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Kapitel 11 Der neue Lord und die Banknote

Am Sonntagnachmittag war zu sehen, wie eine Kutsche den Zufahrtsweg heraufdonnerte. In ihr saß Lord Mount Severn, der neue Earl. Die direkte Bahnlinie von Castle Marling hatte ihn nur bis auf fünf Meilen an West Lynne herangebracht, und von dort war er in einer Mietdroschke gereist. Wenig später gesellte sich Mr. Carlyle zu ihm, und fast zur gleichen Zeit traf auch Mr. Warburton aus London ein. Er war nicht in der Stadt gewesen, als der Earl starb, und hatte sich deshalb nicht früher darum kümmern können. Man kam sofort auf das Geschäftliche zu sprechen.

Der jetzige Earl wusste, dass sein Vorgänger in Schwierigkeiten gewesen war, aber vom Ausmaß des Übels hatte er keinerlei Vorstellung; die beiden hatten keine enge Beziehung gepflegt und waren nur selten zusammengetroffen. Als man ihm jetzt die verschiedenen Nachrichten im Einzelnen darlegte – die Geldverschwendung, den katastrophalen Ruin, das völlige Fehlen einer Versorgung für Isabel –, war er versteinert und entgeistert. Er war ein großer, kräftiger Mann von dreiundvierzig Jahren, ehrbarem Wesen, kühlen Manieren und starker Selbstbeherrschung.

„Das ist die ungeheuerlichste geschäftliche Mitteilung, die ich je erhalten habe!“, sagte er aufgeregt zu den beiden Anwälten. „Unter allen rücksichtslosen Dummköpfen muss Mount Severn der Schlimmste gewesen sein.“

„Von unverzeihlicher Sorglosigkeit, was seine Tochter betrifft“, lautete die zustimmende Antwort.

„Sorglosigkeit! Es muss schierer Wahnsinn gewesen sein“, gab der Earl zurück. „Kein Mensch, der bei Sinnen ist, würde ein Kind so der Gnade der Welt ausliefern, wie er es getan hat. Sie hat keinen Schilling – buchstäblich kein Schilling befindet sich in ihrem Besitz. Ich habe ihr die Frage gestellt, wie viel Geld im Haus war, als der Earl starb. Zwanzig oder fünfundzwanzig Pfund, hat sie geantwortet, und die habe sie Mason gegeben, weil sie für die Haushaltsführung gebraucht wurden. Wenn das Mädchen nur einen Yard Kleiderband haben will, besitzt sie keinen Penny, um es zu bezahlen! Kann man sich so etwas wirklich vorstellen? Ich verwette meine Wahrheitsliebe, dass so etwas noch nie vorgekommen ist.“

„Kein Geld für ihre persönlichen Bedürfnisse!“, rief Mr. Carlyle.

„Keinen halben Penny auf der ganzen Welt. Und soweit ich sehen kann, gibt es keine Vermögenswerte, auf die sie zurückgreifen könnte, und es wird auch keine geben.“

„Ganz richtig, Mylord“, nickte Mr. Warburton. „Die Anwesen des Familienvermögens gehen an Sie, und wenn noch Kleinigkeiten an persönlichem Eigentum übrig sind, werden sich die Gläubiger darum kümmern.“

„Ich habe gehört, dass East Lynne Ihnen gehört“, rief der Earl, wobei er sich abrupt zu Mr. Carlyle wandte. „Das hat Isabel gerade gesagt.“

„Es stimmt“, lautete die Antwort. „Es ist letzten Juni in meinen Besitz übergegangen. Ich glaube, seine Lordschaft hat die Tatsache streng geheim gehalten.“

„Er war verpflichtet, sie geheim zu halten“, warf Mr. Warburton, an Lord Mount Severn gerichtet, ein. „Er hätte keinen Penny von dem Kaufpreis in die Hand bekommen, wenn es sich herumgesprochen hätte. Die Tatsache wurde niemandem mitgeteilt außer uns selbst und Mr. Carlyles Rechtsvertretern.“

„Es ist seltsam, Sir, dass Sie dem Earl nicht dringlich die Ansprüche seines Kindes deutlich gemacht haben“, gab der neue Earl zu Mr. Warburton in einem Ton des energischen Tadels zurück. „Sie waren seine Vertrauensperson; sie kannten seine Vermögensverhältnisse; es hätte in Ihrem Verantwortungsbereich gelegen, das zu tun.“

„Da wir seine Vermögensverhältnisse kannten, Mylord, wussten wir, wie nutzlos ein solches Drängen gewesen wäre“, erwiderte Mr. Warburton. „Eure Lordschaft hat nur eine vage Vorstellung davon, welche Lasten auf Lord Mount Severn lagen. Allein die Zinsen für seine Schulden waren beängstigend – um sie einzutreiben, wäre das Werk eines Teufels notwendig gewesen. Ganz zu schweigen von den Kellerwechseln, die er ausgestellt hat; er ließ sie steigen wie Drachen, und niemand konnte ihn aufhalten; aber sie mussten bezahlt werden.“

„Ach, ich weiß“, erwiderte der Earl mit einer verächtlichen Geste. „Einen Wechsel ziehen, um damit einen anderen zu bezahlen. Das war sein System.“

„Ziehen!“, wiederholte Mr. Warburton. „Er hätte noch einen Wechsel auf die Aldgate Pump1 gezogen. Das war bei ihm eine regelrechte Manie.“

„Erzwungen durch die Notwendigkeiten, nehme ich an“, warf Mr. Carlyle ein.

„Er hat keine Geschäfte betrieben, durch die sich solche Notwendigkeiten ergeben hätten, Sir“, rief der Earl zornig. „Aber kehren wir zum Geschäftlichen zurück. Wie viel Geld liegt bei seiner Bank, Mr. Warburton? Wissen Sie das?“

„Keines“, war die unverblümte Antwort. „Wir haben selbst vor zwei Wochen das Konto überzogen, um seine dringendsten Verbindlichkeiten zu befriedigen. Ein wenig haben wir noch; und wenn er eine oder zwei Wochen länger gelebt hätte, wären die Mieten für den Herbst eingezahlt worden – allerdings hätte man sie auch ebenso schnell wieder auszahlen müssen.“

„Ich bin froh, dass da etwas ist. Wie hoch ist die Summe?“

„Mylord“, antwortete Mr. Warburton, wobei er selbst mitleidig den Kopf wiegte, „zu meinem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass das, was wir verwalten, nicht einmal die Hälfte unserer eigenen Ansprüche deckt; wir haben das Geld eigentlich aus unserer eigenen Tasche bezahlt.“

„Woher um alles in der Welt soll dann Geld kommen, Sir? Für die Trauerfeierlichkeiten – für die Löhne der Dienstboten – eigentlich für alles?“

„Es wird nichts von irgendwoher kommen“, lautete Mr. Warburtons Antwort.

Lord Mount Severn schritt energischer über den Teppich. „Verfluchter Leichtsinn! Schändliche Verschwendung! was für ein hartherziger Mann! Als Wüstling leben und als Bettler sterben – und seine Tochter der Nächstenliebe von Fremden überlassen!“

„Ihr Schicksal ist der schlimmste Aspekt des Ganzen“, bemerkte Mr. Carlyle. „Wo soll sie wohnen?“

„Sie muss natürlich bei mir ihre Wohnung finden“, erwiderte seine Lordschaft, „und ich hoffe, das wird ein besseres Zuhause sein als dieses hier. Mit den ganzen Schulden und Mahnungen am Hals kann das Leben im Haus von Mount Severn kein Zuckerschlecken gewesen sein.“

„Ich gehe davon aus, dass sie nichts vom Stand der Dinge wusste und von den Unannehmlichkeiten wenig oder gar nichts mitbekommen hat“, erwiderte Mr. Carlyle.

„Unsinn!“, sagte der Earl.

„Mr. Carlyle hat recht, Mylord“, erklärte Mr. Warburton und blickte dabei über den Rand seiner Brille. „Lady Isabel war auf Mount Servern bis zum Frühjahr in Sicherheit, und der Erlös aus dem Verkauf von East Lynne – jedenfalls der Teil davon, dessen der Earl habhaft werden konnte – war für viele Dinge ein Notstopfen und machte die Sache für den Augenblick leichter. Jedenfalls hat sein Leichtsinn jetzt ein Ende.“

„Nein, er hat kein Ende“ gab Lord Mount Severn zurück. „Er hinterlässt seine Auswirkungen. Wie ich höre, hat es gestern Morgen eine hübsche Szene gegeben; einige der unglückseligen Halunken, mit denen er sich eingelassen hat, sind den ganzen Weg aus London gekommen und hier aufgetaucht.“

„Ach, die Hälfte von ihnen sind Juden“, sagte Mr. Warburton verächtlich. „Wenn die ein wenig verlieren, wird es für sie eine angenehme Neuerung sein.“

„Juden haben ebenso viel Recht auf ihr Eigentum wie wir, Mr. Warburton“, lautete die verärgerte Entgegnung des Peer. „Und wenn sie Türken und Ungläubige wären, es würde Mount Severns Praktiken nicht entschuldigen. Isabel sagt, Sie seien derjenige gewesen, Mr. Carlyle, dem es gelungen ist, sie loszuwerden.“

„Indem ich sie überzeugt habe, dass East Lynne und sein Inventar mir gehören. Aber da sind noch diese beiden Männer in der oberen Etage, und die sind in Besitz von … von ihm; die konnte ich nicht loswerden.“

Der Earl sah ihn an. „Ich verstehe Sie nicht.“

„Wissen Sie nicht, dass sie den Leichnam beschlagnahmt haben?“, fragte Mr. Carlyle, wobei er die Stimme senkte. „Zwei Männer haben sich gestern Morgen bei ihm postiert wie Wächter. Und ich höre, es ist noch ein Dritter im Haus, der die beiden anderen ablöst, damit sie hinunter in die Diele gehen und etwas essen können.“

Der Earl war nahe bei Mr. Carlyle stehen geblieben, den Mund geöffnet, sein Gesicht der schiere Ausdruck der Verblüffung. „Bei George!“ – das war alles, was Mr. Warburton murmelte, während er seine Brille herunterriss.

„Mr. Carlyle, verstehe ich Sie richtig – der Leichnam des verstorbenen Earl wurde wegen einer Schuld beschlagnahmt?“, erkundigte sich der Peer gewichtig. „Einen Toten beschlagnahmen! Wache ich oder träume ich?“

„Genau das haben sie getan. Sie sind mit einer List in das Zimmer gelangt.“

„Ist es möglich, dass solche hinterhältigen Transaktionen nach unserem Gesetz zulässig sind?“, stieß der Earl hervor. „Einen Toten festnehmen! So etwas habe ich noch nie gehört. Ich bin über alle Maßen schockiert. Isabel hat etwas über zwei Männer gesagt, daran erinnere ich mich; aber sie war voller Kummer und ganz und gar aufgeregt, so dass ich nur die Hälfte von dem verstanden habe, was sie über das Thema gesagt hat. Was also ist zu tun? Können wir ihn nicht bestatten?“

„Ich fürchte, nein. Wie die Haushälterin mir heute Morgen gesagt hat, fürchtet sie, dass die beiden nicht einmal zulassen werden, dass der Sarg geschlossen wird. Und das sollte mit aller gebotenen Geschwindigkeit geschehen.“

„Das ist ja entsetzlich!“, murmelte der Earl.

„Wer hat das getan – wissen Sie das?“, erkundigte sich Mr. Warburton.

„Jemand namens Anstey“, erwiderte Mr. Carlyle. „Ich habe es in Abwesenheit sämtlicher Familienmitglieder auf mich genommen, dem Zimmer einen Besuch abzustatten und die Legitimation der Männer zu überprüfen. Die Forderung beläuft sich auf etwa dreitausend Pfund.“

„Wenn es Anstey war, dann handelt es sich um persönliche Schulden des Earl, echte Schulden, jedes einzelne Pfund“, stellte Mr. Warburton fest. „Ein scharfsinniger Mann, dieser Anstey, dass er auf einen solchen Plan gekommen ist.“

„Und ein schamloser, skandalöser Mann“, fügte Lord Mount Severn hinzu. „Nun, das ist ja ein schöner Schlamassel. Was können wir tun?“

Während sie beraten, wenden wir uns kurz Lady Isabel zu. Sie saß allein und in größter Verwirrung da und litt tiefsten Kummer. Lord Mount Severn hatte ihr freundlich und voller Zuwendung zu verstehen gegeben, dass sie von jetzt an ihr Zuhause mit ihm und seiner Frau teilen müsse. Isabel hatte ein schwaches „danke“ zurückgegeben, aber sobald er sie verlassen hatte, war sie in Krämpfe widerspenstiger Tränen ausgebrochen. „Das Zuhause mit Mrs. Vane teilen!“, sagte sie zu ihrem eigenen Herzen. Nein, niemals; lieber würde sie sterben – lieber würde sie eine Brotrinde essen und Wasser trinken – und so weiter, und so weiter. Junge Damen neigen manchmal ein wenig dazu, in solchen Flügen der Fantasie zu schwelgen; in den meisten Fällen sind diese aber nicht praktikabel und töricht – und das galt im Fall von Lady Isabel Vane ganz besonders. Für den Lebensunterhalt arbeiten? Das mag in der Theorie durchaus praktikabel erscheinen; aber Theorie und Praxis sind Gegensätze wie Hell und Dunkel. Es war eine schlichte Tatsache: Isabel hatte keinerlei Alternative und musste sich damit abfinden, mit Lady Mount Severn zusammenzuleben; und die Überzeugung, dass es so sein mochte, schlich sich in ihre Gedanken, auch wenn ihre eiligen Lippen noch behaupteten, sie werde es nicht tun.

Schließlich konnte Mr. Carlyle die Totenwächter von der Sinnlosigkeit ihres Vorhabens überzeugen, und sie gaben den Leichnam frei. An der Bestattung nahmen nur zwei Trauergäste teil: der Earl und Mr. Carlyle. Letzterer war kein Angehöriger des Verstorbenen, sondern nur ein Freund aus sehr junger Zeit; aber der Earl hatte ihn eingeladen, vermutlich weil er den Aufmarsch und das Drumherum des Kummers nicht allein ertragen mochte. Einige Angehörige des Landadels dienten als Sargträger, und ihnen folgten viele private Kutschen.

Am nächsten Morgen herrschte große Geschäftigkeit. Der Earl sollte abreisen, Isabel sollte ebenfalls abreisen, aber nicht mit ihm zusammen. Im Laufe des Tages würden sich die Dienstboten zerstreuen. Der Earl wollte eilig nach London, und der Wagen, der ihn zum Bahnhof von West Lynne bringen würde, stand bereits vor der Tür, als Mr. Carlyle eintraf.

„Ich war schon ganz nervös und fürchtete, Sie würden nicht hier sein, denn ich habe nur noch knapp fünf Minuten“, bemerkte der Earl, als sie sich die Hand gaben. „Sie sind sicher, dass Sie alle Anweisungen hinsichtlich des Grabsteins verstanden haben?“

„Vollkommen“, erwiderte Mr. Carlyle. „Wie geht es Lady Isabel?“

„Ich fürchte, sie ist sehr mutlos, das arme Kind, denn sie hat nicht mit mir gefrühstückt“, erwiderte der Earl. „Mason hat mir im Vertrauen gesagt, sie habe Krämpfe vor Kummer. Er war ein schlechter Mensch, der Mount Severn, ein wirklich schlechter Mensch“, fügte er leidenschaftlich hinzu, während er sich erhob und die Glocke betätigte.

„Richten Sie Lady Isabel aus, dass ich reisefertig bin und auf sie warte“, sagte er zu der Dienerin, die auf das Läuten erschien. „Und während sie kommt, Mr. Carlyle“, fügte er hinzu, „gestatten Sie mir, meinen Dank zum Ausdruck zu bringen. Wie ich in dieser besorgnis­erregenden Angelegenheit ohne Sie zu Recht gekommen wäre, kann ich mir nicht vorstellen. Denken Sie daran, Sie haben versprochen, mir einen Besuch abzustatten, und damit rechne ich schon sehr bald.“

„Versprochen unter einer Bedingung – nämlich dass ich gerade in ihrer Nachbarschaft bin“, lächelte Mr. Carlyle. „Sollte ich …“

Isabel trat ein. Sie war ebenfalls reisefertig gekleidet, denn sie sollte unmittelbar nach dem Earl das Haus verlassen. Der Trauerschleier hing über ihrem Gesicht, aber sie zog ihn zurück.

„Meine Zeit ist um, Isabel, ich muss fahren. Möchtest du mir noch irgendetwas sagen?“

Sie öffnete die Lippen und wollte sprechen, warf aber einen Blick zu Mr. Carlyle und zögerte. Er stand am Fenster und wandte ihr den Rücken zu.

„Ich glaube nicht“, sagte der Earl und antwortete sich damit selbst. Er war in Eile wie viele Menschen, die am Anfang einer Reise stehen. „Du wirst keinerlei Schwierigkeiten haben, mein Liebes; denke nur daran, gegen Mittag einige Erfrischungen zu dir zu nehmen, denn du wirst nicht vor dem Abendessen in Castle Marling sein. Sage Mrs. Va… sage Lady Mount Severn, dass ich keine Zeit hatte ihr zu schreiben, aber ich werde es in London nachholen.“

Isabel stand in einer Haltung der Unsicherheit vor ihm – oder man könnte auch sagen: der Erwartung. Ihre Gesichtsfarbe wechselte.

„Was ist, willst du mir etwas sagen?“

Sie wollte ihm sicher etwas sagen, aber sie wusste nicht, wie. Es war für sie ein peinlicher, ungeheuer schmerzlicher Augenblick, und die Gegenwart von Mr. Carlyle trug nicht dazu bei, ihn abzumildern. Letzterer hatte keine Ahnung, dass seine Anwesenheit unerwünscht war.

„Du lieber Himmel, Isabel! Ich erkläre, dass ich es völlig vergessen hatte“, rief der Earl in verdrießlichem Ton. „Ich bin es nicht gewohnt – es ist so eine neue Sichtweise für die Angelegenheit …“ Er brach mit seinen zusammenhanglosen Worten ab, knöpfte den Mantel auf, zog seine Geldbörse heraus und dachte über ihren Inhalt nach.

„Isabel, ich bin selbst sehr knapp bei Kasse und habe kaum mehr als ich für den Weg nach London brauche. Drei Pfund müssen erst einmal genügen, mein Liebes. Wenn du in Castle Marling bist – für die Reise reicht das Geld –, wird Lady Mount Severn dich versorgen; aber du musst es ihr sagen, sonst weiß sie es nicht.“

Während er sprach, holte er einige Münzen aus seiner Börse und legte zwei Sovereigns sowie zwei halbe Sovereigns auf den Tisch. „Lebewohl, mein Liebes; machʼ es dir in Castle Marling gemütlich. Ich werde bald zu Hause sein.“

Er ging mit Mr. Carlyle aus dem Zimmer, stand noch eine Minute, den Fuß auf dem Trittbrett des Wagens, im Gespräch mit diesem und fuhr wenig später davon. Mr. Carlyle kehrte in das Frühstückszimmer zurück, wo Isabel, auf deren Wangen ein aschfarbenes Weiß an die Stelle des Rot getreten war, die Münzen einsammelte.

„Würden Sie mir einen Gefallen tun, Mr. Carlyle?“

„Ich würde alles für Sie tun, was ich kann.“

Sie schob ihm einen Sovereign und dann noch einen halben hin. „Das ist für Mr. Kane. Ich habe Marvel gesagt, sie soll hingehen und ihn bezahlen, aber anscheinend hat sie es vergessen oder hinausgeschoben; jedenfalls wurde er noch nicht bezahlt. Die Eintrittskarten haben einen Sovereign gekostet; der Rest ist für das Klavierstimmen. Würden Sie es ihm freundlicherweise geben? Wenn ich es einem der Dienstboten anvertraue, gerät es vielleicht in der Eile Ihrer Abreise wieder in Vergessenheit.“

„Kanes Gebühr für das Stimmen eines Klaviers beträgt fünf Schilling“, bemerkte Mr. Carlyle.

„Aber er war lange damit beschäftigt und hat auch etwas mit den Hämmern gemacht. Es ist nicht zu viel; außerdem habe ich ihm nie etwas zu essen bestellt. Er braucht Geld noch dringender als ich“, fügte sie mit dem schwachen Versuch eines Lächelns hinzu. „Aber ich hätte nicht den Mut aufgebracht, Lord Mount Severn darum zu bitten, dass er so an ihn denkt, wie Sie es gerade von mir gehört haben. Wissen Sie, was ich ansonsten in diesem Fall getan hätte?“

„Was hätten Sie getan?“, lächelte er.

„Ich hätte Sie gebeten, ihn für mich zu bezahlen, und hätte es Ihnen zurückgezahlt, sobald ich Geld habe. Ich hatte fest vor, Sie zu fragen, wissen Sie; es wäre weniger schmerzlich gewesen als wenn ich gezwungen gewesen wäre, es von Lord Mount Severn zu erbitten.“

„Das hoffe ich doch“, antwortete er in leisem, ernstem Ton. „Was kann ich sonst noch für Sie tun?“

Sie wollte gerade antworten „nichts – Sie haben doch schon genug getan“, aber in diesem Augenblick wurde ihre Aufmerksamkeit durch Betriebsamkeit vor dem Haus abgelenkt, und beide gingen zum Fenster.

Es war die Kutsche, die Lady Isabel abholen sollte – der Wagen des verstorbenen Earl, der sie zu dem fünf oder sechs Meilen entfernten Bahnhof bringen würde. Er war mit vier Postpferden bespannt – die Zahl hatte Lord Mount Severn festgelegt, denn er wünschte offensichtlich, dass Isabel die Gegend in der gleichen Stellung verließ, in der sie gekommen war. Der Wagen war beladen, und Marvel saß auf dem Außensitz.

„Es ist alles bereit“, sagte Isabel, „und es ist nun an der Zeit, dass ich abfahre. Mr. Carlyle, ich hinterlasse Ihnen ein Vermächtnis – diese hübschen goldenen und silbernen Fische, die ich vor ein paar Wochen mitgebracht habe.“

„Aber warum nehmen Sie die nicht mit?“

„Mit zu Lady Mount Severn? Nein, da lasse ich sie lieber bei Ihnen. Werfen Sie hin und wieder ein paar Brotkrümel in das Goldfischglas.“

Ihr Gesicht war nass von den Tränen, und er wusste, dass sie hektisch sprach, um ihre Gefühle zu verbergen.

„Setzen Sie sich doch für ein paar Minuten“, sagte er.

„Nein – nein. Ich gehe besser sofort.“

Er nahm ihre Hand und führte sie zum Wagen. Die Bediensteten hatten sich in der Diele versammelt und warteten auf sie. Einige waren in den Diensten ihres Vaters grau geworden. Sie streckte die Hand aus, bemühte sich, ein Wort des Dankes und des Abschieds zu sagen, und glaubte zu ersticken, als sie das Schluchzen herunterschlucken wollte. Schließlich war es vorüber; ein freundlicher Blick in die Runde, ein sehnsuchtsvolles Winken, und sie ging mit Mr. Carlyle weiter.

Pound war auf seinen Platz neben Marvel geklettert, und die Stallburschen warteten auf das Abfahrtssignal, aber Mr. Carlyle öffnete noch einmal die Tür der Kutsche, beugte sich hinein und hielt ihre Hand fest.

„Ich habe kein Wort des Dankes für Ihre ganze Freundlichkeit gesagt, Mr. Carlyle“, rief sie, und ihr Atem ging schwer. „Sie haben sicher gesehen, dass ich es nicht konnte.“

„Ich wünsche mir, ich hätte mehr tun können; ich wünsche mir, ich hätte Sie vor den Belästigungen abschirmen können, die Sie zu ertragen gezwungen waren!“, erwiderte er. „Falls wir uns nie wiedersehen …“

„Oh, wir werden uns wiedersehen“, unterbrach sie ihn. „Sie haben Lord Mount Severn ein Versprechen gegeben.“

„Das stimmt; also werden wir uns beiläufig wiedersehen – irgendwann einmal; aber unsere gewöhnlichen Lebenswege liegen weit auseinander. Gott segne Sie für immer, liebe Lady Isabel!“

Die Stalljungen trieben ihre Pferde an, und die Kutsche nahm Fahrt auf. Isabel zog die Vorhänge zu und lehnte sich in tränenreichem Schmerz zurück – Tränen für das Haus, das sie verließ, Tränen für den Vater, den sie verloren hatte. Ihre letzten Gedanken waren Gedanken der Dankbarkeit für Mr. Carlyle gewesen; aber sie hatte mehr Grund, ihm dankbar zu sein, als sie bisher wusste. Die Gefühle hatten sich bald verbraucht, und als ihre Augen wieder klar wurden, sah sie ein Stück zerknülltes Papier auf ihrem Schoß liegen – offensichtlich war es ihr aus der Hand gefallen. Mechanisch griff sie danach und faltete es auseinander: Es war eine Banknote über hundert Pfund.

Mancher Leser wird nun meinen, dies sei literarische Romantik, und eine an den Haaren herbeigezogene noch dazu, aber es ist tatsächlich vollkommen wahr. Mr. Carlyle hatte den Geldschein gezielt zu diesem Zweck am Morgen mit nach East Lynne gebracht.

Lady Isabel traute ihren Augen kaum; sie bestaunte die Banknote – starrte sie immer und immer wieder an. Woher kam sie? Wie war sie dorthin gelangt? Plötzlich schoss ihr die unbezweifelbare Wahrheit durch den Kopf: Mr. Carlyle hatte sie ihr in die Hand gedrückt.

Ihre Wangen brannten, ihre Finger zitterten, ihr Geist erhob sich in wütender Abwehr. Im ersten Augenblick der Entdeckung war sie bereit, das Geld als Beleidigung zurückzuweisen; aber als sie sich an die nüchternen Tatsachen der letzten Tage erinnerte, schwand ihre Wut und wurde zur Bewunderung für seine großartige Freundlichkeit. Wusste er, dass sie kein Zuhause hatte, welches sie das ihre nennen konnte, und kein Geld – absolut kein Geld außer dem, das er ihr aus Barmherzigkeit gegeben hatte?

Als Lord Mount Severn nach London und zu dem Hotel kam, in dem die Vanes abzusteigen pflegten, war das Erste, worauf sein Blick fiel, seine eigene Ehefrau, von der er geglaubt hatte, sie befinde sich in Sicherheit im Castle Marling. Er erkundigte sich nach dem Grund.

Lady Mount Severn machte sich mit Erklärungen wenig Mühe. Sie sei seit einem oder zwei Tagen hier, könne ihre Trauerangelegenheiten persönlich besser ordnen, und William schien es nicht gut zu gehen, deshalb habe sie ihn wegen des Luftwechsels mitgebracht.

„Ich bedaure sehr, dass du nach London gekommen bist, Emma“, bemerkte der Earl, nachdem er alles gehört hatte. „Isabel ist heute nach Castle Marling gereist.“

Lady Mount Severn hob ruckartig den Kopf. „Was will sie dort?“

„Es ist eine ganz und gar erbärmliche Angelegenheit“, gab der Earl zurück, ohne unmittelbar auf die Frage zu antworten. „Mount Severn ist ärmer als ein Bettler gestorben, und für Isabel ist kein einziger Schilling mehr da.“

„Es war nie damit zu rechnen, dass viel übrig bleiben würde.“

„Aber da ist nichts – kein einziger Penny; nichts für ihre eigenen persönlichen Auslagen. Ich habe ihr heute ein oder zwei Pfund gegeben, denn sie war vollkommen mittellos!“

Die Gräfin riss die Augen auf. „Wo soll sie wohnen? Was soll aus ihr werden?“

„Sie muss bei uns wohnen. Sie …“

„Bei uns!“, unterbrach ihn Lady Mount Severn, wobei ihre Stimme fast an ein Schreien grenzte. „Niemals!“

„Sie muss, Emma. Es gibt keinen anderen Ort, an dem sie leben könnte. Ich hatte die Pflicht, so zu entscheiden; und wie ich schon sagte, ist sie heute nach Castle Marling gereist.“

Lady Mount Severn wurde blass vor Wut. Sie erhob sich von ihrem Platz und blickte ihrem Mann, den Tisch zwischen ihnen, ins Gesicht. „Hörʼ zu, Raymond. Ich will Isabel Vane nicht unter meinem Dach haben. Ich hasse sie. Wie konntest du dich beschwatzen lassen, in so etwas einzuwilligen?“

„Ich wurde nicht beschwatzt und nicht um eine Einwilligung gebeten“, gab er sanft zurück. „Ich habe es vorgeschlagen. Wo sollte sie sonst hingehen?“

„Es kümmert mich nicht, wo sie hingeht“, lautete die halsstarrige Erwiderung. „Jedenfalls nicht zu uns.“

„Sie ist jetzt schon in Castle Marling – ist dorthin als zu ihrem Zuhause gereist“, sagte der Earl. „Und wenn du zurückkommst, wirst selbst du es kaum wagen, sie auf die Straße oder ins Arbeitshaus zu schicken. Sie wird dir nicht lange zur Last fallen“, fuhr der Earl unbekümmert fort. „Ein so liebreizendes Mädchen wie Isabel wird sicher früh heiraten; und sie scheint mir das sanftmütigste, liebenswürdigste Mädchen zu sein, das ich jemals gesehen habe. Ob das deine Abneigung gegen sie lindern kann, wage ich nicht zu vermuten. So mancher Mann wäre bereit, ihren Mangel an Vermögen um ihres Gesichts willen zu vergessen.“

„Sie soll den Ersten heiraten, der sie fragt“, fauchte die wütende Lady zurück. „Dafür werde ich sorgen.“

Das Geheimnis von East Lynne

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