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ОглавлениеKapitel 1 Lady Isabel
In einem Sessel der geräumigen, hübschen Bibliothek seines Wohnhauses saß William, Earl of Mount Severn. Seine Haare waren grau, die Glätte seiner breiten Stirn wurde durch vorzeitige Runzeln verunstaltet, und sein einstmals attraktives Gesicht trug die blassen, unverkennbaren Spuren der Ausschweifung. Einer seiner Füße ruhte, in Leinentücher gehüllt, auf dem weichen Samt der Ottomane und sprach so deutlich von Gicht, wie jemals ein Fuß davon gesprochen hatte. Wenn man den Mann ansah, wie er dort saß, hatte es den Anschein, als sei er vor der Zeit gealtert. So war es auch. Er zählte knapp neunundvierzig Jahre, aber in allem außer den Jahren war er ein alter Mann.
Eine bekannte Gestalt war er gewesen, der Earl of Mount Severn. Er war zwar weder ein angesehener Politiker noch ein großer General oder ein herausragender Staatsmann, ja nicht einmal aktives Mitglied im Oberhaus; all das waren nicht die Gründe, warum der Name des Earl in aller Munde gewesen war. Vielmehr kannte die Welt den Lord Mount Severn als Leichtsinnigsten unter den Leichtsinnigen, als Verschwenderischsten unter den Verschwendern, als größten aller Spieler und Lebenslustigsten, der die Lebenslustigen übertraf. Man sagte, seine Schwächen seien die in seinem Kopf; ein besseres Herz oder eine großzügigere Seele habe nie in einem menschlichen Körper gewohnt; und darin steckte viel Wahres. Für ihn wäre es gut und richtig gewesen, hätte er einfach als William Vane gelebt und sein Leben beendet. Bis zu seinem fünfundzwanzigsten Jahr war er fleißig und beständig gewesen, war seinen Verpflichtungen in der Juristenschule nachgekommen und hatte von früh bis spät studiert. Der nüchterne Fleiß von William Vane war unter den angehenden Anwälten in seiner Umgebung zu einem geflügelten Wort geworden; den Richter Vane nannten sie ihn ironisch; und vergeblich strebten sie danach, ihn in den Müßiggang und das Vergnügen zu locken. Der junge Vane war ehrgeizig und wusste, dass er sich mit seinem Aufstieg in der Welt auf seine eigenen Begabungen und Bestrebungen verlassen musste. Er kam aus einer guten, aber armen Familie und zählte den alten Earl of Mount Severn zu seinen Verwandten. Der Gedanke, dass er die Nachfolge in der Grafenwürde antreten könnte, kam ihm nie: Zwischen ihm und dem Titel standen drei gesunde Leben, zwei davon jung. Und doch waren diese weggestorben – einer am Gehirnschlag, einer in Afrika am Fieber, der dritte beim Bootfahren in Oxford; und so fand sich William Vane, der junge Student aus dem Temple, plötzlich als Earl of Mount Severn wieder, und als rechtmäßiger Bezieher von sechzigtausend im Jahr.
Als erstes kam ihm der Gedanke, er werde nie in der Lage sein, das Geld auszugeben, ja man könne gar nicht Jahr für Jahr eine solche Summe verbrauchen. Es war ein Wunder, dass die Beweihräucherung ihm nicht von vornherein den Kopf verdrehte, denn alle Klassen, von einem königlichen Herzog an abwärts, umschwärmten, umschmeichelten und hätschelten ihn. Er wurde zum attraktivsten Mann seiner Zeit, zum Löwen in der Gesellschaft; denn unabhängig von seinem frisch erworbenen Wohlstand und Titel war er von distinguiertem Aussehen und faszinierenden Manieren. Aber leider ließ die Klugheit, die William Vane, dem armen Studenten der Rechtswissenschaft, in seinen einsamen Kammern im Temple innegewohnt hatte, den jungen Earl of Mount Severn völlig im Stich, und er nahm seine Laufbahn mit einer solchen Geschwindigkeit in Angriff, dass alle biederen Menschen sagten, er werde sich Hals über Kopf ruinieren und zum Teufel gehen.
Aber als Angehöriger des Hochadels, dessen Erträge bei sechzigtausend pro Jahr liegen, ruiniert man sich nicht von einem Tag auf den anderen. Jetzt, in seinem neunundvierzigsten Jahr, saß der Earl in seiner Bibliothek, und der Ruin war immer noch nicht eingetreten – das heißt, er hatte ihn nicht überrollt. Aber die Verlegenheiten, in denen er sich befand und die sowohl zur Zerstörung seiner Seelenruhe geführt hatten als auch das Verderben seiner Existenz gewesen waren – wer kann sie beschreiben? Die Öffentlichkeit wusste recht gut darüber Bescheid, seine privaten Freunde kannten sie noch besser und seine Gläubiger am besten; aber niemand außer ihm selbst wusste oder konnte auch nur ahnen, welche beunruhigenden Qualen sein Los waren und ihn beinahe in den Wahnsinn trieben. Hätte er den Dingen vor Jahren geradewegs ins Gesicht gesehen und gespart, er hätte seine Position wiedergewinnen können; aber er hatte getan, was die meisten Menschen in solchen Fällen tun, hatte den Tag der Wahrheit auf unbestimmte Zeit vertagt und seine ungeheure Liste der Schulden weiter verlängert. Jetzt rückte die Stunde der Offenbarung und des Ruins unaufhaltsam heran.
Vielleicht dachte der Earl das auch selbst angesichts einer riesigen Masse von Papieren, die sich vor ihm über den Bibliothekstisch verteilten. Seine Gedanken weilten in der Vergangenheit. Es war eine törichte Verbindung gewesen, eine Gretna-Green-Verbindung der Liebe wegen, töricht, soweit die Klugheit reichte; aber die Gräfin hatte ihm als liebevolle Ehefrau zur Seite gestanden, hatte seine Torheiten und seine Nachlässigkeit ertragen, war für ihr einziges Kind eine bewunderungswürdige Mutter gewesen. Nur ein Kind hatten sie bekommen, und in dessen dreizehntem Jahr war die Gräfin gestorben. Wären sie mit einem Sohn gesegnet gewesen – über die langjährige Enttäuschung stöhnte der Graf noch heute –, er hätte vielleicht einen Ausweg aus seinen Schwierigkeiten gefunden. Sobald der Junge volljährig gewesen wäre, hätte er in gemeinsamer Anstrengung mit ihm die Kosten reduziert, und …
„Mylord“, sagte ein Diener, der gerade den Raum betreten hatte und die Luftschlösser des Earl einriss, „ein Gentleman möchte mit Ihnen sprechen.“
„Wer denn?“ rief der Earl schneidend, wobei er die Karte, die der Mann ihm brachte, nicht beachtete. Kein Unbekannter, selbst wenn er die äußeren Würden eines ausländischen Botschafters trug, wurde jemals kurzerhand zu Lord Mount Severn vorgelassen. Jahrelange Mahnungen hatten die Bediensteten Vorsicht gelehrt.
„Hier ist seine Karte, Mylord. Es ist Mr. Carlyle aus West Lynne.“
„Mr. Carlyle aus West Lynne“, seufzte der Earl, dessen Fuß gerade einen schrecklichen Schmerzstich spüren ließ. „Was will er? Führen Sie ihn herein.“
Der Bedienstete tat wie geheißen und führte Mr. Carlyle ins Zimmer. Sehen wir uns den Besucher gut an, denn er wird in dieser Geschichte seine Rolle zu spielen haben. Er war ein sehr großer Mann von siebenundzwanzig Jahren und bemerkenswert edler Erscheinung. Ein wenig hatte er die Tendenz, den Kopf zu neigen, wenn er mit jemandem sprach, der kleiner war als er selbst. Es war eine eigenartige Gewohnheit, fast könnte man von einer Gewohnheit zur Verbeugung sprechen; auch sein Vater hatte sie bereits besessen. Wenn man ihn darauf ansprach, lachte er und sagte, er sei sich dessen nicht bewusst. Seine Gesichtszüge waren angenehm, sein Teint blass und klar, die Haare dunkel, und die vollen Augenlider hingen ein wenig über den tiefgrauen Augen. Insgesamt war es eine Haltung, die Männer und Frauen gern betrachteten – das Zeichen eines ehrbaren, aufrichtigen Wesens; man hätte es weniger ein hübsches als vielmehr ein angenehmes und vornehmes Gesicht genannt. Zwar war er nur der Sohn eines Kleinstadtanwalts und immer dazu bestimmt gewesen, auch selbst Anwalt zu werden, aber er besaß die Ausbildung eines Gentleman, war in Rugby erzogen worden und hatte seinen Abschluss in Oxford gemacht. In der geradlinigen Art eines Geschäftsmannes ging er sofort auf den Earl zu – es war die Art eines Mannes, der in Geschäften kam.
„Mr. Carlyle“, sagte der Earl und streckte die Hand aus – er hatte immer als der liebenswürdigste Adlige seiner Zeit gegolten – „ich freue mich, Sie zu sehen. Wie Sie bemerken werden, kann ich nicht aufstehen, zumindest nicht ohne große Schmerzen und Unbequemlichkeit. Mein Feind, die Gicht, hat wieder von mir Besitz ergriffen. Nehmen Sie Platz. Wohnen sie hier im Ort?“
„Ich bin gerade von West Lynne gekommen. Es war der wichtigste Zweck meiner Reise, Eure Lordschaft zu sprechen.“
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte der Earl unbehaglich. Ihm war der Verdacht durch den Kopf gegangen, Mr. Carlyle könne für einen seiner vielen lästigen Gläubiger tätig sein.
Mr. Carlyle zog seinen Stuhl näher zum Earl und sagte leise:
„Mylord, mir ist ein Gerücht zu Ohren gekommen, wonach East Lynne zum Verkauf steht.“
„Einen Augenblick, Sir“, rief der Earl mit einer gewissen Zurückhaltung, um nicht zu sagen Hochnäsigkeit in der Stimme, „sprechen wir hier vertraulich als Ehrenmänner miteinander, oder verbirgt sich dahinter etwas anderes?“
„Ich verstehe Sie nicht“, sagte Mr. Carlyle.
„Mit einem Wort – entschuldigen Sie, dass ich deutlich werde, aber ich muss wissen, wo ich stehe – sind Sie im Auftrag eines meiner niederträchtigen Gläubiger hier, um mir Informationen aus der Nase zu ziehen, die Sie ansonsten nicht bekämen?“
„Mylord“, entgegnete der Besucher, „zu einer so unehrenhaften Handlungsweise wäre ich nicht in der Lage. Ich weiß, dass man einem Anwalt zutraut, nur sehr lockere Vorstellungen von dem Begriff der Ehre zu haben, aber Sie können mich kaum verdächtigen, dass ich mich schuldig gemacht hätte, unter der Hand gegen Sie zu arbeiten. Soweit ich mich erinnere, habe ich mich nie in meinem Leben eines niederträchtigen Kunstgriffs bedient, und ich glaube auch nicht, dass dies in Zukunft geschehen wird.“
„Verzeihen Sie mir, Mr. Carlyle. Wenn Sie nur die Hälfte der Tricks und Listen kennen würden, mit denen man mir mitgespielt hat, würden Sie sich nicht wundern, dass ich die ganze Welt im Verdacht habe. Fahren Sie mit Ihren Ausführungen fort.“
„Ich habe gehört, dass East Lynne privat zum Verkauf steht; Ihr Rechtsbeistand hat so etwas im Vertrauen mir gegenüber durchblicken lassen. Wenn es stimmt, wäre ich gern der Käufer.“
„Für wen?“, erkundigte sich der Earl.
„Für mich selbst.“
„Für Sie!“, lachte der Earl. „Rechtsanwalt kann wahrhaftig nicht so ein schlechter Beruf sein, Carlyle.“
„Das ist er auch nicht“, gab Mr. Carlyle zurück, „jedenfalls wenn man so umfangreiche, erstklassige Beziehungen hat wie wir. Aber man muss daran denken, dass mein Onkel mir ein schönes Vermögen hinterlassen hat, und von meinem Vater war es ein großes.“
„Ich weiß. Ebenfalls Einnahmen aus der Anwaltstätigkeit.“
„Nicht nur. Meine Mutter hat ein Vermögen mit in die Ehe gebracht, und damit konnte mein Vater erfolgreich spekulieren. Ich bin auf der Suche nach einem geeigneten Anwesen, in das ich mein Geld investieren könnte, und East Lynne wäre für mich geeignet, vorausgesetzt, ich bekomme das Vorkaufsrecht und wir können uns über die Konditionen einigen.“
Lord Mount Severn grübelte einen Augenblick, bevor er etwas sagte. „Mr. Carlyle“, setzte er an, „meine Angelegenheiten stehen sehr schlecht, und irgendwo muss ich schnelles Geld auftreiben. Nun ist East Lynne nicht an die Familie gebunden, und es ist auch nicht annähernd bis zu seinem Wert mit Hypotheken belastet, aber letztere Tatsache ist, wie Sie sich vorstellen können, der Welt nicht allgemein geläufig. Als ich es vor achtzehn Jahren zu einem guten Preis kaufte, waren Sie, soweit ich mich erinnere, der Anwalt der Gegenpartei.“
„Mein Vater“, lächelte Mr. Carlyle. „Ich war damals noch ein Kind.“
„Natürlich, ich hätte sagen sollen, Ihr Vater. Wenn ich East Lynne verkaufe, bekomme ich ein paar tausend in die Hand, nachdem die Ansprüche daran befriedigt sind; ich habe kein anderes Mittel, um Wind in meine Segel zu bekommen, und deshalb habe ich mich entschlossen, mich davon zu trennen. Aber eines müssen Sie verstehen: Wenn allgemein bekannt wird, dass East Lynne nicht mehr mir gehört, habe ich die Hornissen um die Ohren; das Ganze muss also vollkommen diskret ablaufen. Verstehen Sie das?“
„Vollkommen“, erwiderte Mr. Carlyle.
„Ich nehme an, Sie würden es ebenso schnell kaufen wie irgendein anderer, falls wir uns, wie Sie sagen, auf die Konditionen einigen können.“
„Was erwarten Eure Lordschaft dafür – als grobe Schätzung?“
„Was die Einzelheiten angeht, muss ich Sie an meine geschäftlichen Vertreter Warburton & Ware verweisen. Nicht weniger als siebzigtausend Pfund.“
„Zu viel, Mylord“, rief Mr. Carlyle entschieden.
„Das ist noch nicht einmal sein Wert“, gab der Earl zurück.
„Bei solchen Notverkäufen wird nie der wahre Wert erzielt“, antwortete der Anwalt unverblümt. „Bevor mir Beauchamp den Hinweis gab, hatte ich gedacht, East Lynne sei für die Tochter Eurer Lordschaft vorgesehen.“
„Für sie ist nichts vorgesehen“ antwortete der Earl, wobei sich das Runzeln seiner Stirn deutlicher zeigte. „Das kommt von euren gedankenlosen Weglauf-Ehen. Ich habe mich in die Tochter von General Conway verliebt, und sie ist mit mir weggelaufen wie ein Trottel; das heißt, was die Unannehmlichkeiten angeht, waren wir beide Trottel. Der General hatte etwas gegen mich und sagte, ich müsse mir die Hörner abstoßen, bevor er mir Mary geben könne; also habe ich sie mit nach Gretna Green genommen, und sie wurde ohne Ehevertrag zur Gräfin von Mount Severn. Wenn man alles zusammennimmt, war es eine unglückselige Affäre. Als der General erfuhr, dass sie durchgebrannt war, hat es ihn umgebracht.“
„Umgebracht!“, warf Mr. Carlyle ein.
„Ja, wirklich. Er war herzkrank, und die Aufregung hat zur Krise geführt. Von diesem Augenblick an war meine arme Ehefrau nie mehr glücklich; sie machte sich selbst für den Tod ihres Vaters verantwortlich, und ich glaube, das führte dazu, dass auch sie starb. Sie war jahrelang krank; die Ärzte nannten es Schwindsucht; aber es war eher ein gefühlloses Dahinschwinden, und die Schwindsucht war in ihrer Familie nie vorgekommen. Weglauf-Ehen sind nie vom Glück gesegnet; das ist mir seither in vielen, vielen Fällen aufgefallen; so etwas wendet sich immer zum Schlechten.“
„Man hätte auch nach der Eheschließung noch einen Vertrag schließen können“, warf Mr. Carlyle ein, denn der Earl schwieg und schien seinen Gedanken nachzuhängen.
„Ich weiß; aber es geschah nicht. Meine Frau und ich besaßen kein Vermögen; ich war in meiner Laufbahn der Ausschweifungen schon weit vorangekommen, und keiner von uns dachte daran, für zukünftige Kinder vorzusorgen; oder wenn wir daran dachten, taten wir es nicht. Ein altes Sprichwort, Mr. Carlyle, sagt: Was man jederzeit tun kann, wird nie getan.“
Mr. Carlyle verbeugte sich.
„Mein Kind ist also mittellos“, fuhr der Earl mit einem unterdrückten Seufzen fort. „Wenn ich in ernster Stimmung bin, geht mir immer wieder der Gedanke durch den Kopf, wie peinlich es für sie sein könnte, wenn ich sterbe, bevor sie im Leben ihren Platz gefunden hat. Sie wird gut heiraten, daran gibt es wenig Zweifel, denn sie besitzt Schönheit in seltenem Maße und ist ohne Leichtsinn oder Ziererei aufgewachsen, wie es sich für ein englisches Mädchen gehört. In den ersten zwölf Jahren ihres Lebens wurde sie von ihrer Mutter erzogen, und die war abgesehen von der törichten Handlung, zu der ich sie überredet habe, die Güte und Vornehmheit selbst; danach gab es eine bewundernswerte Gouvernante. Keine Angst, sie wird nicht nach Gretna Green flüchten.“
„Sie war ein sehr liebenswertes Kind“, stimmte der Anwalt zu. „Daran erinnere ich mich.“
„Jaja; Sie haben sie in East Lynne zu Lebzeiten ihrer Mutter gesehen. Aber kommen wir zurück aufs Geschäftliche. Wenn Sie der Käufer des Anwesens East Lynne werden, Mr. Carlyle, muss es unter dem Siegel der Verschwiegenheit geschehen. Das Geld, das es mir bringt, nachdem ich die Hypothek abgelöst habe, muss ich, wie ich Ihnen gesagt habe, für meine privaten Zwecke nutzen; und Sie wissen, dass ich keinen Farthing davon sehen werde, wenn die breite Öffentlichkeit das Geringste von der Transaktion erfährt. In den Augen der Welt muss Lord Mount Severn der Eigentümer von East Lynne sein – zumindest noch für kurze Zeit danach. Vielleicht haben Sie dagegen keine Einwände.“
Mr. Carlyle dachte nach, bevor er antwortete; dann wurde das Gespräch wieder aufgenommen und man einigte sich darauf, dass er am nächsten Morgen als Erstes bei Warburton und Ware vorsprechen und sich mit ihnen beraten würde. Als er sich erhob und gehen wollte, war es schon spät.
„Bleiben Sie und essen Sie mit mir zu Abend“, sagte der Earl.
Mr. Carlyle zögerte und blickte an seiner Kleidung herunter – einem einfachen, eines Gentlemans würdigen Morgenanzug, der aber sicher nicht das richtige Gewand für ein Abendessen am Tisch eines Adligen war.
„Ach, das macht nichts“, sagte der Earl. „Wir werden ganz allein sein, abgesehen von meiner Tochter. Mrs. Vane vom Castle Marling wohnt bei uns. Sie ist gekommen und hat mein Kind mit in den Salon gebracht, aber soweit ich gehört habe, wird sie heute auswärts essen. Wir werden also ganz unter uns sein. Gestatten sie mir zu läuten, Mr. Carlyle.“
Der Diener trat ein.
„Fragen Sie, ob Mrs. Vane zu Hause speist“, sagte der Earl.
„Mrs. Vane speist außer Haus, Mylord“, lautete die sofortige Antwort des Mannes. „Der Wagen steht schon vor der Tür.“
„Sehr gut. Mr. Carlyle bleibt hier.“
Um sieben Uhr wurde das Abendessen angekündigt, und der Earl rollte ins Nachbarzimmer. Als er mit Mr. Carlyle durch die eine Tür hereinkam, trat jemand anderes auf der gegenüberliegenden Seite ein. Wer – was – war es? Mr. Carlye sah hin und war sich nicht ganz sicher, ob er ein menschliches Wesen vor sich hatte – fast dachte er, es sei ein Engel.
Eine leichte, grazile, mädchenhafte Gestalt; ein Gesicht von überragender Schönheit, einer Schönheit, wie man sie nur selten sieht, außer in der Fantasie eines Malers; dunkle, glänzende Locken, glatt wie die eines Kindes, fielen über Hals und Schultern. Helle, zarte, mit Perlen geschmückte Arme und ein fließendes Gewand mit kostbaren weißen Bändern. Der ganze Anblick wirkte auf den Anwalt, als käme er aus einer besseren Welt.
„Meine Tochter, Mr. Carlyle, die Lady Isabel.“
Sie nahmen ihre Plätze am Tisch ein. Lord Mount Severn saß trotz seiner Gicht und seines Fußschemels am Kopf, die junge Dame und Mr. Carlyle einander gegenüber. Mr. Carlyle hatte sich selbst nie für einen besonderen Bewunderer weiblicher Schönheit gehalten, aber die außergewöhnliche Anmut der jungen Frau vor ihm raubte ihm fast die Sinne und die Selbstbeherrschung. Und doch faszinierte ihn weniger der vollkommene Umriss der außergewöhnlichen Züge oder das Damastweiß der zarten Wangen oder die üppig fallenden Haare; nein, es war der liebenswürdige Ausdruck der weichen, dunklen Augen. Nie in seinem Leben hatte er so angenehme Augen gesehen. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden, und als er sich mit ihrem Gesicht vertraut gemacht hatte, wurde ihm klar, dass in ihrem Charakter ein trauriger, bekümmerter Zug lag; man bemerkte ihn nur hin und wieder, wenn die Gesichtszüge entspannt waren, und dann vorwiegend in den Augen, die er so bewunderte. Ein solcher unbewusst bekümmerter Ausdruck zeigt sich nur dann, wenn er ein sicheres Kennzeichen für Kummer und Leid ist; aber das verstand Mr. Carlyle nicht. Und wer würde Kummer schon mit der voraussichtlich glänzenden Zukunft von Isabel Vane in Verbindung bringen?
„Isabel“, bemerkte der Earl, „was bist du herausgeputzt!“
„Ja, Papa. Ich wollte die alte Mrs. Levison nicht auf den Tee warten lassen. Sie nimmt ihn gern früh, und Mrs. Vane musste sie bis zum Abendessen vertrösten. Es war halb sieben, als sie von hier abgefahren ist.“
„Ich hoffe, du kommst heute Abend nicht zu spät, Isabel.“
„Das hängt von Mrs. Vane ab.“
„Dann wird es sicher spät. Wenn die jungen Damen in dieser unserer modischen Welt die Nacht zum Tage machen, ist das schlecht für ihre frische Röte. Was sagen Sie dazu, Mr. Carlyle?“
Mr. Carlyle sah die frische Röte auf den Wangen gegenüber am Tisch; sie sah so leuchtend aus, dass sie nicht schnell verblassen konnte.
Als das Abendessen zu Ende war, trat ein Dienstmädchen ein. Sie hatte einen weißen Kaschmirmantel in der Hand, legte ihn über die Schultern der jungen Dame und sagte, der Wagen stehe bereit.
Lady Isabel ging zum Earl. „Auf Wiedersehen, Papa.“
„Gute Nacht, mein Liebes“, antwortete er, zog sie an sich und küsste ihr liebliches Gesicht. „Sage Mrs. Vane, ich möchte nicht, dass du bis zum frühen Morgen ausgehst. Du bist noch ein Kind. Mr. Carlyle, würden Sie läuten? Mir ist es verwehrt, meine Tochter zum Wagen zu begleiten.“
„Wenn Eure Lordschaft mir gestatten würden – wenn Lady Isabel es mir verzeiht, dass jemand sie begleitet, der es kaum gewohnt ist, jungen Damen aufzuwarten, wäre es mir ein Vergnügen, sie zum Wagen zu bringen“, war seine ein wenig verwirrte Antwort auf Mr. Carlye, während er die Glocke betätigte.
Der Earl dankte ihm und die junge Dame lächelte. Mr. Carlye führte sie durch das breite, erleuchtete Treppenhaus hinunter, stand barhäuptig an der Tür der luxuriösen Kutsche und half ihr beim Einsteigen. Sie streckte in ihrer geradlinigen, angenehmen Art die Hand aus und wünschte ihm eine gute Nacht. Die Kutsche rollte davon, und Mr. Carlyle kehrte zum Earl zurück.
„Nun, ist sie nicht ein hübsches Mädchen?“, wollte er wissen.
„Hübsch ist nicht das richtige Wort für eine solche Schönheit“, antwortete Mr. Carlyle mit leiser, warmer Stimme. „Ich habe nie ein Gesicht gesehen, das auch nur halb so schön gewesen wäre.“
„Sie hat letzte Woche im Salon ziemliches Aufsehen erregt – jedenfalls habe ich das gehört. Diese ewige Gicht hält mich die ganze Zeit hier drinnen fest. Übrigens ist sie so gut, wie sie schön ist.“
Der Earl übertrieb nicht. Lady Isabel war von der Natur auf wundersame Weise beschenkt worden, und das nicht nur in Geist und Charakter, sondern auch im Herzen. Eine modische junge Dame war sie so wenig, wie es überhaupt möglich war, zum Teil weil man sie bisher von der weiten Welt abgeschirmt hatte, zum Teil aber auch wegen ihrer gewissenhaften Erziehung. Zu Lebzeiten ihrer Mutter war sie gelegentlich in East Lynne gewesen, meist aber auf Mount Severn, dem größeren Landsitz des Earl in Wales. Nachdem ihre Mutter gestorben war, hatte sie sich ausschließlich auf Mount Severn aufgehalten, und zwar unter der Obhut einer umsichtigen Gouvernante in einem sehr kleinen Haushalt, der für sie unterhalten wurde, wobei der Earl ihnen nur gelegentlich spontane, flüchtige Besuche abstattete. Sie war großzügig und wohlwollend, bis zu einem gewissen Grade furchtsam und sensibel und zu allen freundlich und rücksichtsvoll. Man sollte nicht darüber nörgeln, dass sie so gepriesen wird – bewundern und lieben wir sie lieber, denn jetzt, in ihrer arglosen Mädchenhaftigkeit, hat sie es verdient; die Zeit wird kommen, da solches Lob fehl am Platze wäre. Hätte der Earl vorhersehen können, welches Schicksal dieses Kind ereilen würde, er hätte es vorgezogen, sie in seiner Liebe so, wie sie vor ihm stand, totzuschlagen, statt zu dulden, dass sie es auf sich nahm.