Читать книгу Der tote Knabe: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 8
5.
Оглавление»Denk an die Kalorien, Mama. Du weißt genau, was man sagt.«
Dictes Hand blieb mit dem samstäglichen Brunch mitten in der Luft stehen. Die verbotene Majonäse auf dem letzten Bissen Roggenbrot mit Makrelensalat begann ganz von selbst zu vibrieren.
»Was sagt man denn?«
Rose sah sie gut gelaunt mit einem prüfenden Blick an, als sie verschlafen in einem löchrigen Shirt vor ihr stand. Jede Delle und Kurve wurden genau unter die Lupe genommen, während sie den Kopf schräg legte, dass der Nasenring glänzte. Der, um den sie so gebettelt hatte, dass Torsten ihn ihr schließlich ohne die Einwilligung ihrer Mutter bezahlt hatte. Was tat man nicht alles, um sich bei seinem Kind beliebt zu machen, wenn man die Familie durch eine Scheidung zerstört hatte.
»Also, was sagt man?«
»Vierzig, fett und geschieden.«
»Lausegöre.«
Sie hob ihre Hand wie zum Schlag, und Rose zog sich blitzschnell zurück und tänzelte mit einem schelmischen Blick davon. Dicte folgte ihr und bekam sie zu fassen. Kitzelte die mageren Rippen ihrer Tochter, die empfindlichste Stelle, sodass sie vor Lachen zusammenbrach.
»Ach, du hast doch nicht etwa Angst, was?«
Rose krümmte sich vor Lachen. »Das kommt von all den Malen, die ihr mich verhauen habt«, lachte sie. »Gib es zu!«
Dicte ließ sie gutmütig los.
»So, so, du Knochengestell. Wart nur ab.«
Demonstrativ öffnete die Tochter des Hauses den Kühlschrank und räumte ihn aus. Roggenbrot, Butter, vollfetten Käse. Die ganzen Empfehlungen der Ernährungsexperten waren zumindest in ihrer Familie bislang vergebens gewesen, stellte Dicte fest. Sie hatte das starke Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie selbst auf Entzug gehen musste, was fette Sachen anging.
Neidisch beobachtete sie ihre schlanke Tochter, die täglich zehn Festmenüs in sich hineinschaufeln konnte. Am liebsten begnügte sie sich aber mit Käsebroten und literweise Milch. Keine Spur von Magersucht.
»Du wirst auch einmal vierzig«, drohte sie.
Das Kind, das sie letztendlich noch war, kicherte, als hätte sie etwas Unanständiges gesagt, und konzentrierte sich auf ihr Käsebrot.
»Ich werde nie so alt wie du«, mümmelte sie. »Ich werde jung als Revolutionärin sterben.«
Dicte setzte sich auf die Wachstischdecke des Küchentisches und spülte die Makrele mit einem Schluck lauwarmen Kaffees hinunter.
»Im Kampf für was?«
Rose war um eine Antwort nicht verlegen.
»Für die Freiheit«, sagte sie selbstsicher. »Und für die Gerechtigkeit. Für eine Zukunft für alle Kinder.«
»Natürlich«, sagte Dicte und hörte sehr wohl, dass sie nachsichtig klang.
Sie dachte an das Kind auf dem Fluss und wusste, dass sie deshalb Kopfschmerzen hatte. Dass sie deshalb in der Nacht von Albträumen mit toten Babys heimgesucht worden war. Erloschene Augen in trübem Wasser mit Hunderten von leeren Limonadenflaschen, die an der Oberfläche dümpelten. Sie war für ihren Artikel gelobt worden und hätte eigentlich gut drauf sein müssen, aber dieser Fall war etwas anderes als die Artikel im Wirtschaftsteil über sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz oder Vergünstigungen. Man konnte ihn nach der Arbeit nicht weglegen und sich am nächsten Tag wieder damit beschäftigen, falls es nötig war.
Sie griff nach der Kaffeekanne und goss die Tasse halb voll. Trank die teerige Brühe in einem Schluck. Wünschte Kaiser und seine Sensationsnarkomanie weit weg und dass sie nie vierzig geworden wäre und vor zwei Tagen am Ufer des Århus gesessen hätte. Dass eine andere das Kind gefunden hätte. Eine andere für den Job ausersehen worden wäre, über den Fall zu berichten.
Sie hörte Autoreifen in ihrer Einfahrt. Auf dem feinen Kies, von dem sie selbst einen Berg bestellt und den sie so sorgfältig verteilt hatte, dass ihr der Rücken wehtat. Um alles ein wenig freundlicher zu gestalten, was auch nötig war, denn das sogenannte neue Haus von 1930 oder früher hatte in der Gemeinde eine herausragende Rolle als Rockerhauptquartier gespielt. Das war einer der Gründe, warum sie es so billig bekommen hatte. Die Pfähle von der Festungsanlage rund um das Haus waren noch immer tief in Zementklötzen unter ihrem Rasen verankert.
»Das ist bestimmt die Post. Holst du sie?«
Rose krauste die Nase, dass der Ring hüpfte. Plötzlich sah sie nur noch jung und verletzlich aus, fand Dicte.
»Und wenn Milzbrand drinnen ist?«
Dicte gab ihr einen gutmütigen Klaps auf das Hinterteil.
»Wenn du jung sterben willst, warum nicht daran? Betrachte es als Verteidigung der Gerechtigkeit.«
Rose machte ganz den Eindruck, als würde sie sich die Sache ernsthaft überlegen. Dann legte sie den Käsehobel beiseite und ging hinaus. Dicte hörte sie am Briefkasten klappern und spürte die Energie zurückkommen. Die Kopfschmerzen verzogen sich auch langsam. Es war eine schlechte Angewohnheit, das wusste sie sehr wohl. Ein Glas Wein nach dem anderen zu trinken, wenn man abends alleine zu Hause saß und an Weltschmerz litt. Aber hin und wieder brauchte sie das. Eigentlich relativ häufig, wenn sie ehrlich war. Aber sie hatte auch Grund genug, dachte sie und begann, den Tisch abzuräumen. Der beste war sicherlich, dass sie es einfach mochte. Sie liebte den Geschmack eines guten Rotweins und das warme, entspannte Gefühl, plötzlich alles unter Kontrolle zu haben. Alle Probleme, die Scheidung von Torsten, die Gespenster der Vergangenheit und ihr neuer Status als allein erziehende Mutter schienen auf Abstand zu gehen, wenn sie mit einem Glas Rotwein in Reichweite dasaß.
Rose kam mit einem Stapel Post herein. Behielt aber die Zeitung, in der sie eifrig blätterte.
»Her damit.«
Rose gab sie ihr nicht. Drehte ihr den Rücken zu.
»Du bekommst sie erst, wenn du hältst, was du versprochen hast. Für heute, Mama.«
»Für heute, was?«
Rose drehte sich um. Ließ die Zeitung sinken.
»H-U-N-D.«
Shit. Das hatte sie total vergessen. Sie hatte gedacht, dass sie den Samstag zum Auspacken und Saubermachen und Maßnehmen für die Gardinen und was sonst noch auf der Liste stand nutzen könnte. Aber das mit dem Hund gehörte zu ihrer Abmachung. Rose war nicht freiwillig von Kopenhagen nach Århus gezogen, um hier in die elfte Klasse zu gehen. Es hatte intensive Verhandlungen gegeben, Kompromisse waren geschlossen worden. Der mit dem Hund war einer davon.
»Kann das nicht warten?«, versuchte sie es, während ein beharrlicher Zug warnend um Roses Mund spielte. So süß und kindlich er in einem unbeobachteten Moment noch sein mochte, so spöttisch konnte er sich verziehen und zu Ohrfeigen einladen. Aber nicht sonderlich oft, wie sie einräumen musste. Und meistens, wenn es einen guten Grund dafür gab. Wie jetzt.
»Du hast es versprochen. Gestern hast du gesagt, dass wir heute ins Tierheim fahren. Aber vielleicht hast du das ja hier drin ertränkt«, sagte sie frech und griff nach einer leeren Rotweinflasche, die neben dem Kühlschrank stand.
Dicte merkte, wie ihre Verteidigung unerklärlicherweise zerbröckelte.
»Okay. Okay. Wir fahren. Ruf an, und frag, ob sie offen haben.«
Während Rose anrief, räumte Dicte hinter ihnen auf. Es war die übliche Rollenverteilung. Man sollte nicht glauben, dass sich etwas ändert, nur weil man nach Jütland zieht. Und doch. Das war nicht ganz fair, dachte sie, als sie das Essen in den Kühlschrank schob und ihn schnell zumachte, damit das Ganze nicht wieder herauskam. Rose war in der letzten Zeit erwachsener geworden. Vielleicht ein bisschen zu erwachsen. Wie letztens, als sie Lasagne gemacht hatte, als Dicte spät nach Hause gekommen war. Und Blumen gekauft und in eine Vase gestellt hatte, als würden sich dadurch alle Probleme auflösen. Was sie beinahe auch getan hatten. Das durfte sie nicht vergessen, dachte Dicte und wischte die Wachsdecke ab. Ihre Tochter war noch immer ein Kind. Und gerade was man Kindern versprochen hatte, musste man halten.
Es sollte ein Welpe sein, und er sollte heimatlos und elternlos sein. Einer von denen, die kein anderer wollte.
Das waren Dictes Bedingungen. Es gab keinen Grund, sich einen überspannten Rassehund mit prämierten Eltern im Stammbaum bis wer weiß wohin zurück anzuschaffen. Bastarde waren in der Regel klüger und amüsanter und nicht so zart besaitet.
Ausgemacht war natürlich, dass es Roses Hund sein würde und dass sie selbst für ihn sorgen, mit ihm spazieren gehen musste und so weiter. Doch als sie Richtung Tranbjerg zum Tierheim Tingskoven fuhren, musste Dicte sich eingestehen, dass dieser Teil der Abmachung mit Sicherheit in kürzester Zeit wieder neu auszuhandeln sein würde. Rose hatte bereits viele Freunde und Freundinnen in der neuen Klasse und bedauerte die Veränderung bei weitem nicht mehr so sehr, wie sie erwartet hatte. Inzwischen war sie öfter mit ins Kino oder in die Stadt gegangen, und der Freitagabend allein vor dem Fernseher war nur der Anfang, das wusste sie. Tatsache war, dachte sie, als sie am Viby Torv abbog und Richtung Skanderborgvej weiterfuhr, dass sie unterwegs waren, um einen Hund für sie zu finden. Einen Hund, der sein Futter wollte, der spielen und ein Freund sein wollte und sie immer öfter dazu verlocken würde, von zu Hause aus zu arbeiten, wogegen sie im Grunde ihres Herzens nichts einzuwenden hatte. Denn natürlich musste sie nicht in die Redaktion. Die Redaktion war für ihre Arbeit nicht wichtig, war nur ein Versammlungsort der Kollegen. Wenn sie nicht Überstunden abfeierten, in Ferien oder zur Fortbildung waren, im Umland einem Auftrag nachgingen oder über die Handballweltmeisterschaft in Polen berichteten. Nach zwei Monaten in der Stadt hatte sie längst herausgefunden, dass in einer Redaktion mit nicht mehr als sechs Personen immer nur ein paar physisch anwesend waren.
Der Geruch nach Tier hing ihnen in den Nasenlöchern, als sie zwanzig Minuten später von einer freundlichen Frau herumgeführt wurden. Einige der Hunde wedelten freundlich mit dem Schwanz, andere sahen sie aus leeren Augen an; wieder andere bellten aus vollem Hals, weil endlich etwas passierte.
Es gab Mischlinge, aber auch Rassehunde. Ein großer, schöner Neufundländer sah ihnen mit heraushängender Zunge aufmerksam hinterher. Ein mittelgroßer Pudel stand auf den Hinterbeinen, die Vorderbeine ruhten auf dem Gitter, während er einladend mit dem Schwanz wedelte.
Es war Rose, die ihn schließlich entdeckte. Einen kleinen, kurzhaarigen, schwarzen Welpen mit weißen Pfoten und weißer Brust.
»Der da, Mama.«
Er war ein scheuer Welpe, und sie erfuhren, dass er von einem jungen Mädchen im Hafen gefunden worden war. Man wusste nichts über seine Herkunft. Sie liehen sich einen Hundekorb mit dem Versprechen, ihn zurückzubringen. Als sie mit dem Korb zum Auto kamen, klingelte ihr Handy. Kaiser klang verärgert.
»Warum muss ich bei Ritzau lesen, dass man in der Wanne mit dem Baby ein Blatt mit arabischer Schrift gefunden hat?«
Die Konsequenzen begannen sich in ihrem Hirn abzuzeichnen, noch bevor der Auftrag kam. Die Zeit war Ausländern nicht wohl gesinnt. Die Katastrophe in den USA und die Kriminalität im Land machten den Dänen nicht gerade Laune, großes Verständnis für fremde Kulturen und Religionen aufzubringen. Diese Neuigkeit konnte dem bereits vorhandenen schwelenden Fremdenhass neue Nahrung geben.
»Wir müssen der Geschichte natürlich nachgehen. Und setz dich mit einem Experten für arabische Sprache und Kultur in Verbindung«, verlangte Kaiser, während der Welpe fiepte und sie daran erinnerte, dass sie noch eine Verantwortung übernommen hatte.