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Kapitel 5 Mr. Carlyles Kanzlei

Im Zentrum von West Lynne standen zwei aneinander gebaute Häuser, das eine groß, das andere viel kleiner. Das große Haus war der Wohnsitz der Carlyles, das kleinere beherbergte die Carlyle-Büros. Der Name genoss in der Grafschaft einen hervorragenden Ruf; Carlyle und Davidson waren als erstklassige Vertreter ihres Berufsstandes bekannt; kleinliche Winkeladvokaten waren sie nicht. Carlyle und Davidson hatten sie in vergangenen Tagen geheißen; jetzt war es Archibald Carlyle. Die alten Inhaber waren Schwäger gewesen – die erste Mrs. Carlyle war Mr. Davidsons Schwester. Sie war gestorben und hatte ein Kind hinterlassen. Die zweite Mrs. Carlyle starb bei der Geburt ihres Sohnes Archibald; seine Halbschwester zog ihn groß, liebte ihn und bestimmte über ihn. Sie hatte für ihn die ganze Autorität einer Mutter; eine andere hatte der Junge nicht gekannt, und als kleines Kind hatte er sie Mama Corny genannt. Mama Corny hatte ihm gegenüber ihre Pflicht getan, das stand außer Zweifel; aber Mama Corny hatte auch ihre Herrschaft nie gelockert: Noch heute herrschte sie in großen wie in kleinen Dingen mit eiserner Faust über ihn, wie sie es in den Tagen seines Säuglingsalters getan hatte. Und Archibald fügte sich im Allgemeinen, denn die Macht der Gewohnheit ist stark. Corny war eine Frau von energischem Gespür, aber in manchen Dingen mit schwachem Urteilsvermögen; die beherrschenden Leidenschaften ihres Lebens waren die Liebe zu Archibald und die Liebe zum sparsamen Umgang mit Geld. Mr. Davidson war früher gestorben als Mr. Carlyle, und sein Vermögen – geheiratet hatte er nie – wurde zu gleichen Teilen unter Cornelia und Archibald geteilt. Archibald war für ihn kein Blutsverwandter, aber er liebte den aufgeschlossenen Jungen mehr als seine Nichte. Von Mr. Carlyles großem Besitz ging ein kleiner Teil an seine Tochter, der Rest an seinen Sohn; darin lag vielleicht eine gewisse Gerechtigkeit, denn die zwanzigtausend Pfund, die Mr. Carlyles zweite Frau mit in die Ehe gebracht hatte, waren der wesentliche Grundstock für die Anhäufung seines großen Vermögens gewesen.

Miss Carlyle oder Miss Corny, wie sie im Ort genannt wurde, hatte nie geheiratet; es war ziemlich sicher, dass sie auch nie heiraten würde; man glaubte, die innige Liebe zu ihrem jüngeren Bruder habe dazu geführt, dass sie allein geblieben war, aber dass es der Tochter des reichen Mr. Carlyle an Angeboten gemangelt hätte, war unwahrscheinlich. Andere junge Frauen bekennen sich zu weichen, zärtlichen Gefühlen. Nicht so Miss Carlyle. Alle, die sich ihr mit liebeskranken Worten genähert hatten, waren schnell zur Kehrtwende veranlasst worden.

An dem Morgen, nachdem Mr. Carlyle aus London zurückgekehrt war, saß er in seinem privaten Zimmer der Kanzlei. Neben ihm stand sein vertrauter Bürovorsteher und Verwalter. Mr. Dill war ein kleiner, bescheiden wirkender Mann mit kahlem Kopf. Er hatte schon vor vielen Jahren die Zulassung als Anwalt erhalten, aber nie selbst eine Kanzlei gegründet; vielleicht war der Posten des Vorstehers im Büro von Carlyle & Davidson mit seinem beträchtlichen Gehalt für seinen Ehrgeiz ausreichend; und Vorsteher war er schon, als der jetzige Mr. Carlyle noch Babykleidchen trug. Mr. Dill war unverheiratet und bewohnte in der Nähe eine hübsche Wohnung.

Zwischen Mr. Carlyles Zimmer und den Räumen der Angestellten lag ein kleiner, quadratischer Raum, eine Art Diele, die ebenfalls von der Haustür aus zugänglich war; von ihr ging ein weiteres schmales Zimmer ab, das Allerheiligste von Mr. Dill. Hier empfing er die Mandanten, wenn Mr. Carlyle außer Haus oder beschäftigt war, und von hier aus gab er private Anweisungen. Ein kleines Fenster, nicht größer als eine Glasscheibe, ging vom Büro des Vorstehers nach draußen; die Leute nannten es das Guckloch des alten Dill und wünschten es wer weiß wohin, denn seine Brille war dort häufiger zu erkennen als es angenehm war. Der alte Gentleman hatte in seinem Büro ebenfalls einen Schreibtisch, und dort saß er häufig. Hier hielt er sich auch würdevoll an eben jenem Morgen auf und sah sich mit scharfem Blick um, als sich plötzlich schüchtern die Tür öffnete und das hübsche Gesicht von Barbara Hare erschien. Es war rosa mit roten Flecken.

„Kann ich Mr. Carlyle sprechen?“

Mr. Dill erhob sich von seinem Platz und gab ihr die Hand. Sie zog ihn in den Eingang, und er schloss die Tür. Vielleicht war er überrascht, denn eigentlich war es nicht die Sitte junger, alleinstehender Damen, hierher zu kommen und nach Mr. Carlyle zu fragen.

„In Kürze, Miss Barbara. Er ist gerade beschäftigt. Die Richter sind bei ihm.“

„Die Richter!“, stieß Barbara beunruhigt hervor. „Und einer davon ist Papa? Was soll ich nur tun? Er darf mich nicht sehen. Ich möchte um nichts in der Welt, dass er mich hier sieht.“

Man hörte unheilvolle Geräusche; offensichtlich kamen die Richter näher. Mr. Dill hielt Barbara fest, schob sie durch das Zimmer der Angestellten – sie in die andere Richtung zu ziehen, wagte er nicht, damit sie ihnen nicht begegnete – und schloss sie in seinem Büro ein. „Was zum Teufel hat Papa ausgerechnet in diesem Augenblick hierhergeführt?“, dachte Barbara. Ihr Gesicht war puterrot.

Einige Minuten später öffnete Mr. Dill die Tür erneut. „Sie sind jetzt weg, die Luft ist rein, Miss Barbara.“

„Ich weiß nicht, was Sie sich für eine Meinung über mich bilden müssen, Mr. Dill“, flüsterte sie, „aber ich will Ihnen im Vertrauen sagen, dass ich in einer privaten Angelegenheit für Mama hier bin, weil sie sich nicht so wohl fühlt, dass sie selbst kommen könnte. Es ist eine kleine private Sache, und sie möchte nicht, dass Papa davon etwas weiß.“

„Mein Kind“, erwiderte der Bürovorsteher, „ein Anwalt bekommt viel Besuch; zu ‚denken‘ ist für die Menschen in seiner Umgebung nicht angebracht.“

Während er noch sprach, öffnete er die Tür, führte sie zu Mr. Carlyle und verließ sie. Der Anwalt erhob sich voller Erstaunen.

„Sie müssen mich als Mandantin betrachten, und entschuldigen Sie, dass ich hier eingedrungen bin“, sagte Barbara mit einem gezwungenen Lachen, mit dem sie ihre Aufregung verbergen wollte. „Ich bin im Auftrag von Mama hier – und fast hätte ich Papa in Ihrem Eingang getroffen, was mir vor Angst fast den Verstand geraubt hat. Mr. Dill hat mich in seinem Zimmer versteckt.“

Mr. Carlye bedeutete Barbara mit einer Bewegung, sich zu setzen, und nahm dann selbst seinen Platz am Tisch wieder ein. Barbara konnte sich nicht der Feststellung erwehren, dass er sich hier im Büro ganz anders benahm als an dem Abend, als er „außer Dienst“ war. Hier war er der seriöse, ruhige Geschäftsmann.

„Ich muss Ihnen etwas Seltsames erzählen“, begann sie im Flüsterton, „aber … kann uns hier wirklich niemand hören?“ Mit angstvollem Blick hielt sie inne. „Es würde … es könnte … den Tod bedeuten!“

„Das ist vollkommen unmöglich“, erwiderte Mr. Carlyle in aller Ruhe. „Die Türen sind Doppeltüren; ist Ihnen das nicht aufgefallen?“

Dennoch stand sie von ihrem Stuhl auf, stellte sich nahe zu Mr. Carlyle und legte ihre Hand auf den Tisch. Natürlich erhob er sich ebenfalls.

„Richard ist hier!“

„Richard!“, wiederholte Mr. Carlyle. „In West Lynne!“

„Er ist gestern Abend verkleidet beim Haus aufgetaucht und hat mir von dem Gehölz aus Zeichen gegeben. Sie können sich vorstellen, wie beunruhigt ich war. Er hat die ganze Zeit halb verhungert in London gewohnt und – ich schäme mich fast, es Ihnen zu sagen – in einem Pferdestall gearbeitet. Und ach, Archibald! Er sagt, er sei unschuldig.“

Mr. Carlyle gab keine Antwort. Vermutlich schenkte er der Behauptung keinen Glauben. „Setzen Sie sich, Barbara“, sagte er und zog ihren Stuhl näher zu sich.

Barbara nahm wieder Pltz, aber ihr Betragen war hektisch und nervös. „Ist ganz sicher, dass kein Fremder hereinkommt? Es wäre seltsam, wenn jemand mich hier sehen würde; aber Mama ging es so schlecht, dass sie nicht selbst kommen konnte – oder eigentlich hat sie Papas Fragen gefürchtet, wenn er herausgefunden hätte, dass sie gekommen ist.“

„Seien Sie unbesorgt“, erwiderte Mr. Carlyle. „Dieses Zimmer ist vor eindringenden Fremden sicher. Wie steht es mit Richard?“

„Er sagt, er sei zu der Zeit, als der Mord begangen wurde, nicht in dem Häuschen gewesen; die Person, die es wirklich getan hätte, sei ein Mann namens Thorn gewesen.“

„Was für ein Thorn?“, fragte Mr. Carlyle, wobei er alle Anzeichen der Skepsis unterdrückte.

„Das weiß ich nicht; ein Freund von Afy, hat er gesagt. Archi­­bald, er hat es höchst feierlich beschworen; und ich glaube, so wahr ich es hier Ihnen gegenüber wiederhole, dass er die Wahrheit gesagt hat. Ich möchte, dass Sie sich mit Richard treffen, wenn es möglich ist; er kommt heute Abend wieder an die gleiche Stelle. Wenn er Ihnen selbst seine Geschichte erzählen kann, finden Sie vielleicht einen Weg, wie seine Unschuld offenbar gemacht werden kann. Sie sind so schlau, Sie können alles.“

Mr. Carlyle lächelte. „Alles nicht gerade, Barbara. War das der Zweck von Richards Besuch – Ihnen das zu sagen?“

„Oh nein! Er glaubt, es zu sagen, sei zu nichts nütze, weil ihm niemand entgegen den Indizien glauben würde. Er ist gekommen, weil er um hundert Pfund bitten wollte; er sagt, er hat eine Möglichkeit, wie es ihm besser gehen könne, wenn er diese Summe hat. Mama hat mich zu Ihnen geschickt; sie selbst hat das Geld nicht, und sie wagt auch nicht, Papa darum zu bitten, denn es ist ja für Richard. Ich soll Ihnen sagen, wenn Sie ihr das Geld heute freundlicherweise vorstrecken würden, wird sie sich mit Ihnen über die Rückzahlung einigen.“

„Wollen Sie es jetzt haben?“, fragte Mr. Carlyle. „Dann muss ich jemanden zur Bank schicken. Dill hat nie viel Geld im Haus, wenn ich unterwegs bin.“

„Erst heute Abend. Können Sie es einrichten, sich mit Richard zu treffen?“

„Das ist gefährlich“, grübelte Mr. Carlyle. „Für ihn, meine ich. Aber wenn er heute Abend in dem Gehölz ist, kann ich ebenso gut dort sein. Was hat er für eine Verkleidung?“

„Die eines Landarbeiters. Es war das Beste, was er sich hier zulegen konnte, mit einem großen schwarzen Schnauzbart. Er hat gesagt, er lebt ungefähr drei Meilen entfernt in irgendeinem geheimnisvollen Versteck. Und jetzt“, fuhr Barbara fort, „möchte ich Sie um einen Rat bitten; sollte ich Mama darüber in Kenntnis setzen, dass Richard hier ist, oder besser nicht?“

Mr. Carlyle verstand sie nicht und sagte es auch.

„Ich gestehe, dass ich verwirrt bin“, rief sie. „Ich hätte vorausschicken sollen, dass ich Mama noch nicht gesagt habe, dass Richard hier ist; ich habe so getan, als hätte er einen Boten geschickt, der um das Geld bittet. Wäre es ratsam, sie einzuweihen?“

„Warum nicht? Ich finde, Sie sollten es tun.“

„Dann tue ich es auch; ich habe nur die Gefahr gefürchtet, denn sie wird sicher darauf bestehen, ihn zu sehen. Und auch Richard wünscht sich ein Gespräch.“

„Das ist nur natürlich. Mrs. Hare muss dankbar sein zu hören, dass er bisher in Sicherheit ist.“

„So habe ich es noch nie gesehen“, gab Barbara zurück. „Die Veränderung ist geradezu ein Wunder; sie sagt, es habe ihr neues Leben eingeflößt. Und nun zu der letzten Schwierigkeit: Wie können wir dafür sorgen, dass Papa heute Abend nicht zu Hause ist? Das muss auf irgendeine Weise bewerkstelligt werden. Sie kennen sein Temperament: Wenn ich oder Mama ihm vorschlagen würden, er solle einen Freund besuchen oder in den Club gehen, würde er in jedem Fall zu Hause bleiben. Können Sie einen Plan schmieden? Sie sehen, ich wende mich mit allen meinen Schwierigkeiten an Sie“, fügte sie hinzu, „genau wie Anne und ich es gemacht haben, als wir noch Kinder waren.“

Ob Mr. Carlyle die letzte Bemerkung hörte, ist fraglich. Er hatte in tiefem Nachdenken die Augenlider gesenkt. „Haben Sie mir jetzt alles berichtet?“, fragte er schließlich und hob sie wieder.

„Ich glaube schon.“

„Dann werde ich darüber nachdenken und …“

„Ich werde wahrscheinlich nicht noch einmal herkommen“, unterbrach ihn Barbara. „Es … es könnte Verdacht erwecken; es könnte mich auch jemand sehen und es gegenüber Papa erwähnen. Sie sollten auch niemanden zu unserem Haus schicken.“

„Nun ja … Richten Sie es so ein, dass Sie heute Nachmittag um vier auf der Straße sind. Einen Augenblick, das ist ja Ihre Essenszeit; gehen sie um drei Uhr auf der Straße spazieren, genau um drei; wir werden uns dort treffen.“

Er erhob sich, gab ihr die Hand und begleitete sie durch die kleine Diele und den Korridor zur Haustür – eine Höflichkeit, die Mr. Carlye vermutlich nicht jedem Mandanten erwies. Die Haustür schloss sich hinter ihr, und Barbara hatte sich kaum einen Schritt von ihr entfernt, als plötzlich etwas Großes über ihr dräute wie ein Schiff unter vollen Segeln.

Sie war sicher die größte Dame der Welt. Eine schöne Frau zu ihrer Zeit, jetzt aber kantig und knochig. Und doch lag trotz der Kanten und Knochen etwas Majestätisches in der Erscheinung von Miss Carlyle.

„Warum … Wozu um alles auf der Welt“, setzte sie an, „sind Sie bei Archibald gewesen?“

Barbara Hare wünschte sich, Miss Carlyle wäre weit weg in Asien, und brachte stammelnd die Ausrede vor, die sie auch bei Mr. Dill gebraucht hatte.

„Ihre Mama hat Sie zu geschäftlichen Besorgungen geschickt! So etwas habe ich noch nie gehört. Zweimal war ich hier, um mit Archibald zu sprechen, und zweimal hat Dill mir gesagt, er sei beschäftigt und dürfe nicht gestört werden. Der alte Dill wird mir erklären müssen, was es bedeutet, dass er mir gegenüber Geheimnisse hat.“

„Es gibt kein Geheimnis“, antwortete Barbara; ihr wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, Miss Carlye könne gegenüber den Angestellten oder ihrem Vater behaupten, es gebe eines. „Mama wollte Mr. Carlyle in einer kleinen Privatangelegenheit um seine Meinung fragen, und da sie sich nicht wohl genug fühlte, um selbst zu kommen, hat sie mich geschickt.“

Miss Carlyle glaubte ihr kein Wort. „Was für eine Angelegenheit?“, fragte sie unverblümt.

„Es ist nichts, was Sie interessieren könnte. Eine Kleinigkeit, die mit ein wenig Geld zu tun hat. Es ist wirklich nichts.“

„Und wenn es nichts ist, warum haben Sie sich dann so lange mit Archibald eingeschlossen?“

„Er hat nach den Einzelheiten gefragt“, erwiderte Barbara, wobei sie ihre Gelassenheit wiederfand.

Miss Carlyle schniefte, wie sie es immer tat, wenn sie in einer Sache anderer Meinung war. Da lag doch sicher irgendein Geheimnis in der Luft. Sie wandte sich um und ging mit Barbara die Straße entlang, aber das führte nicht dazu, dass sie mehr herausbekommen hätte.

Mr. Carlyle kehrte in sein Büro zurück, überlegte kurz, und läutete dann. Ein Angestellter kam herein.

„Gehen Sie zum Buckʼs Head. Wenn Mr. Hare und die anderen Friedensrichter dort sind, sagen Sie ihnen, sie möchten zu mir herüberkommen.“

Der junge Mann tat wie geheißen und kam mit den ehrwürdigen Richtern auf den Fersen zurück. Sie folgten der Einladung bereitwillig, glaubten sie doch, sie seien in eine juristische Meinungsverschiedenheit verwickelt, und nur Mr. Carlyle könne sie daraus befreien.

„Ich bitte Sie nicht, Platz zu nehmen“, begann Mr. Carlyle, „denn ich werde Sie nur einen kurzen Augenblick aufhalten. Je mehr ich darüber nachdenke, dass dieser Mann ins Gefängnis gebracht wurde, desto weniger gefällt es mir; ich habe mir gedacht, es ist vielleicht besser, wenn Sie alle fünf heute Abend zu mir kommen und gemeinsam in meinem Haus eine Pfeife rauchen; dann haben wir Zeit und können besprechen, was zu tun ist. Kommen Sie nicht später als sieben, dann werden Sie die alte Tabaksdose meines Vaters gut gefüllt mit dem besten Breitschnitt finden, außerdem ein halbes Dutzend Lesepfeifen. Einverstanden?“

Die fünf nahmen die Einladung eifrig an. Als sie im Gänsemarsch hinausgingen, berührte Mr. Carlyle den Arm des Richters Hare.

„Sie kommen doch sicher auch, Hare“, flüsterte er. „Ohne Sie kommen wir nicht zurecht; nicht alle Köpfe“ – wobei er eine leichte Bewegung in Richtung der Hinausgehenden machte – „sind so mit klarem Verstand begabt wie Sie.“

„Ich komme ganz sicher“, erwiderte der Richter erfreut. „Feuer und Wasser sollen mich nicht abhalten.“

Kurz nachdem Mr. Carlyle wieder allein war, trat ein anderer Bediensteter ein.

„Miss Carlyle würde Sie gerne sprechen, Sir, und auch Colonel Bethel ist wieder da.“

„Schicken Sie zuerst Miss Carlyle herein“, lautete die Antwort. „Worum geht es, Cornelia?“

„Ach, das fragst du noch? Heute Morgen sagst du, du könntest nicht wie üblich um sechs Uhr zu Abend essen, und dann marschierst du hinaus und legst die Zeit nicht fest. Wie soll ich meine Anweisungen geben?“

„Ich dachte, die Geschäfte würden mich abhalten, aber nun gehe ich doch nicht aus. Dennoch werden wir ein wenig früher essen, Cornelia, sagen wir um Viertel vor sechs. Ich habe jemanden eingeladen!“

„Was ist los, Archibald?“, unterbrach ihn Miss Carlyle.

„Los! Nichts, soweit ich weiß. Ich bin sehr beschäftigt, Cornelia, und Colonel Bethel wartet; ich spreche beim Essen mit dir. Ich habe für heute Abend eine kleine Gesellschaft eingeladen.“

„Eine kleine Gesellschaft!“, wiederholte Miss Carlyle.

„Ja, vier oder fünf Richter kommen zum Pfeiferauchen. Du musst die Blei-Tabaksdose deines Vaters herausholen, und …“

„Sie werden nicht kommen!“, kreischte Miss Carlyle. „Meinst du, ich will mich mit dem Tabakrauch aus einem Dutzend Pfeifen vergiften?“

„Du brauchst nicht im Zimmer zu sitzen.“

„Die auch nicht. Im ganzen Haus wurden gerade saubere Gardinen aufgehängt, und ich will nicht, dass sie von schrecklichen Pfeifen schwarz werden.“

„Ich kaufe dir ein paar neue Gardinen, Cornelia, wenn diese durch die Pfeifen verdorben werden“, erwiderte er in aller Ruhe. „Und jetzt, Cornelia, muss ich dich wirklich bitten, mich zu verlassen.“

„Wenn ich dieser Angelegenheit mit Barbara Hare auf den Grund gegangen bin“, gab Miss Corny energisch zurück, womit sie den Streit um die Pfeifen fallen ließ. „Du bist sehr schlau, Archie, aber mich führst du nicht hinters Licht. Ich habe Barbara gefragt, weshalb sie hier war. Ein Anliegen ihrer Mama, das mit Geldangelegenheiten zu tun hat – so lautete ihre Antwort. Ich frage dich: Dir die Meinung über die Meinungsverschiedenheiten der Richter anzuhören, ist deine Angelegenheit. Aber das hier ist weder das eine noch das andere, und ich sage dir, Archibald, ich werde es erfahren. Ich wüsste gern, was das für ein Geheimnis zwischen dir und Barbara ist.“

Mr. Carlyle kannte ihre energische Ausdrucksweise nur allzu gut und entschied sich, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie war, um die Worte zu übernehmen, die Barbara gegenüber ihrem Bruder in Bezug auf ihn gebraucht hatte, wahrhaftig wie Gold. Vertraute man Miss Carlyle ein Geheimnis an, war sie so vertrauenswürdig und verschwiegen wie er; ließ man in ihr aber die Vermutung aufkommen, ihr werde ein Geheimnis vorenthalten, würde sie wie ein Frettchen an die Arbeit gehen und nicht aufhören, bis es gelüftet war.

Mr. Carlyle beugte sich nach vorn und sagte im Flüsterton: „Ich werde es dir sagen, wenn du willst, Cornelia, aber es ist keine angenehme Sache. Richard Hare ist zurückgekehrt.“

Miss Carlyle blickte vollkommen entgeistert drein. „Richard Hare! Ist er verrückt geworden?“

„Eine sehr vernünftige Vorgehensweise ist es nicht. Er will Geld von seiner Mutter, und Mrs. Hare hat Barbara zu mir geschickt, damit ich das für sie arrangiere. Kein Wunder, dass die arme Barbara hektisch und nervös war – schließlich droht Gefahr von allen Seiten.“

„Ist er in ihrem Haus?“

„Wie könnte er, wo sein Vater dort wohnt? Er versteckt sich zwei oder drei Meilen entfernt als Arbeiter verkleidet und wird heute Abend zu dem Gehölz kommen, um sein Geld in Empfang zu nehmen. Ich habe die Richter eingeladen, damit Mr. Hare in sicherer Entfernung von seinem Haus ist. Würde er Richard sehen, er würde ihn zweifellos der Justiz übergeben, und das wäre – wenn man ernstere Erwägungen einmal beiseite lässt – weder für dich noch für mich sehr angenehm. Eine Verbindung zu jemandem, der wegen vorsätzlichen Mordes gehenkt wurde, wäre ein hässlicher Fleck auf dem Wappen der Carlyles, Cornelia.“

Miss Carlyle saß schweigend, ein Runzeln zwischen den üppigen Augenbrauen, und verarbeitete die Neuigkeiten.

„Jetzt weißt du alles, Cornelia, und ich bitte dich, zu gehen. Ich bin heute mit Arbeit überlastet.“

Das Geheimnis von East Lynne

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