Читать книгу Der tote Knabe: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 10

7.

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»Die Heizung braucht Wasser.«

»Wasser?«

Bo sah sie an, als wäre sie gerade durch ein wichtiges Examen gerasselt.

»Hast du noch nie in einem Haus gewohnt?«

Sollte das jetzt auch eine Kunst sein, dachte Dicte und kam sich plötzlich unfähig vor. Falls man einen Führerschein für ein Haus brauchte, wäre sie bestimmt durch die Prüfung gefallen.

»Kann man nicht einfach jemanden anrufen? Einen Klempner oder einen Heizungsinstallateur?«, fragte sie und wusste, dass sie verwöhnt klang.

Er drehte sich zu der Heizung um und schraubte an dem Ventil, bis es pfiff. Grinste, das konnte sie an seinem Rücken sehen, während er in der Hocke saß, den Kopf halb unter ihrem Esstisch. Sie hoffte, dass er nicht plötzlich aufstand und mit dem Schädel gegen die Tischplatte knallte und feststellte, dass sie nur mit einem einzigen Nagel befestigt war.

»Rufst du auch einen Elektriker, wenn du eine Birne auswechseln musst?«

Die Heizung hatte sie mit ihrem Stöhnen und Knirschen geweckt, als sie nach dem Wetterumschwung angesprungen war.

»Wo ich früher gewohnt habe, hatten wir einen Hausmeister.«

Einen Moment dachte sie sehnsuchtsvoll an die Wohnung in Christianshavn. Drei Schlafzimmer mit Blick auf den Kanal. Was hatte sie nicht alles aufgegeben, um Abstand zu ihrem alten Leben zu gewinnen.

Bo stand auf. Trocknete sich die Hände an den Schenkeln der abgetragenen Jeans. Ihr Blick ruhte ein wenig zu lange auf ihm, auf den Schenkeln. Sie schrieb es der Tatsache zu, dass sie seit Ewigkeiten keinen Umgang mit Männern mehr gehabt hatte, so kam es ihr zumindest vor. Aber es gab Wichtigeres. Jedenfalls würde sie sich nicht mit einem Kollegen einlassen. Zudem noch mit einem, der beträchtlich jünger war als sie und aller Wahrscheinlichkeit nach zu Hause im Schlafzimmer ein Modell Größe 36 hatte. Plus der erwähnten Kinder.

»Hast du einen Trichter?«

Die Frage verwirrte sie einen kurzen Moment.

»Natürlich, ich hole ihn schnell«, sagte sie nach einer kurzen Pause und wusste, dass sie allzu interessiert an diesem blöden Trichter klang. An was auch immer, wenn sie das von dem anderen ablenkte, denn sonst würde sie nur rot werden und peinlich verwirrt aussehen. Wie auf dem verdammten Foto.

Fieberhaft begann sie zu suchen. Öffnete in Windeseile Schubladen und Schränke. Natürlich hatte sie einen Trichter. Die Frage war nur, wo. Irgendwo in dem ganzen Umzugsdurcheinander oder vielleicht in der Garage, wo sie damit Öl ins Auto gefüllt hatte.

Als sie kurz darauf in der Garage suchten, fragte sie sich, wie es um alles in der Welt so weit hatte kommen können, dass ein Fotograf, den sie nur flüchtig kannte, wie selbstverständlich hier herumlief und in ihrem neuen Heim nach einem Trichter suchte. Logisch betrachtet natürlich deshalb, weil sie die Einladung, sich von ihm nach Hause bringen zu lassen, als ihre Blechbüchse von einem Auto streikte, angenommen hatte. Aber warum hatte sie sie angenommen? Diese Frage stellte sie sich, während sie Bo beobachtete, der eifrig wie ein Jagdhund in ihren Umzugskisten wühlte. Wo es so viel einfacher gewesen wäre, ein Taxi zu nehmen.

Aber sie kannte die Antwort nur allzu gut. Das Interview hatte einen Schatten auf ihre Montagsstimmung geworfen, die schon vorher nicht die beste gewesen war. Hatte sie innerlich seltsam leer zurückgelassen. Und mit dem Drang, diese Leere zu füllen, als wäre sie eine Art Hunger, etwas ganz Normales zu tun. Sich mit einem ganz normalen Menschen über etwas ganz Alltägliches zu unterhalten und nicht über etwas so Deprimierendes wie die Frage, warum eine Frau ihr neugeborenes Kind auf dem Århus aussetzte.

Sie erschauderte, wie sie so ohne Jacke in der kalten Garage stand. Erkannte die Einsamkeit wieder; hatte sie gründlich erforscht. Nicht notwendigerweise eine Einsamkeit im wortwörtlichen Sinne, sondern eine Einsamkeit unter den Menschen, die sie umgaben und die sie liebte. Denn so musste es dieser verzweifelten Mutter doch ergangen sein, die sie zu verstehen meinte. Sie musste sich unendlich einsam gefühlt haben.

»Bingo!«

Nachdem er das Gesuchte gefunden hatte, tauchte Bo aus der Tiefe der Garage auf, in die nur spärlich Licht drang. In der Hand hielt er einen orangefarbenen Plastiktrichter.

»Er lag auf einem alten Plattenspieler.«

Während er die Worte aussprach, begann es unter ihm gefährlich zu knacken. Er sprang zur Seite, unmittelbar bevor das Fußbodenbrett in der Mitte durchbrach. Die Bretter lagen über einigen Quadratmetern des Bodens, der ansonsten aus hartem Zement bestand.

»Holla! Du hast ja sogar ein Grab.«

Und es würde sie nicht wundern, wenn auch noch eine Leiche darin läge, dachte sie. Frühere Rockerfestung und so. Es wäre nur logisch. Eine Leiche im Keller. Wer hatte das nicht?

Während sie Kaffee kochte, machte sich Bo mit Wasser, Ventilen und Trichter zu schaffen. Der Welpe fiepte leise aus seinem Korb unter dem Küchentisch, und das Haus wirkte eigentlich wie ein Heim, sodass sie einen Moment lang vergaß, dass in Wirklichkeit nichts war, wie es sein sollte. Aber nur einen Augenblick. Dann drängte der Besuch in der Universität sich in ihr Bewusstsein. Den Arabischexperten Bjørn Gedsted hatte die Geschichte sichtlich aufgewühlt. Denn er hatte ziemlich schnell festgestellt, dass die Seite mit den arabischen Schriftzeichen, die man in den Handtüchern des Kindes gefunden hatte, aus dem Koran herausgerissen worden war. Er nahm an, dass ein junges muslimisches Mädchen das Kind in aller Heimlichkeit zur Welt gebracht und es verzweifelt mit dieser Art Identifikationsmerkmal ausgestattet hatte. Vielleicht in der Hoffnung, dass jemand das Kind mit einem muslimischen Ritual begraben würde. Oder finden und in ihrem Glauben erziehen würde.

»Die Mädchen sind die Verlierer dieser Kultur«, sagte er mit Nachdruck, als sie in seinem Büro saßen und auf Bo warteten.

»Das ist so typisch. Die Angst, was das Familienoberhaupt, der Vater, sagt«, sagte Bjørn Gedsted, der eine Cordhose und einen Cardigan trug und einer Karikatur von Professor Tournesol aus Tim und Struppie glich. Er beugte sich, die Fingerspitzen gegeneinander gelegt, auf seinem Bürostuhl vor.

»Die Mutter dieses Kindes wusste, dass sie in den Augen der Familie nichts mehr wert ist. Dass sie Scham und Schande über ihre Nächsten gebracht hat, indem sie ein uneheliches Kind bekommen hat.«

Während Dicte ihm gegenübersaß und durch das Fenster beobachtete, wie der erste Herbststurm die Blätter im Universitätspark durch die Luft wirbelte, hatte sie einen kurzen Moment lang das Gefühl, dass sich im Tanz der Blätter die Mutter des Kindes vor ihren Augen materialisierte. Nicht konkret mit Alter, Augen und Haaren. Aber als verzweifelte Gestalt in einer unmöglichen Welt. Ein unglückliches Gespenst, das niemals mehr Ruhe finden und immer zweigeteilt sein, die Sehnsucht nach ihrem Kind und die Scham, es im Stich gelassen zu haben, mit sich herumtragen würde.

»Wie findet man so ein Mädchen?«, fragte sie.

Gedsted zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht ist es tatsächlich besser, sie nicht zu finden.«

»Aber diese Mutter muss sich etwas gewünscht haben. Eine Absicht verfolgt haben, als sie die Seite in das Handtuch genäht hat. Vielleicht möchte sie in Wirklichkeit gefunden werden, möchte, dass man ihr hilft«, sagte sie, während draußen die Blätter tanzten und ihr näher und näher kamen, ohne dass sie das wollte.

Jetzt faltete Bjørn Gedsted die Hände über dem Bauch und sah einen Moment wie ein Priester aus.

»Wenn sie gefunden wird und ihre Familie alles erfährt, wird sie nicht nur von der Justiz des Mordes angeklagt, sondern höchstwahrscheinlich auch von ihrer eigenen Familie verstoßen. Von ihrem gesamten Umfeld.«

Verstoßen. Das Echo des Wortes schien von der Innenseite ihres Gehirns widerzuhallen, und plötzlich und unerklärlich hatte sie das Gefühl, wieder ein Teenager zu sein. Den Mut zu haben, die Konventionen herauszufordern und die Konsequenzen zu tragen. Denn dazu gehört Mut, dachte sie. Kein Kriegsmut oder eine sichtbare Form von Heldenmut. Sondern der Mut, alleine dazustehen. Sie hatte ihn vielleicht selbst einmal gehabt, dachte sie zerstreut. Aber wo war er geblieben? Wo war er jetzt, wo plötzlich alles, was sie in den vergangenen zwanzig Jahren so sorgsam aufgebaut hatte, nicht mehr da war?

Sie begann zu schwitzen, ihre Handflächen wurden klamm. Du meine Güte, wie wünschte sie sich, diese Geschichte abgeben zu können. Dann wollte sie schon lieber über einen ganz gewöhnlichen Mord berichten. Da wusste man wenigstens, woran man war.

In dem Moment klopfte es an der Tür. Bo mühte sich mit seinen Kameras ins Zimmer, und sie merkte voller Dankbarkeit, wie das Praktische die Oberhand gewann; wie sein professioneller Umgang mit Bjørn Gedsted, als sie in den Herbststurm hinaus in den Park gingen, etwas in ihr löste und ihr gut tat. Ihr etwas gab, woran sie sich festhalten konnte.

»Und? Wieso bist du plötzlich nach Århus gezogen?«

Bo griff nach einem Schokoladenkeks und biss ihn in der Mitte durch. Sah sie mit der Linse des Fotografen im Blick an.

»Ich bin gerade geschieden worden«, sagte sie und spürte ihren Unwillen zu antworten. »Ich war mir sicher, dass es viel Gerede in der Redaktion geben würde«, fügte sie hinzu und schenkte sich selbst Kaffee ein.

Er führte seine Tasse zum Mund und trank vorsichtig einen Schluck.

»Ich habe von der Scheidung gehört. Aber ist es nicht ein bisschen extrem, so weit wegzuziehen? Ich schätze, das war kein Serienmörder, mit dem du verheiratet warst?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich wollte einfach nur weg.«

Er sah sie einen langen Augenblick an. Grüne Augen, stellte sie fest. Scheinbar neutral, aber mit einer gewissen neugierigen Sanftheit tief im Inneren.

»War es wirklich so demütigend?«

Sie spürte die Röte. Konnte sie nicht kontrollieren. Wollte ihm sagen, dass es ihn nichts anginge, wie sie es empfunden hatte, dass ihr Leben kenterte. Wie sie es noch immer empfand.

»Ich bin eben ziemlich dünnhäutig«, sagte sie und hörte, wie bitter sie klang. Sie hatte es sich doch geschworen. Niemals bitter zu klingen. Niemals bitter zu werden.

Sie spürte die Tränen. Und Wut auf Torsten, weil er ihr das angetan hatte. Weil er sie verraten, ihre Gefühle mit Füßen getreten und sie zu etwas gemacht hatte, das sie hasste. Sagte sich, als die halbe Psychologin, die sie war, dass zu einer Ehe und einer Scheidung immer zwei gehörten. Dass sie einen Teil der Verantwortung selbst trug, auch wenn sie nicht wirklich wusste, was sie falsch gemacht hatte. Sie konnte Torstens Stimme hören, der Erklärungen müde. »Du bist eine andere geworden. Du warst mal so süß und fröhlich. Du nimmst alles zu ernst.« Und sie wollte ihm sagen, dass Untreue etwas Ernstes war, das wenig zur Heiterkeit beitrug.

Bo schwenkte eine Hand vor ihren Augen, als wollte er sie aus einer Trance reißen.

»Hej«, sagte er bemüht munter, und sie wusste, dass er ihr zuliebe einen unbeschwerten Eindruck zu erwecken versuchte. »Der Entschluss war bestimmt richtig. Århus ist eine schöne Stadt.«

Sie riskierte ein Lächeln.

»Es sollte ein neuer Anfang werden. Ein neues Leben. Und was ist mit dir?«

»Ja, was ist mit mir?«

Er nahm sich noch einen Keks, und plötzlich war er wieder da, der Blick, als er ihr das Foto mit dem Dildo gezeigt hatte. Der Blick, der die Bluse von ihrer Schulter zog und eine Brust streifte und wie zufällig tiefer wanderte.

»Verheiratet?«, fragte sie und versuchte sich in der Rolle der älteren Schwester oder der wohlmeinenden Tante. Aber das Wort tat sich schwer, ihren Mund zu verlassen, der plötzlich trocken war wie ein Keks.

Er wartete mit der Antwort eine Sekunde zu lange. Dann nickte er.

»Mit der Mutter der Kinder.«

Mit der Mutter der Kinder. So einfach war das. Diese Worte setzten vor alle weiteren, nicht sonderlich schwesterlichen Gedanken einen Stopper. Man ließ sich mit keinem Mann ein, der mit der Mutter seiner Kinder verheiratet war. Außerdem hätte sie selbst seine Mutter sein können oder zumindest seine zehn Jahre ältere Schwester, ein oder zwei Jahre hin oder her.

»Das klingt doch wunderbar«, brachte sie heraus und wusste, wie albern sie klang.

Er machte eine Kopfbewegung, die sowohl ein Nicken wie auch ein Schütteln sein konnte.

»Wir haben unsere Probleme«, räumte er ein, und am liebsten hätte sie ihn geohrfeigt. Sie konnte nahezu hören, wie Torsten genau das zu Sandra gesagt hatte, als sie sich in der Kantine von Radio Danmark zum ersten Mal begegnet waren. Wie er, ihrer Aussage zufolge, mit diesen vier Worten von Anfang an grünes Licht gegeben hatte. Wir haben unsere Probleme.

Sie schob sich vom Tisch weg. Spürte die Verwirrung. Als wollte ein Teufel sie mit dem gleichen Köder locken, der Torstens viele Seitensprünge legalisiert hatte. Vor allem den letzten, den unwiderruflichen. Bo stand auch auf.

»Okay, ich muss los. Danke für den Kaffee.«

»Gern geschehen«, murmelte sie, ihm den Rücken zugewandt, während sie die Tassen in die Küche trug. Er folgte ihr mit der Kaffeekanne. Sie spürte ihn hinter sich, als sie die Spülmaschine einräumte. Spürte den Drang, sich umzudrehen und die Hand nach ihm auszustrecken und ihn an sich zu ziehen und zu rütteln und zu weinen und zu lieben und wieder einen Sinn zu finden. Aber die Angst war größer, und ihre Hände hielten das kalte Porzellan fest, und ihre Finger krümmten sich um die Henkel der Tassen, sodass sie sie nur schwer wieder lösen konnte.

»Diese Handtücher«, sagte er plötzlich.

Sie drehte sich um. Zwang sich, ihn anzusehen, seine struppige Gestalt und die abgetragenen Jeans und das zerzauste Haar, während sie seinem Blick auswich. Herrgott noch mal. Er war doch nur ein Junge. Niemand, den man wirklich ernst nehmen musste.

»Welche Handtücher?«

»Die bei dem Kind. In der Wanne. In die die Koranseite genäht war.«

»Ja?«

»Wir haben doch die Fotos«, fuhr er fort. »Vielleicht findet sich da eine Spur. Zu der Mutter, meine ich.«

Sie lehnte sich an den Küchentisch und fühlte sich in die Enge getrieben. Dachte, dass er es merken musste. Dass er ihren Schweiß riechen musste. Die Nervenspitzen spüren, die bei dem Gedanken an Nähe zitterten.

»Wo sind sie?«

»Ich habe Abzüge im Auto«, sagte er und sah sie arglos an. Und sie wusste genau, warum. Da war wieder der Dildo. Offenbar sollte er sie für den Rest ihres Lebens verfolgen.

»Wir können sie uns ja mal ansehen«, sagte sie.

Er holte den Stapel herein, und nach längerem Suchen fand sie auch eine Lupe. Versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, wie die Handtücher sich angefühlt hatten. Ihre Dicke, ihre Qualität. Konnte sich aber nicht erinnern.

»Hier. Hier ist etwas. Irgendein Label«, sagte Bo.

Aber sie konnten es nicht erkennen. Nicht einmal mit der Lupe.

»Ich kann es auf einem neuen Abzug vergrößern«, bot er an. »Vielleicht ist es einen Versuch wert.«

Sie nickte. Sah ihn an und fragte sich, warum gerade dieser vernachlässigt aussehende Mann in ihrem Leben aufgetaucht war. Ob ein Sinn dahinter steckte. Ob sich jetzt herausstellen sollte, dass sie in Wirklichkeit genauso schwach war wie Torsten. Genauso in Panik geriet angesichts ihres Alters und ihres Lebens mit all seinen losen Enden.

Dann schob sie den Gedanken weg.

»Es ist immer einen Versuch wert«, sagte sie.

Der tote Knabe: Skandinavien-Krimi

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