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Kapitel 6 Richard Hare, der Jüngere

Das Richtergremium versäumte es nicht, die Verabredung einzuhalten. Um sieben Uhr trafen sie bei Miss Carlyle ein, wobei der eine dem anderen auf dem Fuße folgte. Der Leser mag sich vielleicht an dem Ausdruck „bei Miss Carlyle“ stören, aber er ist richtig: Das Haus gehörte nicht ihrem Bruder, sondern ihr; es war zwar wie schon zu seines Vaters Zeiten sein Zuhause, gehörte aber zu dem Anwesen, das Miss Carlyle geerbt hatte.

Miss Carlyle entschloss sich, trotz der Pfeifen und des Rauches anwesend zu sein, und wenig später war sie ebenso ins Gespräch vertieft wie die Richter. In der Stadt sagte man, sie sei ein so guter Anwalt wie ihr Vater; zweifellos besaß sie in juristischen Angelegenheiten ein gesundes Urteilsvermögen und eine schnelle Auffassungsgabe. Um acht Uhr trat ein Diener ins Zimmer und wandte sich an seinen Herrn.

„Mr. Dill bittet darum, mit Ihnen zu sprechen, Sir.“

Mr. Carlyle erhob sich und kam mit einem offenen Notizzettel in der Hand zurück.

„Ich bedaure, Sie für eine halbe Stunde verlassen zu müssen; eine wichtige geschäftliche Angelegenheit hat sich ergeben, aber ich komme zurück, so schnell ich kann.“

„Wer hat nach dir geschickt?“, verlangte Miss Corny sofort zu wissen.

Er warf ihr einen unauffälligen Blick zu, den sie als Warnung interpretierte, nicht zu fragen. „Mr. Dill ist hier und wird sich zu Ihnen gesellen, um über die Sache zu sprechen“, sagte er zu seinen Gästen. „Er kennt die Gesetze besser als ich; aber es wird nicht lange dauern.“

Er trat aus dem Haus und begab sich mit schnellen Schritten zu dem Gehölz. Der Mond schien ebenso hell wie am Abend zuvor. Nachdem er West Lynne hinter sich hatte und an den bereits erwähnten, einzeln stehenden Villen vorüberkam, warf er unwillkürlich einen Blick auf den Wald, der sich zu seiner Linken hinter den Häusern erhob. Er wurde Abbey Wood genannt, weil in alten Zeiten eine Abtei in seiner Nähe gestanden hatte, aber davon waren alle Spuren mit Ausnahme der Überlieferung verschwunden. Mitten im Wald gab es ein einziges kleines Haus oder eine Hütte, und dort war der Mord geschehen, dessentwegen Richard Hares Leben in Gefahr war. Es war jetzt nicht mehr bewohnt, denn niemand wollte es mieten oder darin leben.

Mr. Carlyle öffnete das Gartentor bei The Grove und musterte die Bäume rechts und links von ihm, aber weder sah noch hörte er irgendwelche Anzeichen dafür, dass Richard sich darin versteckte. Barbara stand am Fenster, blickte hinaus und kam dann selbst herunter, um Mr. Carlyle die Tür zu öffnen.

„Mama ist in einem höchst aufgeregten Zustand“, flüsterte sie ihm zu, als er eintrat. „Das wusste ich im Voraus.“

„Ist er schon gekommen?“

„Daran habe ich keinen Zweifel; aber er hat noch kein Zeichen gegeben.“

Mrs. Hare stand, fieberhaft erregt und mit roten Flecken auf den zarten Wangen, neben dem Stuhl, statt darauf zu sitzen. Mr. Carlyle drückte ihr eine Brieftasche in die Hand. „Ich habe es überwiegend in Banknoten mitgebracht“, sagte er. „Die sind für ihn leichter zu tragen als Gold.“

Mrs. Hare antwortete nur mit einem dankbaren Blick und umklammerte Mr. Carlyles Hand. „Archibald, ich muss meinen Jungen sehen; wie können wir das einrichten? Muss ich zu ihm in den Garten gehen, oder kann er hereinkommen?“

„Ich denke, er kann hereinkommen; Sie wissen, wie schlecht Ihnen die Nachtluft bekommt. Sind die Dienstboten heute Abend auf den Beinen?“

„Es scheint, als hätten sich die Dinge sehr freundlich entwickelt“, warf Barbara ein. „Zufällig hat Anne heute Geburtstag, und deshalb hat Mama mich gerade mit einem Kuchen und einer Flasche Wein in die Küche geschickt und sie aufgefordert, auf ihre Gesundheit zu trinken. Ich habe die Tür geschlossen und ihnen gesagt, sie sollten es sich gemütlich machen; wenn wir irgendetwas brauchen, würden wir läuten.“

„Dann sind sie ungefährlich“, erklärte Mr. Carlyle, „und Richard kann hereinkommen.“

„Ich gehe hinaus und sehe nach, ob er gekommen ist“, sagte Barbara.

„Bleiben Sie, wo Sie sind, Barbara; ich werde selbst gehen“, warf Mr. Carlyle ein. „Sorgen Sie dafür, dass die Tür offen ist, wenn Sie uns den Weg heraufkommen sehen.“

Barbara stieß einen schwachen Schrei aus und umklammerte zitternd Mr. Carlyles Arm. „Da ist er! Sehen Sie nur! Er steht vor den Bäumen genau gegenüber von diesem Fenster.“

Mr. Carlyle wandte sich an Mrs. Hare. „Ich werde ihn nicht sofort hereinbringen; ich muss mit ihm sprechen, das muss zuerst erledigt werden, damit ich wieder zu den Richtern gehen und Mr. Hare fernhalten kann.“

Er ging den Weg hinunter, erreichte die Bäume und tauchte zwischen ihnen ein. An einem davon lehnte Richard Hare. Ohne die Verkleidung mit den falschen, wilden schwarzen Schnurrbarthaaren war er ein blauäugiger, flotter, angenehm aussehender junger Mann, schlank, von mittlerer Größe und ebenso nachgiebig und sanft wie seine Mutter. Bei ihr war die milde, nachgiebige Haltung eine recht anmutige Eigenschaft; bei Richard musste man sie als verachtenswertes Unglück bezeichnen. Als Junge hatte er den Spitznamen Blätter-Dick getragen, und wenn sich ein Fremder nach dem Grund erkundigte, lautete die Antwort: So, wie ein Blatt vom Wind hin und her bewegt wird, so wird er von jedem in seiner Umgebung hin und her bewegt. Einen eigenen Willen besaß er nie. Kurz gesagt, war Richard Hare zwar ein liebenswürdiger, freundlicher Charakter, aber er war nicht übermäßig gut mit dem ausgestattet, was die Welt als Verstand bezeichnet. Verstand hatte er sicher, aber keinen besonders scharfen.

„Kommt meine Mutter zu mir heraus?“, fragte Richard, nachdem er ein paar Sätze mit Mr. Carlyle gewechselt hatte.

„Nein. Sie gehen hinein. Ihr Vater ist außer Haus, und die Dienstboten sind in der Küche eingeschlossen und werden Sie nicht sehen. Und wenn sie es täten, würden sie Sie in dieser Aufmachung niemals erkennen. Ein hübscher Schnauzbart, Richard.“

„Also gehen wir hinein. Ich bin sehr nervös, bis ich wieder fort bin. Werde ich das Geld bekommen?“

„Ja, ja. Aber Richard, Ihre Schwester sagt, Sie wollten mir die wahre Geschichte jener beklagenswerten Nacht erzählen. Sie sprechen besser, solange wir hier sind.“

„Barbara selbst wollte, dass Sie es hören. Ich halte es nicht für bedeutsam. Auch wenn alle von mir die Wahrheit hören würden, es würde mir nichts nützen, denn mir würde niemand Glauben schenken – nicht einmal Sie.“

„Stellen Sie mich auf die Probe, Richard, und das mit so wenigen Worten wie möglich.“

„Nun, zu Hause gab es Krach, weil ich so oft zu Hallijohn gegangen bin. Der Gouverneur und meine Mutter glaubten, ich sei hinter Afy her; vielleicht war ich das auch, vielleicht auch nicht. Hallijohn hatte mich gebeten, ihm mein Gewehr zu leihen, und an diesem Abend, als ich mich mit Af… als ich mich mit irgendjemandem treffen wollte … Ganz gleich …“

„Richard“, unterbrach ihn Mr. Carlyle, „es gibt ein altes Sprichwort, und das ist ein vernünftiger Rat: ‚Deinem Anwalt und deinem Arzt musst du die Wahrheit sagen.‘ Wenn ich beurteilen soll, ob man irgendetwas für Sie tun kann, müssen Sie mir alles sagen; ansonsten höre ich lieber gar nichts. Es geschieht im heiligen Vertrauen.“

„Also dann – was sein muss, muss sein“, gab Richard nachgiebig zurück. „Ich habe das Mädchen wirklich geliebt. Ich hätte gewartet, bis ich mein eigener Herr bin, und sie dann zu meiner Ehefrau gemacht, auch wenn es noch Jahre und Jahre gedauert hätte. Sie wissen schon, angesichts des Widerspruchs meines Vaters konnte ich es nicht.“

„Ihre Ehefrau?“, fragte Mr. Carlyle mit einem gewissen Nachdruck.

Richard blickte überrascht drein. „Warum, Sie nehmen doch nicht an, ich hätte etwas anderes gewollt! So ein Schuft wäre ich nicht gewesen.“

„Gut, Richard, fahren Sie fort. Hat sie Ihre Liebe erwidert?“

„Da kann ich mir nicht sicher sein. Manchmal habe ich es gedacht, manchmal nicht; sie hat oft gespielt und Ausflüchte gebraucht, und sie war zu gern mit – ihm – zusammen. Ich hielt sie für launisch – sie sagte mir, ich dürfte diesen Abend nicht kommen und jenen Abend nicht kommen; aber ich fand heraus, dass das die Abende waren, an denen sie ihn erwartete. Wir waren nie beide dort.“

„Sie vergessen, dass sie ‚ihn‘ noch nicht mit einem Namen versehen haben, Richard. Ich weiß nicht, wen sie meinen.“

Richard Hare beugte sich nach vorn, bis seine schwarzen Barthaare Mr. Carlyles Schulter berührten. „Es war dieser verfluchte Thorn.“

Mr. Carlyle erinnerte sich, dass Barbara den gleichen Namen genannt hatte. „Wer war Thorn? Ich habe nie von ihm gehört.“

„Das hat auch sonst niemand in West Lynne, nehme ich an. Darauf hat er geflissentlich geachtet. Er wohnte ein paar Meilen entfernt und pflegte insgeheim herüberzukommen.“

„Um Afy den Hof zu machen?“

„Ja, er ist gekommen, um ihr den Hof zu machen“ gab Richard in wildem Ton zurück. „Die Entfernung war kein Hindernis. Er kam in der Abenddämmerung im Galopp angeritten, band sein Pferd im Wald an einen Baum und verbrachte eine oder zwei Stunden mit Afy. Im Haus, wenn ihr Vater nicht zu Hause war; und wenn er zu Hause war, streifte er mit ihr durch den Wald.

„Kommen Sie zum Kern der Sache, Richard – zu dem Abend.“

„Hallijohns Gewehr war nicht in Ordnung, und er fragte, ob er meines leihen könne. Ich hatte mich an jenem Abend mit Afy bei ihrem Haus verabredet und ging nach dem Essen hin. Das Gewehr hatte ich bei mir. Mein Vater rief mir nach und wollte wissen, wohin ich wollte; ich sagte, ich gehe mit dem jungen Beauchamp aus, weil ich seinen Widerspruch nicht herausfordern wollte; aber die Lüge sprach bei der Untersuchung gegen mich. Als ich bei Hallijohn ankam, ging ich den ganzen Nebenweg an den Feldern entlang und auf dem Pfad durch den Wald, wie ich es üblicherweise tat. Afy kam heraus; sie war wie so manches Mal die Zurückhaltung selbst und sagte mir, sie könne mich nicht empfangen, sondern ich solle wieder nach Hause gehen. Wir hatten darüber einen kleinen Wortwechsel; während wir noch sprachen, kam Locksley vorbei und sah mich mit dem Gewehr in der Hand. Am Ende gab ich nach. Sie konnte mit mir machen, was sie wollte, denn ich betete den Boden an, über den sie ging. Ich gab ihr das Gewehr und sagte ihr, dass es geladen war; sie brachte es nach drinnen und schloss mich aus. Ich ging nicht weg; ich hatte den Verdacht, dass Thorn dort bei ihr war, obwohl sie es mir gegenüber abgestritten hatte; also versteckte ich mich in der Nähe des Hauses zwischen ein paar Bäumen. Wieder kam Locksley vorüber, sah mich dort und wollte lautstark wissen, warum ich mich versteckte. Ich antwortete nicht, sondern zog mich noch weiter zurück – was gingen ihn meine privaten Bewegungen an? Aber auch das sprach bei der Untersuchung gegen mich. Nicht lange danach – vielleicht nach zwanzig Minuten – hörte ich einen Schuss, der aus der Richtung der Hütte zu kommen schien. ‚Da geht jemand noch spät auf Rebhuhnjagd‘, dachte ich. Die Sonne ging nämlich schon unter, und im gleichen Augenblick sah ich Bethel zwischen den Bäumen herauskommen und in Richtung der Hütte laufen. Das war der Schuss, der Hallijohn tötete.“

Eine Pause trat ein. Mr. Carlyle sah Richard im Mondlicht durchdringend an.

„Kurz danach, fast im gleichen Augenblick, so schien es mir, kam jemand keuchend und gehetzt den Weg von der Hütte entlanggelaufen. Es war Thorn. Bei seinem Anblick bin ich erschrocken: Ich hatte nie einen Menschen gesehen, der mehr schieres Entsetzen zeigte. Sein Gesicht wirkte fuchsteufelswild, der Blick durchdringend, und die Lippen waren über die Zähne zurückgezogen. Wäre ich ein kräftiger Mann gewesen, ich hätte ihn sicher angegriffen. Ich war verrückt vor Eifersucht, denn jetzt sah ich, dass Afy mich weggeschickt hatte, um sich mit ihm zu vergnügen.“

„Sie haben doch gesagt, dieser Thorn wäre immer nur in der Abenddämmerung gekommen“, warf Mr. Carlyle ein.

„Das wusste ich bis zu diesem Abend nicht. Ich kann nur sagen, dass er damals dort war. Er lief schnell vorüber, und anschließend hörte ich das Geräusch der Hufe, als sein Pferd davongaloppierte. Ich fragte mich, was geschehen war, dass er so verängstigt aussah und davonrannte, als wäre der Teufel hinter ihm her; ich dachte, er hätte sich vielleicht mit Afy gestritten. Also lief ich zum Haus, sprang die zwei Stufen hoch, und – Carlyle – ich stolperte über Hallijohns hingestreckte Leiche! Er lag auf dem Küchenfußboden – tot. Überall um ihn herum war Blut, und mein kurz zuvor abgefeuertes Gewehr hatte man daneben hingeworfen. Er war in die Seite geschossen worden.“

Richard hielt inne und holte Luft. Mr. Carlyle sagte nichts.

„Ich habe nach Afy gerufen, aber es kam keine Antwort. In dem unteren Zimmer war niemand, und es schien, als wäre auch niemand im oberen. Mich überfiel eine Art Panik, eine Angst. Wissen Sie, zu Hause haben sie immer gesagt, ich sei ein Feigling: Ich hätte keine Minute länger bei dem toten Mann bleiben können, selbst wenn es mir das Leben gerettet hätte. Ich griff nach dem Gewehr und lief davon, da …“

„Warum haben Sie das Gewehr aufgehoben?“, unterbrach ihn Mr. Carlyle.

„Gedanken schießen einem schneller durch den Kopf, als man sie aussprechen kann, insbesondere in solchen Augenblicken“, lautete die Antwort von Richard Hare. „In meinem Kopf blitzte eine unbestimmte Vorstellung auf, dass man mein Gewehr nicht in der Nähe des ermordeten Hallijohn finden sollte. Wie gesagt, ich flüchtete aus der Tür, da kam Locksley genau in meinem Blickfeld aus dem Wald; ich weiß nicht mehr, was mich geritten hat, aber ich tat das Schlimmste, was ich tun konnte: Ich warf das Gewehr wieder nach drinnen und lief davon, obwohl Locksley mir nachrief, ich solle stehen bleiben.“

„Das spricht stärker gegen Sie als alles andere“, bemerkte Mr. Carlyle. „Locksley hat ausgesagt, er hätte gesehen, wie Sie mit dem Gewehr in der Hand die Hütte verlassen haben, und zwar anscheinend in großer Aufregung; und in dem Augenblick, als Sie ihn gesehen haben, hätten sie gezögert wie aus Angst; dann hätten Sie das Gewehr hinter sich geworfen und seien geflohen.“

Richard stampfte mit dem Fuß auf. „Ja; und alles nur wegen meiner verfluchten Feigheit. Sie hätten besser eine Frau aus mir gemacht und mich in Röcken groß gezogen. Aber lassen Sie mich weiter erzählen. Ich traf auf Bethel. Er stand in dem Halbkreis, in dem man die Bäume gefällt hatte. Eines weiß ich jetzt: Wenn Bethel geradewegs in Richtung der Hütte gegangen wäre, hätte er Thorn treffen müssen, als der sie verließ. ‚Haben Sie diesen Hund nicht gesehen?‘, fragte ich ihn. ‚Was für einen Hund?‘, erwiderte Bethel. ‚Diesen sauberen Burschen, diesen Thorn, der hinter Afy her ist‘, antwortete ich, denn in meiner Leidenschaft machte es mir nichts aus, ihren Namen zu erwähnen. ‚Ich kenne keinen Thorn‘, sagte Bethel, ‚und ich kenne auch außer Ihnen niemanden, der hinter Afy her wäre.‘ ‚Haben Sie einen Schuss gehört?‘, fragte ich weiter. ‚Ja, das schon‘, antwortete er; ‚ich nehme an, es war Locksley, denn der treibt sich heute Abend hier herum.‘ ‚Und ich habe gesehen‘, fuhr ich fort, ‚wie Sie gerade in dem Augenblick, als der Schuss abgefeuert wurde, um die Ecke in Richtung von Hallijohn gebogen sind.‘ ‚Das stimmt‘, sagte er, ‚aber nur um ein paar Schritte in den Wald zu gehen. Worauf wollen Sie hinaus?‘ ‚Ist Thorn Ihnen nicht begegnet, wie er von der Hütte weggelaufen ist?“, beharrte ich. ‚Mir ist niemand begegnet‘, sagte er, ‚und ich glaube auch nicht, dass außer uns und Locksley jemand in der Nähe ist.‘ Ich habe ihn stehen lassen und mich aus dem Staub gemacht“, schloss Richard Hare. „Er hatte Thorn offensichtlich nicht gesehen und wusste nichts.“

„Und dann haben Sie sich in der gleichen Nacht davongemacht, Richard; das war ein verheerender Schritt.“

„Ja, ich war ein Dummkopf. Ich hätte in aller Stille bleiben und abwarten sollen, wie sich die Dinge entwickeln; aber Sie wissen noch nicht alles. Drei oder vier Stunden später ging ich noch einmal zu dem Häuschen, und es gelang mir, eine Minute mit Afy zu sprechen. Das werde ich nie vergessen; bevor ich auch nur eine Silbe sagen konnte, flüchtete sie vor mir, beschuldigte mich, ich sei der Mörder ihres Vaters, und stürzte draußen hysterisch ins Gras. Der Lärm lockte die Leute aus dem Haus an – inzwischen waren viele dort – und ich zog mich zurück. ‚Wenn sie mich für schuldig halten kann, wird die ganze Welt mich für schuldig halten‘, das war meine Überlegung; in dieser Nacht bin ich sofort verschwunden. Ich wollte einen oder zwei Tage in einem Versteck bleiben, bis mir mein weiterer Weg klar war, aber er wurde mir niemals klar; die Untersuchung des Coroners fand statt, und nach dem Urteil war ich am Boden zerstört. Und Afy – aber ich will sie nicht verfluchen – fachte die Flamme weiter an, indem sie leugnete, dass in jener Nacht jemand bei ihr gewesen war. Sie sagte, sie sei zu Hause gewesen und aus der Hintertür auf den Weg von West Lynne gegangen; dort habe sie herumgelungert, als sie den Schuss hörte. Fünf Minuten später kehrte sie ins Haus zurück fand Locksley vor, der über ihrem toten Vater stand.“

Mr. Carlyle schwieg immer noch. Im Kopf ging er schnell die wichtigsten Punkte von Richard Hares Bericht durch. „Wenn ich es richtig verstehe, waren Sie insgesamt zu viert in der Nähe der Hütte, und zweifellos hat einer davon geschossen. Sie sagen, sie wären ein Stück entfernt gewesen, Richard; auch Bethel konnte nicht …“

„Bethel hat es nicht getan“, unterbrach ihn Richard. „Das wäre unmöglich. Wie ich Ihnen gesagt habe, habe ich ihn in dem gleichen Augenblick gesehen, in dem das Gewehr abgefeuert wurde.“

„Aber wo war Locksley?“

„Dass Locksley es war, ist ebenfalls unmöglich. Er stand zur gleichen Zeit in meinem Blickfeld im rechten Winkel von mir tief im Wald, weit entfernt von den Wegen. Die Tat wurde von Thorn begangen, das steht ohne jeden Zweifel fest, und das Urteil gegen ihn hätte auf vorsätzlichen Mord lauten müssen. Carlyle, ich sehe schon, Sie glauben mir meine Geschichte nicht.“

„Was Sie sagen, hat mich erschreckt; ich muss mir Zeit nehmen und überlegen, ob ich es glaube oder nicht“, sagte Mr. Carlyle in seiner unverblümten Art. „Vor allem lautet die Frage: Wenn Sie Zeuge geworden sind, wie Thorn in der von Ihnen beschriebenen Weise von der Hütte weglief, warum haben Sie sich dann nicht gemeldet und ihn angezeigt?“

„Das habe ich nicht getan, weil ich ein Dummkopf war, ein schwacher Feigling, wie schon immer in meinem Leben“, gab Richard zurück. „Ich kann nicht anders; ich bin so geboren und werde so ins Grab sinken. Was hätte ich mit meiner Aussage, dass es Thorn war, ausrichten können, wenn es niemanden gab, der es bestätigt hätte? Und das abgeschossene Gewehr – mein Gewehr – war ein vernichtender Beweis gegen mich.“

„Mir kommt etwas anderes seltsam vor“, rief Mr. Carlyle. „Wenn dieser Mann, dieser Thorn, die Gewohnheit hatte, Abend für Abend nach West Lynne zu kommen, wie kann es dann sein, dass er nie beobachtet wurde? Ich höre jetzt zum ersten Mal den Namen eines Fremden im Zusammenhang mit der ganzen Angelegenheit oder mit Afy.“

„Thorn wählte Nebenstraßen und mit einer einzigen Ausnahme kam er immer in der Abenddämmerung und im Dunkeln. Für mich lag damals auf der Hand, dass er bestrebt war, es geheim zu halten. Das sagte ich auch Afy und dass es kein gutes Vorzeichen für sie war. Sie werden dem, was ich sage, keine Glaubwürdigkeit beimessen, und ich hatte auch nichts anderes erwartet; dennoch schwöre ich, dass ich die Tatsachen berichtet habe. So sicher wie wir alle – ich, Thorn, Afy und Hallijohn – eines Tages gemeinsam vor unseren Schöpfer treten müssen, so sicher habe ich Ihnen die Wahrheit gesagt.“

Es waren feierliche Worte, ihr Ton war ernst. Mr. Carlyle blieb stumm, den Kopf voller Gedanken.

„Zu welchem Zweck soll ich es sonst überhaupt sagen?“, fuhr Richard fort. „Es wird mir nichts nützen; alle Behauptungen, die ich vorbringen könnte, würden kein bisschen dazu beitragen, mich reinzuwaschen.“

„Nein, das würden sie nicht“, stimmte Mr. Carlyle zu. „Wenn Sie überhaupt reingewaschen werden können, dann nur durch Beweise. Aber … ich werde die Angelegenheit weiterhin im Kopf behalten, und wenn sich irgendetwas ergibt … Was für ein Mann war dieser Thorn eigentlich?“

„Vielleicht dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre alt, groß und schlank; ein Aristokrat durch und durch.“

„Und seine Verhältnisse? Wo wohnte er?“

„Das habe ich nie erfahren. Afy sagte auf ihre prahlerische Weise, er komme aus Swainson, ein Ritt von zehn Meilen.“

„Aus Swainson?“ unterbrach Mr. Carlyle ihn schnell. „Könnte er einer der Thorns von Swainson sein?“

„Keiner von den Thorns, die ich kenne. Er war ein ganz anderer Typ von Mann mit seinen parfümierten Händen, den Ringen und den eleganten Handschuhen. Dass er ein Aristokrat war, glaube ich, allerdings einer von schlechtem Geschmack und Stil, denn er stellte eine Fülle von Schmuckstücken zur Schau.“

Ein verstohlenes Lächeln glitt über Carlyles Gesicht.

„War der Schmuck echt, Richard?“

„Allerdings. Er trug Manschettenknöpfe mit Diamanten, Dia­mantringe, Diamantennadeln; Brillanten, alle vom reinsten Wasser. Ich hatte den Eindruck, er legte sie an, um Afy den Kopf zu verdrehen. Einmal sagte sie mir, wenn sie wolle, könne sie eine große Lady sein, größer als ich sie jemals machen könnte. ‚Eine Gaunerlady vielleicht, aber eine Dame niemals‘, habe ich geantwortet. Thorn war nicht der Mann, der gegenüber einer Frau in Afy Hallijohns Stellung ehrliche Absichten gehabt hätte; aber Mädchen sind so einfältig wie Gänse.“

„Nach Ihrer Beschreibung kann es keiner von den Thorns aus Swainson gewesen sein. Das sind wohlhabende Kaufleute, Väter junger Familien, klein, stämmig, schwer wie Holländer, solide und höchst angesehen. Sehr unwahrscheinlich, dass sie eine solche Unternehmung in Angriff nehmen.“

„Was für eine Unternehmung?“, fragte Richard. „Den Mord?“

„Hinter Afy her zu sein. Richard, wo ist eigentlich Afy?“

Richard Hare hob überrascht den Blick. „Woher soll ich das wissen? Das wollte ich Sie gerade fragen.“

Mr. Carlyle hielt inne. Er hielt Richards Antwort für eine Ausflucht. „Sie ist unmittelbar nach der Beerdigung verschwunden; und man glaubte – kurz gesagt, Richard, in der Nachbarschaft hat man ihr zugetraut, dass sie Ihnen gefolgt ist und sich mit Ihnen zusammengetan hat.“

„Nein! Haben die Leute das wirklich geglaubt? Was für ein Haufen Idioten! Carlyle, ich habe seit dieser unglückseligen Nacht nichts mehr von ihr gesehen oder gehört. Wenn sie überhaupt hinter jemandem her war, dann hinter Thorn.“

„Sah der Mann gut aus?“

„Ich nehme an, alle Welt würde es so nennen. Afy meinte, so einen Adonis habe es außer im Märchen noch nie gegeben. Er hatte glänzende schwarze Haare und einen schwarzen Schnurrbart, dunkle Augen und ebenmäßige Gesichtszüge. Aber seine eitle Stutzerhaftigkeit verdarb alles; würden Sie glauben, dass seine Taschentücher mit Parfum getränkt waren? Sie waren aus dem feinsten Batist, seidig wie Haare und so fein wie das, was Barbara in Lynneborough für eine Guinee gekauft hat. Nur hatte ihres noch eine gestickte Borte rundherum.“

Weitere Einzelheiten konnte Mr. Carlyle nicht in Erfahrung bringen, und es wurde Zeit, dass Richard sich ins Haus begab. Sie gingen den Weg hinauf. „Was ist es doch für ein Segen, dass die Fenster der Dienstboten nicht in diese Richtung weisen“, schauderte Richard, der sich dicht an Mr. Carlyles Fersen geheftet hatte. „Wenn die oben aus dem Fenster schauen würden!“

Seine Befürchtungen waren unbegründet, und er gelangte ungesehen hinein.

Damit war Mr. Carlyles Aufgabe erfüllt; er überließ den armen, verbannten Flüchtling dem kurzen Gespräch mit seiner hysterischen, in Tränen aufgelösten Mutter. Richard war nahezu ebenso hysterisch wie sie und tat auf dem Heimweg das Beste, was er tun konnte: Er grübelte über alles nach, was er gehört hatte.

Die Friedensrichter machten sich einen schönen Abend. Mr. Carlyle bewirtete sie mit einem Abendessen – Hammelkoteletts, Brot und Käse. Als die Mahlzeit vorüber war, nahmen sie noch einmal die Pfeifen zur Hand, aber Miss Carlyle zog sich zurück und ging zu Bett. Sie war seit dem Tod des Vaters nicht mehr an Rauch gewöhnt; jetzt hatte sie Kopfschmerzen, und ihre Augen tränten. Gegen elf Uhr wünschten alle Mr. Carlyle eine gute Nacht und gingen; nur Mr. Dill gehorchte einem Nicken seines Vorgesetzten und blieb.

„Setzen Sie sich einen Augenblick, Dill; ich möchte Sie etwas fragen. Sie sind doch gut mit den Thorns aus Swainson bekannt; haben die zufällig einen Verwandten, einen Neffen oder Cousin vielleicht, der ein geckenhafter junger Bursche ist?“

„Ich war letzten Sonntag vor zwei Wochen drüben und habe den Tag mit dem jungen Jacob verbracht“, lautete Mr. Dills Antwort, die etwas ausführlicher war als sonst üblich. Mr. Carlyle lächelte.

„Mit dem jungen Jacob! Ich nehme an, er ist mindestens vierzig.“

„So ungefähr. Sie und ich, wir schätzen das Alter unterschiedlich ein, Mr. Archibald. Aber einen Neffen haben sie nicht; der alte Herr hatte nie mehr als diese zwei Kinder Jacob und Edward. Und einen Cousin haben sie auch nicht. Allmählich werden sie zu reichen Männern. Jacob hat sein Schäfchen im Trockenen.“

Mr. Carlyle grübelte. Er hatte mit der Antwort gerechnet, hatte er doch nie davon gehört, dass die Brüder Thorn – Gerber, Lederzurichter und Sattler – einen Verwandten gleichen Namens hätten. „Dill“, sagte er, „es hat sich etwas ergeben, was nach meinem Dafürhalten einen Zweifel auf Richard Hares Schuld wirft. Ich frage mich, ob er überhaupt etwas mit dem Mord zu tun hat.“

Mr. Dill riss die Augen auf. „Aber seine Flucht, Mr. Archibald, und die Tatsache, dass er sich abgesetzt hat?“

„Verdächtige Umstände, zugegeben. Dennoch habe ich stichhaltige Gründe, zu zweifeln. Zu der Zeit, als es geschah, kam regelmäßig irgendein Stutzer und machte Afy Hallijohn heimlich den Hof; er wird als großer, schlanker Mann beschrieben, der den Namen Thorn trug und in Swainson wohnte. Könnte das jemand aus der Familie Thorn gewesen sein?“

„Mr. Archibald!“, protestierte der alte Bürovorsteher. „Als ob diese beiden angesehenen Gentlemen mit ihren Ehefrauen und Babys dieser flatterhaften Afy nachgestellt hätten!“

„An sie habe ich nicht gedacht“, gab Mr. Carlyle zurück. „Das war ein junger Mann, dreiundzwanzig oder vierundzwanzig und einen Kopf größer als die beiden. Ich hatte geglaubt, es könne vielleicht ein Verwandter sein.“

„Ich habe sie wiederholt sagen hören, sie seien allein auf der Welt und die beiden Letzten mit diesem Namen. Mit denen stand niemand in Verbindung, darauf können Sie sich verlassen.“ Er wünschte Mr. Carlyle eine gute Nacht und ging hinaus.

Ein Diener räumte die Gläser und die stinkenden Pfeifen weg. Mr. Carlyle war in Gedanken versunken; schließlich blickte er zu dem Mann hinüber.

„Ist Joyce zu Bett gegangen?“

„Nein, Sir. Sie steht gerade erst im Begriff.“

„Schicken Sie sie her, wenn sie diese Dinge weggebracht haben.“

Joyce – die oberste Dienerin von Miss Carlyle – kam herein. Sie war von mittlerer Größe und würde das fünfunddreißigste Lebensjahr nicht mehr wiedersehen; ihre Stirn war breit, die grauen Augen lagen tief, und das Gesicht war blass. Insgesamt sah sie einfach, aber vernünftig aus. Sie war die Halbschwester von Afy Hallijohn.

„Schließen Sie die Tür, Joyce.“

Joyce tat wie geheißen, trat vor und stellte sich neben den Tisch.

„Haben Sie irgendetwas von Ihrer Schwester gehört, Joyce?“, begann Mr. Carlyle ein wenig abrupt.

„Nein, Sir“ antwortete sie. „Ich denke, es wäre auch ein Wunder, wenn ich etwas von ihr hören würde.“

„Warum das?“

„Wenn sie hinter Richard Hare her wäre, der ihren Vater ins Grab gebracht hat, würde sie sich und alles, was sie tut, wahrscheinlich verstecken und mir nicht bekannt machen, Sir.“

„Wer war der andere, dieser elegante Gentleman, der hinter ihr her war?“

Die Farbe wich aus Joyces Wangen, und sie senkte die Stimme.

„Sir! Sie haben davon gehört?“

„Damals nicht, aber später. Er kam aus Swainson, nicht wahr?“

„Ich glaube schon, Sir. Afy hat nie viel über ihn erzählt. In dem Punkt waren wir uns nicht einig. Ich habe gesagt, eine Person von seinem Rang wäre nicht gut für sie; und wenn ich etwas gegen ihn gesagt habe, ist Afy weggelaufen.“

Mr. Carlyle fragte weiter. „Sein Rang. Was für einen Rang bekleidete er?“

„Afy hat geprahlt, er sei fast so etwas wie ein Lord; und so sah er auch aus. Ich habe ihn nur einmal gesehen; ich war früher nach Hause gekommen, und da saß er mit Afy. Seine weißen Hände glitzerten von den ganzen Ringen, und sein Hemd war mit prächtigen Steinen besetzt, wo eigentlich die Knöpfe sein müssten.“

„Haben Sie ihn seitdem noch einmal gesehen?“

„Seitdem nicht mehr, außer einmal; und ich glaube, ich würde ihn auch nicht wiedererkennen, wenn ich ihn sehen würde. Sir, er ist aufgestanden, sobald ich in den Salon getreten bin, hat Afy die Hand gegeben und ist gegangen. Ein nobler, aufrechter Mann war er, fast so groß wie Sie, Sir, aber sehr schlank. Diese Soldaten halten sich immer sehr gut.“

„Woher wissen Sie, dass er Soldat war?“, fragte Mr. Carlyle.

„Das hat Afy mir gesagt. Sie hat ihn den ‚Captain‘ genannt; aber sie hat gesagt, er sei noch nicht ganz Captain, sondern … der nächste Rang, ein … ein …“

„Lieutenant?“, schlug Mr. Carlyle vor.

„Ja, Sir, das war es – Lieutenant Thorn.“

„Joyce“, sagte Mr. Carlyle, „ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass Afy vielleicht nicht Richard Hare gefolgt ist, sondern dem Lieutenant Thorn?“

„Nein, Sir“, antwortete Joyce. „Ich war mir immer sicher, dass sie mit Richard Hare zusammen war, und davon kann mich nichts abbringen. Ganz West Lynne ist davon überzeugt.“

Mr. Carlyle unternahm nicht den Versuch, sie „davon abzubringen“. Er entließ sie, blieb allein sitzen und drehte den Fall mit allen seinen Aspekten in Gedanken hin und her.

Das kurze Gespräch zwischen Richard Hare und seiner Mutter war schnell zu Ende. Es dauerte nur ungefähr eine Viertelstunde, denn beide fürchteten Unterbrechungen durch die Dienstboten; mit hundert Pfund in der Tasche und Verzweiflung im Herzen verließ der unglückselige junge Mann wieder einmal das Zuhause seiner Kindheit. Mrs. Hare und Barbara sahen zu, wie er sich im verräterischen Mondlicht den Pfad entlangschlich und schließlich die Straße erreichte. Beide hatten das Gefühl, die Abschiedsküsse, die sie ihm auf die Lippen gedrückt hatten, würden jahrelang nicht erneuert werden, ja vielleicht sogar überhaupt nicht mehr.

Das Geheimnis von East Lynne

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