und Squire Pinner“, fuhr Barbara fort. „Sie sind hingegangen, um eine Runde zu rauchen. Wenn Sie dort auf Papa warten, wird es zu spät, um noch hereinzukommen, denn er wird sicher nicht vor elf oder zwölf zurück sein.“

Mr. Carlyle senkte nachdenklich den Kopf. „Ich glaube, dann nützt es nichts, wenn ich weitergehe“, sagte er, „denn meine Geschäfte mit Beauchamp sind privater Natur. Ich muss sie auf morgen verschieben.“

Er nahm ihr das Gartentor aus der Hand, schloss es und legte ihre Hand auf seinen Arm, um mit ihr zum Haus zu gehen. Das Ganze geschah auf eine nüchterne, realistische Art und Weise; Romantik oder Gefühle schwangen darin nicht mit; und doch fühlte sich Barbara Hare, als wäre sie im Paradies.

„Und wie ist es Ihnen in den letzten Tagen ergangen, Barbara?“

„Ach, sehr gut. Aus welchem Anlass sind Sie so plötzlich abgereist? Sie haben nie gesagt, dass Sie wegfahren würden, und sind auch nicht zu uns gekommen, um sich zu verabschieden.“

„Sie haben es gerade zum Ausdruck gebracht, Barbara – ‚plötzlich‘. Eine geschäftliche Angelegenheit hat sich plötzlich ergeben, und dafür musste ich plötzlich etwas tun.“

„Cornelia hat gesagt, Sie wären nur einen Tag fort.“

„Hat sie das gesagt? Wenn ich in London bin, gibt es immer viel zu tun! Geht es Mrs. Hare besser?“

„Es ist immer gleich. Ich glaube, Mamas Leiden sind zumindest zur Hälfte nur eingebildet; wenn sie sich aufraffen würde, ginge es ihr besser. Was ist in diesem Paket?“

„Das zu fragen, steht Ihnen nicht zu, Miss Barbara. Es geht Sie nichts an. Es geht nur Mrs. Hare etwas an.“

„Haben Sie Mama etwas mitgebracht, Archibald?“

„Natürlich. Zum Besuch eines Landbewohners in London gehört es, dass er Geschenke für seine Freunde kauft; zumindest war das früher so, in der guten alten Zeit.“

„Als die Leute ihr Testament gemacht haben, bevor sie abgereist sind, und dann für die Reise vierzehn Tage in einer Kutsche gebraucht haben“, lachte Barbara. „Solche Geschichten hat uns Großvater erzählt, als wir Kinder waren. Aber ist es wirklich etwas für Mama?“

„Habe ich so etwas gesagt? Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.“

„Ach! Was denn?“, platzte sie heraus. Ihr Gesichts nahm mehr Farbe an, und sie fragte sich, ob er im Scherz oder im Ernst gesprochen hatte.

„Das ist aber ein ungeduldiges Mädchen! ‚Was denn?‘ Warten Sie einen Augenblick, dann werden Sie es sehen.“

Er legte das Päckchen, das er bei sich trug, auf einen Gartenstuhl und fing an, in seinen Taschen zu suchen. Er sah in allen Taschen nach, aber scheinbar vergeblich.

„Barbara, ich glaube, es ist weg. Ich muss es irgendwo verloren haben.“

Ihr Herz pochte, während sie dort stand und ihn im Mondlicht schweigend ansah. Was war verloren gegangen? Was war es gewesen?

Aber bei einer zweiten Suche stieß er auf etwas in der Tasche seines Rockschoßes. „Ah, da ist es; wie ist es denn dorthin gekommen?“ Er öffnete eine kleine Schachtel, nahm eine lange Goldkette heraus und legte sie ihr um den Hals. Daran war ein Medaillon befestigt.

Das Rot auf ihren Wangen kam und ging; ihr Herz schlug schneller. Sie brachte kein Wort des Dankes hervor; Mr. Carlyle griff wieder nach dem Päckchen und ging weiter zu Mrs. Hare.

Barbara folgte ihm wenige Minuten später. Ihre Mutter stand und sah in freudiger Erwartung Mr. Carlyles Bewegungen zu. Es waren keine Kerzen im Zimmer, aber der Kamin erleuchtete es hell.

„Nun, lachen Sie mich nicht aus“, sagte er, wobei er die Schnur um das Päckchen löste. „Es ist keine Rolle Samt für ein Kleid, und auch keine Pergamentrolle, die Ihnen zwanzigtausend Pfund im Jahr verspricht. Vielmehr ist es – ein aufblasbares Kissen!“

Es war genau das, wonach die arme Mrs. Hare, die des Sitzens und Liegens so überdrüssig war, sich oft gesehnt hatte. Sie hatte gehört, man könne solche Luxusartikel in London kaufen, aber sie konnte sich nicht erinnern, jemals eines gesehen zu haben. Fast gierig griff sie danach, wobei sie Mr. Carlyle einen dankbaren Blick zuwarf.

„Wie soll ich Ihnen dafür danken?“, murmelte sie unter Tränen.

„Wenn Sie mir überhaupt danken, werde ich Ihnen nie wieder etwas mitbringen“, rief er fröhlich. „Ich habe Barbara schon gesagt, dass es zu einem Besuch in London dazugehört, Geschenke für Freunde mitzubringen. Sehen Sie, wie hübsch ich sie gemacht habe?“

Hastig nahm Barbara die Kette ab und legte sie vor ihrer Mutter hin.

„Was für eine wunderschöne Kette“, murmelte Mrs. Hare überrascht. „Archibald, Sie sind einfach zu gütig, zu großzügig! Das muss doch eine Menge gekostet haben; das ist keine Kleinigkeit.“

„Unsinn!“, lachte Mr. Carlyle. „Ich will Ihnen beiden sagen, wie es dazu kam, dass ich es gekauft habe. Ich bin zu einem Juwelier gegangen, weil meine Armbanduhr in letzter Zeit auf höchst ungenierte Weise nachgegangen ist, und da sah ich eine ganze Auslage mit hängenden Ketten; manche waren gewichtig genug für einen Sheriff, andere leicht und elegant genug für Barbara. Ich sehe am Hals einer Dame nicht gern eine dicke Kette. Mir kam der Gedanke an die Kette, die sie an dem Tag verloren hat, an dem sie und Cornelia mit mir nach Lynneborough gefahren waren. Barbara erklärte hartnäckig, der Verlust sei meine Schuld, weil ich sie zur Besichtigung durch die Stadt geschleppt hätte, während Cornelia einkaufen ging – und dabei ist ihr die Kette abhanden gekommen.“

„Aber das habe ich doch nur im Scherz gesagt“, warf Barbara ein. „Natürlich wäre es auch geschehen, wenn Sie nicht bei mir gewesen wären; die Kettenglieder sind schon immer gerissen.“

„Nun ja, diese Ketten in dem Laden in London riefen mir Barbaras Missgeschick wieder in Erinnerung, und so habe ich eine ausgesucht. Dann brachte der Verkäufer ein paar Medaillons und verbreitete sich darüber, wie bequem man darin die Haare verstorbener Angehöriger unterbringen könne, ganz zu schweigen von den Haaren eines Geliebten. Schließlich habe ich ihm gesagt, er solle eines an die Kette hängen. Ich dachte, es könne dieses Stück Haar aufnehmen, das das Sie so schätzen, Barbara“, schloss er, wobei er die Stimme senkte.

„Welches Stück?“, fragte Mrs. Hare.

Mr. Carlyle blickte sich im Zimmer um, als fürchtete er, die Wände könnten sein Flüstern hören. „Das von Richard. Barbara hat es mir einmal gezeigt, als sie ihren Schreibtisch aufgeräumt hat, und dabei hat sie gesagt, die Locke habe man ihm während dieser Krankheit abgeschnitten.“

Mrs. Hare sank in ihren Sessel zurück, verbarg das Gesicht in den Händen und zitterte sichtbar. Die Worte hatten offensichtlich eine schmerzliche Quelle tiefen Kummers berührt. „Ach, mein Junge! Mein Junge!“, wimmerte sie – „Mein Junge, mein unglücklicher Junge! Mr. Hare wundert sich über meine schlechte Gesundheit, Archibald; Barbara macht sich darüber lustig; aber dort liegt die Ursache meines ganzen Elends, des seelischen wie des körperlichen. Ach, Richard! Richard!“

Eine quälende Pause trat ein. Das Thema erlaubte weder Hoffnung noch Trost. „Legen Sie Ihre Kette wieder an, Barbara“, sagte Mr. Carlyle nach einiger Zeit. „Ich wünsche Ihnen die Gesundheit, um sie lange zu tragen. Gesundheit und Läuterung, junge Dame!“

Barbara lächelte und sah ihn mit ihren hübschen blauen Augen an, die so voller Liebe waren. „Was haben Sie für Cornelia mitgebracht?“, nahm sie das Gespräch wieder auf.

„Etwas Prächtiges“, antwortete er mit gespielt ernstem Gesicht; „ich hoffe nur, man hat mich nicht hereingelegt. Ich habe ihr einen Schal gekauft. Die Verkäufer haben mir geschworen, es sei echter Pariser Kaschmir. Ich habe achtzehn Guineen dafür bezahlt.“

„Das ist eine Menge“, erklärte Mrs. Hare. „Da muss es schon ein sehr guter Schal sein. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie mehr als sechs Guineen für einen Schal ausgegeben.“

„Und Cornelia, das wage ich zu behaupten, nie mehr als halb so viel“, lachte Mr. Carlyle. „Nun, ich wünsche Ihnen einen Guten Abend und werde zu ihr gehen; wenn sie weiß, dass ich schon so lange zurück bin, bekomme ich einen Vortrag zu hören.“

Er schüttelte beiden die Hand. Barbara begleitete ihn bis zur Haustür und trat mit ihm nach draußen.

„Sie werden sich eine Erkältung holen, Barbara. Sie haben Ihren Schal drinnen gelassen.“

„Ach nein, das werde ich nicht. Sie gehen so schnell wieder. Sie sind kaum zehn Minuten geblieben.“

„Sie vergessen, dass ich noch nicht zu Hause war.“

„Sie waren auf dem Weg zu Beauchamp, und dann wären sie erst in einer oder zwei Stunden zu Hause gewesen“, erwiderte Barbara in einem Ton unverhohlenen Unmuts.

„Das war etwas anderes; das war geschäftlich. Aber Barbara, ich finde, Ihre Mutter sieht ungewöhnlich krank aus.“

„Sie wissen, dass sie leidet und dass schon Kleinigkeiten sie aufregen. Gestern Abend hatte sie einen ihrer Träume, wie sie es nennt“, antwortete Barbara. „Sie sagt, es sei eine Warnung, dass etwas Schlimmes geschehen wird, und dann war sie den ganzen Tag in dem unglücklichsten Fieberzustand, den man sich vorstellen kann. Papa war sehr verärgert darüber, dass sie so schwach und nervös ist, und erklärte, sie müsse sich mit ihren ‚Nerven‘ zusammennehmen. Natürlich wagen wir es nicht, ihm von dem Traum zu erzählen.“

„Er handelte von … dem …“

Mr. Carlyle hielt inne. Barbara blickte sich mit einem Schaudern um und rückte näher zu ihm, während sie flüsterte. Dieses Mal hatte er ihr nicht seinen Arm angeboten.

„Ja, von dem Mord. Wissen Sie, Mama hat immer behauptet, Bethel hätte etwas damit zu tun; sie sagt, auch wenn es sonst nichts gäbe, hätten ihre Träume sie davon überzeugt; und sie hat geträumt, sie hätte ihn gesehen, und zwar mit … mit … Sie wissen schon.“

„Hallijohn?“, flüsterte Mr. Carlyle.

„Mit Hallijohn“, bestätigte Barbara mit einem Schaudern. „Er stand über ihm, als er auf dem Boden lag; genau wie er wirklich dort lag. Und diese elende Afy stand hinten in der Küche und sah zu.“

„Aber Mrs. Hare sollte nicht zulassen, dass Träume tagsüber ihren Frieden stören“, mahnte Mr. Carlyle. „Dass sie von dem Mord träumt, ist nicht verwunderlich, denn sie grübelt ständig darüber nach; aber sie sollte sich bemühen, das Gefühl zusammen mit der Nacht hinter sich zu lassen.“

„Sie wissen doch, wie Mama ist. Natürlich sollte sie das tun, aber das macht sie nicht. Papa wundert sich, warum sie morgens so krank und zitternd aufwacht; dann muss Mama alle möglichen Ausflüchte erfinden; denn wie Sie wissen, darf ihm nicht die geringste Anspielung auf den Mord zu Ohren kommen.“

Mr. Carlyle nickte bedächtig.

„Wenn es um Bethel geht, spielt Mama immer die gleiche Leier. Und ich weiß, dass der Traum auf nichts anderem in der Welt beruht als dass sie ihn gestern am Tor hat vorübergehen sehen. Sie glaubt nicht, dass er es getan hat; dazu besteht leider kein Spielraum; aber sie behauptet steif und fest, er habe irgendwie seine Hand im Spiel gehabt, und er verfolgt sie in ihren Träumen.“

Mr. Carlyle ging schweigend weiter; tatsächlich hatte er darauf keine Antwort. Ein Schatten war auf das Haus von Mr. Hare gefallen, und es war ein unglückseliges Thema. Barbara fuhr fort:

„Aber Mama hat es sich in den Kopf gesetzt, dass ‚etwas Schlimmes geschehen wird‘, weil sie diesen Traum hatte, und darüber macht sie sich selbst unglücklich. Das ist so absurd, dass ich mich den ganzen Tag ziemlich über sie geärgert habe. Wissen Sie, Archibald, es ist ein solcher Unsinn – zu glauben, Träume wären ein Zeichen dafür, was geschehen wird. Es ist so rückständig in unserer aufgeklärten Zeit!“

„Ihre Mutter hatte großen Kummer, Barbara; und sie ist keine starke Frau.“

„Ich finde, unser Kummer war immer groß seit … seit jenem düsteren Abend“, erwiderte Barbara.

„Haben Sie etwas von Anne gehört?“ erkundigte sich Mr. Carlyle. Er war gewillt, das Thema zu wechseln.

„Ja, es geht ihr sehr gut. Was glauben Sie, welchen Namen sie dem Baby gegeben haben? Anne, nach ihrer Mutter. So ein hässlicher Name! Anne!“

„Das finde ich nicht“, sagte Mr. Carlyle. „Er ist einfach und unprätentiös. Mir gefällt er sehr. Sehen Sie sich nur die langen, gezierten Namen in unserer Familie an – Archibald! Cornelia! Und auch Ihrer – Barbara! Was für große Worte sind das alles!“

Barbara zog die Augenbrauen zusammen. Es war das Gleiche, als hätte er gesagt, dass ihm ihr Name nicht gefiel.

Sie kamen zum Gartentor. Mr. Carlyle stand im Begriff, auf die Straße zu treten, da legte Barbara ihm die Hand auf den Arm, hielt ihn zurück und sagte mit furchtsamer Stimme:

„Archibald!“

„Was ist?“

„Ich habe Ihnen dafür noch kein Wort des Dankes gesagt“, sagte sie, wobei sie die Kette und das Medaillon berührte; „Mir war, als wäre meine Zunge festgebunden. Bitte halten Sie mich nicht für undankbar.“

„Sie dummes Mädchen! Das ist doch nicht der Rede wert. Da! Jetzt bin ich bezahlt. Gute Nacht, Barbara.“

Er hatte sich hinuntergebeugt und sie auf die Wange geküsst, bevor er das Tor öffnete, lachte und sich mit langen Schritten entfernte. „Sagen Sie nicht, ich hätte ihnen nie etwas gegeben“, sagte er, während er sich noch einmal umdrehte. „Gute Nacht.“

In ihr pochten alle Adern, und ihr Puls schlug heftig; ihr Herz bebte in diesem Gefühl der Glückseligkeit. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte er sie nie geküsst, seit sie ein Kind war. Als sie ins Haus zurückkehrte, war ihre Stimmung so außergewöhnlich gut, dass Mrs. Hare sich wunderte.

„Läute und lassʼ die Lampe bringen, Barbara, dann kannst du an deine Arbeit gehen. Aber lassʼ die Fensterläden nicht schließen; ich blicke in solchen hellen Nächten gern nach draußen.“

Barbara ging nicht an ihre Arbeit; vielleicht blickte auch sie „in hellen Nächten gern nach draußen“, denn sie setzte sich ans Fenster. Sie durchlebte die letzte halbe Stunde noch einmal. „‚Sagen Sie nicht, ich hätte ihnen nie etwas gegeben‘“, murmelte sie. „Hat er damit die Kette gemeint oder – den Kuss? Ach, Archibald, warum sagst du nicht, dass du mich liebst?“

Mr. Carlyle hatte während seines ganzen Lebens mit der Familie Hare auf vertrautem Fuß gestanden. Die erste Ehefrau seines Vaters – der verstorbene Anwalt Carlyle war zweimal verheiratet gewesen – war eine Cousine des Richters Hare, und das hatte dazu geführt, dass sie oft zusammen waren. Archibald, der Sohn der zweiten Mrs. Carlyle, hatte Anne und Barbara Hare abwechselnd gehänselt und gehätschelt, wie Jungen es tun. Manchmal hatte er sich mit den hübschen kleinen Mädchen gestritten, manchmal hatte er sie liebkost, wie er es auch getan hätte, wenn sie seine Schwestern gewesen wären; und er hatte keine Bedenken, den beiden in aller Offenheit zu sagen, dass Anne ihm die Liebere war. Sie war wie ihre Mutter ein sanftes, nachgiebiges Mädchen; Barbara dagegen hatte stets ihren eigenen Willen und war manchmal mit dem jungen Carlyle aneinandergeraten.

Die Uhr schlug zehn. Mrs. Hare nahm ihren üblichen Schlummertrunk aus Brandy und Wasser zu sich, ein kleines, zu drei Vierteln gefülltes Glas. Ohne ihn, so glaubte sie, würde sie niemals schlafen können; sie sagte, es halte unglückselige Gedanken fern. Nachdem Barbara das Getränk zubereitet hatte, wandte sie sich wieder zum Fenster, nahm aber ihren Sitzplatz nicht ein. Sie stand unmittelbar davor, ihre Stirn beugte sich gegen die mittlere Glasscheibe. Die Lampe stand hinter ihr und warf helles Licht, sodass ihre Gestalt vom Rasen aus eindeutig zu erkennen gewesen wäre, hätte dort jemand gestanden und sie gesehen.

So stand sie dort mitten im Traumland und ließ allen seinen bezaubernden, höchst trügerischen Reizen ihren Lauf. Sie sah sich selbst in der Vorausschau als Ehefrau von Mr. Carlyle, beneidet, dreifach beneidet von ganz West Lynne; denn er war ihrem Herzen nicht nur das Liebste auf Erden, sondern auch die beste Partie in der ganzen Nachbarschaft. Da gab es keine Mutter, die sich ihn nicht für ihr Kind gewünscht hätte, und keine Tochter, die auf einen Antrag des attraktiven Archibald Carlyle nicht gesagt hätte: „Ja, und vielen Dank.“ „Bis heute Abend war ich mir nie sicher, ganz sicher“, murmelte Barbara, wobei sie das Medaillon liebkoste und an ihrer Wange hielt. „Ich habe immer gedacht, er meint vielleicht etwas, oder er meint nichts: Aber mir dies zu geben – mich zu küssen – ach, Archibald!“

Eine Pause trat ein. Barbaras Blicke hefteten sich an das Mondlicht.

„Wenn er doch nur sagen würde, dass er mich liebt! Wenn er mich vor der Unsicherheit meines schmerzenden Herzens bewahren würde! Aber das kommt noch; ich weiß, dass es kommt; und wenn diese zänkische Kröte namens Corny…“

Barbara Hare hielt inne. Was war das, dort auf der anderen Seite des Rasens, unmittelbar vor dem Schatten der dichten Bäume? Ihre Blätter waren nicht der Grund der Bewegung, denn die Nacht war windstill. Es stand schon seit einigen Minuten dort; und offensichtlich war es eine menschliche Gestalt. Aber wer war es? Die Gestalt machte ihr Zeichen!

Oder vielleicht sah es auch nur so aus. Da bewegte sich doch sicher ein Arm, und jetzt kam es einen Schritt näher und hob etwas hoch, was es auf dem Kopf trug – einen zerbeulten Hut mit breiter Krempe, einen „Schlapphut“, der von Stroh gesäumt war.

Barbara Hares Herz machte einen Satz, wie man so sagt, und ihr Gesicht wurde im Mondlicht leichenblass. Ihr erster Gedanke war, die Dienstboten zu alarmieren; der zweite, still zu halten; ihr fiel ein, welche Angst und Geheimnisse sich mit dem Haus verbanden. Sie schloss ihre Mutter im Salon ein, ging in die Diele, und stand mit stillem Blick im Schatten der Eingangsveranda. Aber die Gestalt folgte ihren Bewegungen offensichtlich mit den Blicken; der Hut wurde wiederum abgenommen und heftig geschwenkt.

Barbara Hare wurde übel vor Entsetzen. Sie musste es herausfinden; sie musste sehen, wer und was das war; die Dienstboten zu rufen, wagte sie nicht; die Bewegungen waren zwingend und nicht zu übersehen. Aber sie besaß auch mehr angeborenen Mut, als er der Mehrzahl junger Damen zufällt.

„Mama“, sagte sie, als sie in den Salon zurückkehrte, nach ihrem Schal griff und sich bemühte, keine Gefühle zu verraten, „ich gehe nur ein wenig den Weg hinunter und sehe nach, ob Papa schon kommt.“

Mrs. Hare antwortete nicht. Sie grübelte über andere Dinge nach und befand sich dabei in jener stillen, glücklichen Stimmung, die ein kleiner Teil der Charaktere mit einer körperlichen Schwäche verbindet. Barbara schloss leise die Tür und stahl sich wieder auf die Veranda hinaus. Einen Augenblick blieb sie stehen, um ihren Mut zusammenzunehmen, und wieder wurde der Hut ungeduldig geschwenkt.

Barbara Hare schlug den Weg in die fragliche Richtung mit unaussprechlicher Furcht ein, mit einem unbestimmten Gefühl des Bösen, das ihr sinkendes Herz erfüllte. Darunter mischte sich eine Welle des Entsetzens, eine Angst vor jenem anderen unbestimmten Bösen – dem Bösen, von dem Mrs. Hare behauptet hatte, es sei durch ihren Traum angekündigt worden.

Das Geheimnis von East Lynne

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