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ОглавлениеKapitel 12 Leben auf Castle Marling
Isabel wohnte ungefähr seit zehn Tagen in ihrem neuen Zuhause, da trafen Lord und Lady Mount Severn in Castle Marling ein. Das Haus war kein Schloss, wie man meinen könnte, sondern der Name bezeichnete eine Kleinstadt, die fast unmittelbar an ihren Wohnsitz, ein kleines Anwesen, angrenzte. Lord Mount Severn hieß Isabel willkommen; Lady Mount Severn tat es höflichkeitshalber ebenfalls, aber ihr Betragen war dabei so abstoßend, so unverschämt herablassend, dass es ein empörtes Rot in die Wangen von Lady Isabel trieb. Und wenn das schon bei ihrem ersten Zusammentreffen geschah, was würde man wohl meinen, wie es weiterging? Sie wurde mit anzüglichen Beleidigungen, kleinlichen Kränkungen und abschreckenden Schikanen überhäuft, die ihr Durchhaltevermögen bis zum Äußersten strapazierten; wenn sie allein war, rang sie die Hände und wünschte sich leidenschaftlich, sie könne eine andere Zuflucht finden.
Der Earl und die Gräfin hatten zwei Söhne, und der jüngere der beiden, der immer ein zartes Kind gewesen war, starb im Februar. Das bedeutete für ihre Pläne eine gewisse Veränderung. Statt zu Ostern nach London zu reisen, wie man es vorgehabt hatte, würden sie nun erst im Mai fahren. Der Earl hatte einen Teil des Winters auf Mount Severn verbracht, um dort die Reparaturen und Renovierungsarbeiten zu beaufsichtigen. Im März fuhr er nach Paris und war dabei voller Kummer wegen des Verlusts seines Sohnes – sein Kummer war viel größer als jener, den Lady Mount Severn empfand.
Der April rückte heran, und mit ihm kam Ostern. Zum unverhohlenen Missfallen von Lady Mount Severn schrieb ihr ihre Großmutter, Mrs. Levison, sie brauche eine Luftveränderung und werde Ostern bei ihr in Castle Marling verbringen. Lady Mount Severn hätte ihre Diamanten dafür gegeben, um den Besuch herumzukommen, aber es gab kein Entrinnen – und die Diamanten hatten einst Isabel gehört, oder zumindest hatte Isabel sie getragen. Am Montag der Karwoche traf die alte Dame ein, und mit ihr kam Francis Levison. Andere Gäste hatten sie nicht. Bis Karfreitag verlief alles ziemlich reibungslos.
Am Nachmittag des Karfreitags schlenderte Isabel mit dem kleinen William Vane nach draußen; Captain Levison schloss sich ihnen an, und als sie zurückkehrten, war es schon fast Zeit zum Abendessen. Die drei traten gemeinsam ins Haus, wo Lady Mount Severn die ganze Zeit Buße getan und ihre Wut gegen Isabel gepflegt hatte, weil Mrs. Levison sie drinnen festgehalten hatte. Es blieb kaum Zeit, um sich zum Abendessen umzukleiden, und Isabel ging geradewegs in ihr Zimmer. Sie legte das Kleid ab und zog den Morgenmantel an. Marvel war mit ihren Haaren beschäftigt, und William plapperte auf ihrem Knie, da wurde die Tür aufgerissen, und Mylady trat ein.
„Wo sind Sie gewesen?“, verlangte sie zu wissen, wobei sie vor Leidenschaft zitterte. Isabel kannte die Anzeichen.
„Ich bin im Strauchgarten und auf dem Gelände spazieren gegangen“, antwortete Isabel.
„Wie können Sie es wagen, sich so zu blamieren!“
„Ich verstehe Sie nicht“, sagte Isabel, wobei ihr Herz unangenehm zu pochen begann. „Marvel, du ziehst an meinen Haaren.“
Wenn Frauen, die zu ungehemmten Ausbrüchen der Leidenschaft neigen, die Zügel schießen lassen, wissen sie oft nicht mehr, was sie sagen, und es kümmert sie auch nicht. Lady Mount Severn brach in eine Flut von Vorwürfen und Beschimpfungen aus, die meisten davon erniedrigend und durch nichts zu rechtfertigen.
„Es reicht nicht, dass man Ihnen Unterschlupf in meinem Haus gewährt hat, sondern Sie müssen es auch noch blamieren! Drei Stunden haben Sie sich zusammen mit Francis Levison versteckt! Von dem Augenblick an, da er gekommen ist, haben Sie nichts anderes getan als ihm schöne Augen zu machen; und auch zu Weihnachten war es nicht anders.“
Der Angriff war noch länger und weiter gefasst, aber dies war seine wesentliche Aussage, und sie stachelte Isabel zum Widerspruch an, zu einer Wut, die kaum weniger groß war als die der Gräfin. So etwas! – und dann auch noch vor ihrer Bediensteten! Sie, die Tochter eines Earl und von viel höherer Geburt als Emma Mount Severn, musste sich wegen der wahnhaften Eifersucht einer anderen so beleidigend beschuldigen lassen. Isabel riss Marvel ihre Haare aus der Hand, erhob sich und stellte sich der Gräfin gegenüber, wobei sie sich zu einer ruhigen Stimme zwang.
„Ich mache keine schönen Augen!“, sagte sie. „Ich habe noch nie jemandem schöne Augen gemacht. Das überlasse ich“ – und sie konnte den Hohn, den sie spürte, in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken – „verheirateten Frauen; allerdings scheint mir, dass dies bei ihnen eher ein verzeihlicher Fehler ist als bei Alleinstehenden. Seit ich hier wohne, gibt es unter den Bewohnerinnen dieses Hauses nur eine, die schöne Augen macht, so weit ich gesehen habe; bin ich das oder sind Sie das, Lady Mount Severn?“
Die intime Wahrheit blieb bei ihrer Ladyschaft nicht ohne Wirkung. Sie wurde weiß vor Wut, vergaß ihre Manieren, hob die rechte Hand und versetzte Isabel einen heftigen Schlag auf die linke Wange. Verwirrt und erschrocken vor Schmerzen, blieb Isabel stehen, und bevor sie noch sprechen oder handeln konnte, erhob sich die linke Hand von Mylady zur anderen Wange und schlug auch sie. Lady Isabell zitterte wie von plötzlicher Kälte und schrie auf – ein spitzer, schneller Schrei. Sie bedeckte ihr wütendes Gesicht mit den Händen und sank auf den Ankleidestuhl. Marvel warf vor Entsetzen die Hände in die Luft, und William Vane hätte auch nicht in heftigeres Geschrei ausbrechen können, wenn er selbst geschlagen worden wäre. Der Junge – er war von sensiblen Wesen – hatte Angst.
Mein lieber Leser, gehören Sie zu den Unerfahrenen, die ihre Vorstellungen vom „Leben der besseren Kreise“ nur aus den Romanen in einer Bibliothek beziehen, die deren hoch gestochenen Inhalt für ein Evangelium halten und mit religiösem Eifer glauben, Lords und Ladys würden ausschließlich nach den Regeln des guten Benehmens in höheren Sphären leben, sprechen, essen, sich bewegen und atmen? Stehen Sie wie so viele andere unter dem Wahn, Herzöge und Herzoginnen würden ihre Tage nur damit verbringen, über „Bilder, Geschmack, Shakespeare und die Glasharmonika“ zu sprechen? Glauben Sie, diese seien nur an höflichen Silberdrähten aufgehängt und könnten den Zügeln nicht entkommen, nie Wutausbrüchen und ungewöhnlichen Worten Luft verschaffen, wie gewöhnliche Sterbliche es tun? Nein: So wird es erst dann sein, wenn der Große Schöpfer es für angemessen hält, Männer in die Welt zu schicken, die frei von unheilvollem Temperament, bösen Leidenschaften und den Sünden sind, die wir seit Adams Fall geerbt haben.
Lady Mount Severn brachte die Szene zum Abschluss, indem sie William wegen seines Lärms einen Faustschlag versetzte, ihn aus dem Zimmer stieß und ihm sagte, er sei ein Affe.
Isabel Vane durchlebte eine endlose Nacht voller Tränen des Ärgers und der Empörung. In Castle Marling konnte sie nicht bleiben – wer hätte das nach einem so empörenden Auftritt getan? Aber wohin sollte sie gehen? Fünfzigmal während der Nacht wünschte sie sich, sie würde neben ihrem Vater liegen, denn die Gefühle gewannen die Oberhand über ihre Vernunft; in ruhigen Augenblicken wäre sie vor dem Gedanken an den Tod zurückgeschreckt, wie es sich für junge, gesunde Menschen gehört.
Am Samstagmorgen erhob sie sich schwach und träge – die Auswirkungen einer kummervollen Nacht –, und Marvel brachte ihr das Frühstück herauf. Danach schlich sich William Vane in ihr Zimmer; er hing in bemerkenswert starkem Maße an ihr.
„Mama geht aus“, rief er im Laufe des Vormittags aus. „Sieh mal, Isabel.“
Isabel ging zum Fenster. Lady Mount Severn saß in der Ponykutsche, Francis Levison lenkte.
„Jetzt können wir nach unten gehen, Isabel, es ist niemand da.“
Sie stimmte zu und ging mit William hinunter; aber sie saßen kaum im Salon, da trat ein Diener mit einer Karte auf einem Silbertablett ein.
„Mylady, ein Gentleman wünscht Sie zu sehen.“
„Mich zu sehen!“, gab Isabel überrascht zurück. „Oder Lady Mount Severn?“
„Er hat nach Ihnen gefragt, Mylady.“
Sie griff nach der Karte. „Mr. Carlyle.“ „Oh“, stieß sie in einem Ton der freudigen Überraschung hervor, „führen Sie ihn herein.“
Es ist seltsam, nein, geradezu abstoßend, den Faden im Leben eines Menschen zu verfolgen; zuzusehen, wie die banalsten Vorkommnisse zu den größten Ereignissen des Daseins führen und Glück oder Elend, Wohl und Wehe mit sich bringen. Ein Mandant von Mr. Carlyle war gerade auf dem Weg von einem Teil Englands zum anderen gewesen und wurde durch eine Krankheit in Castle Marling festgehalten – eine schwere Krankheit, so schien es, die Ängste vor dem Tod heraufbeschwor. Er hatte seine Angelegenheiten noch nicht geregelt, wie man so sagt, und man hatte eilig nach Mr. Carlyle telegrafiert, damit er das Testament aufsetzte und andere Privatsachen erledigte. Für Mr. Carlyle schien die Reise ein sehr einfacher Vorgang zu sein, und doch war sie dazu bestimmt, zu Ereignissen zu führen, die erst mit seinem eigenen Leben ihr Ende finden sollten.
Mr. Carlyle trat ein, wie immer der ungekünstelte Gentleman mit seiner edlen Gestalt, seinem attraktiven Gesicht und den hängenden Augenlidern. Isabel trat auf ihn zu, um ihn zu begrüßen; sie streckte die Hand aus, und ihre ganze Haltung verriet ihre Freude.
„Das kommt wirklich unerwartet“, rief sie aus. „Ich bin höchst erfreut, Sie zu sehen.“
„Geschäfte haben mich gestern nach Castle Marling geführt, und ich konnte den Ort nicht wieder verlassen, ohne bei Ihnen vorzusprechen. Wie ich höre, ist Lord Mount Severn abwesend.“
„Er ist in Frankreich“, erwiderte sie. „Ich habe gesagt, wir würden uns noch einmal wiedersehen; erinnern Sie sich, Mr. Carlyle? Sie…“
Isabel hielt plötzlich inne; bei dem Wort „erinnern“ erinnerte auch sie sich an etwas – an die Hundert-Pfund-Note, und was sie sagen wollte, blieb ihr im Hals stecken. Sie wurde immer verwirrter, denn leider hatte sie die Banknote gewechselt und teilweise ausgegeben. Wie hätte sie Lady Mount Severn um Geld bitten sollen? Und der Earl war fast immer weit weg. Mr. Carlyle erkannte ihre Verlegenheit, nahm aber die Ursache wahrscheinlich nicht wahr.
„Was für ein hübscher Junge!“, rief er und sah das Kind an.
„Das ist Lord Vane“, sagte Isabel.
„Ein aufrichtiger, ernster Charakter, da bin ich sicher“, fuhr er fort und blickte auf den offenherzigen Gesichtsausdruck. „Wie alt bist du, kleiner Mann?“
„Ich bin sechs, Sir, und mein Bruder war vier.“
Isabel beugte sich zu dem Kind hinunter – ein Vorwand, um ihre Verblüffung zu verbergen. „Du kennst diesen Gentleman nicht, William. Das ist Mr. Carlyle. Er war sehr freundlich zu mir.“
Der kleine Lord hatte seinen gedankenvollen Blick auf Mr. Carlyle gerichtet und studierte offensichtlich dessen Gesichtsausdruck. „Ich mag Sie, Sir, wenn Sie nett zu Isabel sind. Sind Sie nett zu ihr?
„Sehr, sehr nett“, murmelte Isabel, kehrte William den Rücken zu und wandte sich zu Mr. Carlyle, ohne ihn aber anzusehen. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll; ich sollte Ihnen danken. Ich hatte nicht die Absicht, dass … es zu verwenden; aber ich … ich …“
„Pssst!“, unterbrach er sie und lachte über ihre Verwirrung. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich habe Ihnen ein großes Unglück mitzuteilen, Lady Isabel.“
Sie hob den Blick und ihre glühenden Wangen, die durch ihre eigenen Gedanken ein wenig erregt waren.
„Zwei Ihrer Fische sind tot. Die goldenen.“
„Wirklich?“
„Ich glaube, sie sind durch den Frost gestorben; ich weiß nicht, woran es sonst gelegen haben könnte. Sie erinnern sich doch sicher noch an die eisigen Tage im Januar; damals sind sie gestorben.“
„Es war sehr freundlich von ihnen, dass Sie sich die ganze Zeit darum gekümmert haben. Wie sieht es in East Lynne aus? Das liebe East Lynne! Ist es bewohnt?“
„Noch nicht. Ich habe ein wenig Geld hineingesteckt, aber der Aufwand macht sich bezahlt.“
Die Erregung über seine Ankunft hatte sich gelegt, und Isabel sah wieder aus wie sie selbst: blass und traurig. Mr. Carlyle konnte nicht anders als festzustellen, dass sie sich verändert hatte.
„Ich kann nicht damit rechnen, dass ich in Castle Marling so gut aussehe wie in East Lynne“, antwortete sie.
„Ich darf doch davon ausgehen, dass dies für Sie ein glückliches Zuhause ist?“, fragte Mr. Carlyle aus einem Impuls heraus.
Sie sah ihn mit einem Blick an, den er nie vergessen würde; er sprach eindeutig von Verzweiflung. „Nein“, sagte sie und schüttelte den Kopf, „es ist ein schreckliches Zuhause, und ich kann hier nicht bleiben. Ich war die ganze Nacht wach und habe darüber nachgedacht, wohin ich gehen kann, aber ich weiß es nicht; ich habe auf der ganzen weiten Welt keinen Freund.“
Man sollte niemals vor Kindern über Geheimnisse sprechen, denn man kann sicher sein, dass sie erheblich mehr verstehen, als angemessen wäre; das Sprichwort „kleine Leute haben große Ohren“ ist auf wunderbare Weise wahr. Der kleine Lord Vane streckte Mr. Carlyle die Hand entgegen.
„Isabel hat mir heute Morgen gesagt, sie wird von uns weggehen. Soll ich Ihnen sagen, warum? Mama hat sie gestern geschlagen, als sie wütend war.“
„Still, William!“, unterbrach ihn Lady Isabel mit feuerrotem Gesicht.
„Zwei große Klapse auf die Wangen“, fuhr der junge Adlige fort; „und Isabel hat so geschrien, und ich habe gekreischt, und dann hat Mama mich auch gehauen. Aber Jungen sind so gemacht, dass man sie verhauen kann; das sagt das Kindermädchen. Marvel ist ins Kinderzimmer gekommen, als wir Tee getrunken haben, und hat dem Kindermädchen davon erzählt. Sie sagt, Isabel sieht zu gut aus, und deshalb kann Mama …“
Isabel unterbrach den Redefluss des Kindes, läutete heftig, zog ihn zur Türe und ließ ihn von der Dienerin, die erschienen war, ins Kinderzimmer bringen.
Mr. Carlyles Blicke waren voller empörten Mitgefühls. „Ist das wahr?“, fragte er mit leiser Stimme, als sie zu ihm zurückkehrte. „Sie brauchen tatsächlich einen Freund.“
„Ich muss mein Los ertragen“, erwiderte sie und gab damit dem Impuls nach, der sie veranlasste, sich Mr. Carlyle anzuvertrauen. „Zumindest bis Lord Mount Severn zurückkommt.“
„Und dann?“
„Ich weiß es wirklich nicht“, sagte sie, wobei die widerspenstigen Tränen ihr schneller in die Augen stiegen, als sie sie herunterschlucken konnte. „Er kann mir kein anderes Zuhause bieten; aber bei Lady Mount Severn kann und werde ich nicht bleiben. Sie würde mir das Herz brechen, wie sie mir schon beinahe den Mut gebrochen hat. Das habe ich von ihr nicht verdient, Mr. Carlyle.“
„Nein, das haben Sie ganz sicher nicht“, erwiderte er liebenswürdig. „Ich würde Ihnen so gern helfen! Was kann ich tun?“
„Sie können nichts tun“, sagte sie. „Was kann überhaupt irgendjemand tun?“
„Ich würde Ihnen sehr, sehr gern helfen!“, wiederholte er. „East Lynne war für Sie alles in allem kein angenehmes Zuhause, aber es scheint, als hätten Sie es noch schlechter getroffen, nachdem Sie es verlassen haben.“
„Kein angenehmes Zuhause?“, fragte sie. Die Erinnerungen erschienen ihr in diesem Augenblick köstlich, aber man muss daran denken, dass alle Dinge im Vergleich beurteilt werden. „Doch, es war angenehm; ein so angenehmes Zuhause werde ich nie wieder haben. Mr. Carlyle, machen Sie mir East Lynne nicht verächtlich! Würde ich doch nur erwachen und feststellen, dass die letzten Monate nichts anderes als ein böser Traum waren! Dass ich meinen lieben Vater lebendig wiederfinden könnte! Dass wir immer noch friedlich in East Lynne leben. Das wäre für mich heute ein wahres Paradies.“
Was sollte Mr. Carlyle darauf sagen? Welches Gefühl brachte seine Miene in Bewegung, hemmte seinen Atem und färbte sein Gesicht blutrot? Sein Schutzengel wachte sicher nicht über ihm, sonst wären diese Worte nie gesprochen worden.
„Es gibt nur einen Weg“ begann er, wobei er ihre Hand nahm und nervös damit spielte, vermutlich ohne sich dessen bewusst zu sein. „Nur einen Weg, wie Sie nach East Lynne zurückkehren könnten. Und dieser Weg – vielleicht sollte ich mir nicht die Freiheit erlauben, darauf hinzuweisen.“
Sie sah ihn an und wartete auf eine Erklärung.
„Wenn meine Worte Sie beleidigen, Lady Isabel, gebieten Sie ihnen Einhalt, wie meine Dreistigkeit es verdient, und verzeihen Sie mir. Darf ich … darf ich es wagen … Ihnen anzubieten, dass sie nach East Lynne als Hausherrin zurückkehren?“
Sie begriff nicht im Mindesten, was er meinte: Der Inhalt seiner Worte dämmerte ihr überhaupt nicht. „Nach East Lynne als Hausherrin zurückkehren?“, wiederholte sie in völliger Verblüffung.
„Und als meine Ehefrau?“
Jetzt gab es keine Möglichkeit des Missverstehens mehr. Schreck und Überraschung waren groß. Sie hatte hier an Mr. Carlyles Seite gestanden, hatte im Vertrauen mit ihm gesprochen, ihn hoch geschätzt und ein Gefühl gehabt, als sei er ihr aufrichtigster Freund auf Erden. Sie hatte im Herzen an ihm gehangen wie an einem mächtigen Ort der Zuflucht, hatte ihn fast so geliebt, wie sie einen Bruder lieben würde, hatte zugelassen, dass ihre Hand in der seinen blieb. Aber seine Ehefrau zu sein! Der Gedanke hatte sich ihr bis zu diesem Augenblick nie in irgendeiner Form dargestellt; das erste Gefühl in ihr war der völlige Widerspruch, und ihre erste Bewegung, um ihn auszudrücken, bestand in dem Versuch, sich selbst und ihre Hand von ihm zurückzuziehen.
Aber es geschah nicht; Mr. Carlyle ließ es nicht zu. Er hielt nicht nur diese Hand fest, sondern nahm auch die andere und sprach jetzt, da das Eis gebrochen war, beredte Worte der Liebe. Keine inhaltslosen, wohlklingenden Phrasen von Herz und Schmerz und dass er für sie sterben würde, wie ein anderer sie vielleicht geäußert hätte, sondern ernste, aus dem Innersten kommende Worte der tiefen Zärtlichkeit, die darauf berechnet waren, nicht nur ihre Ohren und ihr Herz zu gewinnen, sondern die guten Seiten der Seele; und wäre ihre Fantasie nicht von jenem „anderen“ erfüllt gewesen, sie hätte möglicherweise hier und jetzt Ja gesagt.
Plötzlich wurden sie unterbrochen. Lady Mount Severn trat ein und begriff die Szene auf den ersten Blick, verstand Mr. Carlyles gebeugte Haltung der Ehrerbietung, seine Umklammerung der Hände und Isabels verblüffte, errötete Miene. Sie warf den Kopf und ihre kleine, vorwitzige Nase in die Höhe und blieb auf dem Teppich wie angewurzelt stehen; ihr eisiger Blick verlangte so offensichtlich eine Erklärung, wie ein Blick es nur kann. Mr. Carlyle wandte sich zu ihr, und um Isabel zu verschonen, stellte er sich selbst vor. Isabel hatte gerade noch die Geistesgegenwart, den Namen zu nennen: „Lady Mount Severn.“
„Es tut mir leid, dass Lord Mount Severn abwesend ist, denn ich habe die Ehre, ihn zu kennen“, sagte er. „Ich bin Mr. Carlyle.“
„Ich habe von Ihnen gehört“, erwiderte ihre Ladyschaft, wobei sie sein gutes Aussehen musterte und verärgert war, dass er seine Ehrerbietung da erwies, wo sie erwiesen wurde, „aber ich habe noch nicht gehört, dass Sie und Lady Isabel in einem Verhältnis so außerordentlicher Vertraulichkeit stehen, dass … dass …“
„Madam“, unterbrach er sie, während er ihr einen Stuhl gab und selbst auf einem anderen Platz nahm, „wir standen nie in einem Verhältnis außerordentlicher Vertraulichkeit. Ich habe Lady Isabel gerade gebeten, dies zuzulassen; ich habe sie gebeten, meine Frau zu werden.“
Das Geständnis war für die Gräfin wie ein Balsamschauer, und ihre üble Laune verwandelte sich in Sonnenschein. Hier war die Lösung für ihre große Schwierigkeit, das Schlupfloch, durch das sie ihre bete noire, die verhasste Isabel, loswerden konnte. Eine Welle der Dankbarkeit erleuchtete ihr Gesicht, und auf einmal war sie gegenüber Mr. Carlyle die Liebenswürdigkeit selbst.
„Wie zutiefst dankbar muss Isabel Ihnen sein“, säuselte sie. „Ich spreche ganz offen, Mr. Carlyle, denn ich weiß, dass Ihnen bekannt ist, in welch schutzlosem Zustand sie durch die Leichtfertigkeit des Earl zurückgeblieben ist, sodass eine Ehe – jedenfalls eine Ehe in höheren Schichten – für sie fast nicht infrage kommt. Ich habe gehört, East Lynne sei ein wunderschöner Ort.“
„Jedenfalls für seine Größe; es ist nicht groß“, erwiderte Mr. Carlyle, während er sich erhob, denn Isabel hatte sich ebenfalls erhoben und kam auf ihn zu.
„Und wie, bitte, lautet Lady Isabels Antwort?“, fragte die Gräfin schnell, wobei sie sich ihr zuwandte.
Isabel ließ sich nicht dazu herab, ihr eine Antwort zu geben, sondern wandte sich zu Mr. Carlyle und sprach leise mit ihm.
„Würden Sie mir einige Stunden Bedenkzeit geben?“
„Ich bin nur allzu glücklich, dass Sie es bedenken wollen, denn das gibt mir Grund zur Hoffnung“, war seine Antwort, während er die Tür öffnete, damit sie hinausgehen konnte. „Ich werde heute Nachmittag wieder hier sein.“
In der Einsamkeit ihres Zimmers führte Lady Isabel mit sich selbst ein verwirrendes Zwiegespräch, während Mr. Carlyle über Mittel und Wege zur Behandlung von Lady Mount Severn nachdachte. Isabel war kaum mehr als ein Kind, und kindlich waren ihre Überlegungen. Sie blickte weder in die Weite noch in die Tiefe: Ihrem Blick präsentierte sich nur der seichte, spürbare Aspekt der Angelegenheit. Mr. Carlyle war kein Mann ihres eigenen Ranges, aber daran dachte sie kaum; East Lynne schien ihr ein angenehmer Ort zum Leben zu sein, und was Größe, Schönheit und Bedeutung anging, war es dem Haus, in dem sie sich jetzt befand, bei weitem überlegen. Sie vergaß, dass ihre Stellung in East Lynne als Mr. Carlyles Ehefrau eine ganz andere sein würde als die, welche sie als Lord Mount Severns Tochter innegehabt hatte; sie vergaß, dass sie an ein stilles Haus gebunden sein würde, ausgeschlossen von der großen Welt, von dem Pomp und den Eitelkeiten, in die sie hineingeboren war. Sie mochte Mr. Carlyle sehr; es bereitete ihr Vergnügen, mit ihm zu sprechen; sie war gern mit ihm zusammen; kurz gesagt, hätte die Gefahr bestanden, dass sie sich in Mr. Carlyle verliebte, hätte es da nicht jene andere, von schlechten Vorzeichen begleitete Fantasie gegeben, die sich in ihr breitgemacht hatte. Und ach! Für immer von jener bitteren Abhängigkeit von Lady Mount Severn befreit zu sein – nach alledem erschien ihr East Lynne wirklich so, wie sie es genannt hatte: als Paradies.
„Bis hierher sieht es günstig aus“, rief die arme Isabel im Geiste aus, „aber die Frage hat auch eine andere Seite. Es ist nicht nur so, dass ich Mr. Carlyle nicht liebe, sondern ich fürchte auch, ich liebe Francis Levison, oder ich liebe ihn beinahe. Wenn er mich doch fragen würde, ob ich seine Frau werden will! – sonst hätte ich ihn besser nie kennengelernt.“
Isabels innerer Monolog wurde unterbrochen, weil Mrs. Levison und die Gräfin eintraten. Was die Letztere zu der alten Dame gesagt hatte, um sie für ihre Sache zu gewinnen, wusste sie selbst am besten, aber sie war darin sehr beredt. Beide wollten Isabel mit allen nur denkbaren Argumenten veranlassen, Mr. Carlyles Antrag anzunehmen. Die alte Dame erklärte, man habe ihr nie jemanden vorgestellt, von dem sie so eingenommen gewesen sei, und sie könne unmöglich behaupten, es sei anders; er sei mehr wert als ein Dutzend hohlköpfiger Männer aus der großen weiten Welt.
Isabel hörte zu, schwankte in der einen und anderen Richtung, und als der Nachmittag kam, schmerzte ihr Kopf vom vielen Nachdenken. Der Stolperstein, den sie nicht überwinden konnte, hieß Francis Levison. Von ihrem Fenster aus sah sie Mr. Carlyle näherkommen, und als sie hinunter in den Salon ging, wusste sie nicht im Mindesten, wie ihre Antwort lauten würde. Schattenhaft kam ihr die Idee, ihn um mehr Zeit zu bitten und ihm ihre Antwort schriftlich mitzuteilen.
Im Salon war Francis Levison, und ihr Herz pochte heftig; das Pochen hätte sie davon überzeugen können, dass sie keinen anderen heiraten sollte.
„Wo haben Sie sich versteckt?“, rief er. „Haben Sie von unserem Missgeschick mit der Ponykutsche gehört?“
„Nein“, erwiderte sie.
„Ich habe Emma in die Stadt gefahren. Das Pony hat gescheut und ausgeschlagen, ist ausgerutscht und auf die Knie gefallen; daraufhin hat sie Angst bekommen, ist ausgestiegen und zu Fuß zurückgegangen. Also habe ich dem Biest eine Strafe gegeben und es rennen lassen, bis es zu Hause im Stall war, und so kam ich gerade rechtzeitig, damit man mich Mr. Carlyle vorstellen konnte. Er scheint ein durch und durch guter Bursche zu sein, Isabel. Ich kann Ihnen nur gratulieren.“
„Was!“, rief sie aus.
„Erschrecken Sie nicht. Wir gehören alle zur Familie, und Mylady hat es mir gesagt; anderswo würde ich es nicht verraten. Sie sagt, East Lynne sei ein erstrebenswerter Ort; viel Glück, Isabel.“
„Danke“, gab sie in sarkastischen Ton zurück, aber ihr Hals war rau, und ihre Lippen bebten. „Sie sind mit ihren Glückwünschen zu voreilig, Captain Levison.“
„Wirklich? Dann halte ich meine guten Wünsche zurück, bis der richtige Mann kommt. Ich selbst bin ja außen vor und wage nicht daran zu denken, ich könne in den glücklichen Zustand geraten“, fügte er vielsagend hinzu. „Ich habe wie andere in solchen Träumen geschwelgt, aber ich kann es mir nicht leisten, sie ernsthaft zu verfolgen. Ich bin ein armer Mann mit unsicheren Aussichten, und vielleicht bleibt mir nichts anderes übrig, als bis an mein Lebensende den Schmetterling zu spielen.“
Mit diesen Worten verließ er das Zimmer. Isabel konnte ihn unmöglich missverstehen, aber ihr schoss zum ersten Mal der Gedanke durch den Kopf, er könne falsch und herzlos sein. Ein Diener kam und führte Mr. Carlyle herein; an ihm war nichts Falsches oder Herzloses. Er schloss die Tür und kam auf sie zu, aber sie sagte nichts. Ihre Lippen waren weiß und zitterten. Mr. Carlyle wartete ab.
„Nun“, sagte er schließlich in sanftem Ton, „haben Sie sich entschlossen, mein Gebet zu erhören?“
„Ja. Aber …“ Sie konnte nicht weiter sprechen. Zuerst die eine, dann die andere Aufregung – es fiel ihr schwer, ihre Gefühle zu zügeln. „Aber … ich wollte Ihnen sagen …“
„Zur Zeit“, flüsterte er, wobei er sie zu einem Sofa führte, „können wir es uns beide leisten, noch zu warten. Ach, Isabel, du machst mich sehr glücklich!“
„Ich sollte Ihnen sagen, ich muss Ihnen sagen“, begann sie erneut inmitten hysterischer Tränen. „Ich habe zwar zu Ihrem Antrag ja gesagt, aber ich bin noch nicht … es kam so überraschend“, stammelte sie. „Ich mag Sie sehr gern; ich schätze und respektiere Sie; aber ich liebe Sie nicht.“
„Es würde mich wundern, wenn es anders wäre. Aber du wirst zulassen, dass ich mir deine Liebe verdiene, Isabel?“
„Oh ja“, erwiderte sie voller Ernst. „Darauf hoffe ich.“
Er zog sie näher zu sich, beugte das Gesicht nach vorn und nahm von ihren Lippen den ersten Kuss. Isabel war passiv; sie nahm an, sie hätte sich das Recht erworben, es zu sein. „Meine Liebste! Mehr verlange ich nicht.“