Читать книгу Der tote Knabe: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 11

8.

Оглавление

»Schläfst du?«

Anders bewegte sich und murmelte irgendetwas. Anne beobachtete seinen Rücken. Den scharfen Winkel der Schulterblätter. Das kleine Muttermal an der äußersten Spitze, das so viel Ähnlichkeit mit Langeland hatte. Sie sah seinen tiefen Seufzer mehr als sie ihn hörte, und er schnitt ihr ins Herz. Er war müde. Ihrer müde. Müde zuzuhören. Aber gerade jetzt brauchte sie ihn, brauchte, dass er zuhörte. Sie spürte es so sicher wie damals, als sie gewusst hatte, dass sie mit Jacob schwanger war. Es hatte nicht anders sein können.

»Er war so klein«, sagte sie, wie sie es an diesem Tag und den vorhergehenden schon so oft gesagt hatte. »Er sah aus, als würde er schlafen. Er hatte dunkles Haar. Ganz schwarz. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum? Während ich ihn auf dem Arm hielt, habe ich mich das gefragt. Warum? Das haben wir alle getan.«

Die Bilder fuhren in ihrem Kopf Karussell. Taten es seit dem Fund. Wie ein Film in einer Endlosschleife.

Anders gab nicht länger vor zu schlafen. Er drehte sich auf den Rücken. Er hätte sie zumindest in den Arm nehmen können, dachte sie. Ihr zeigen können, dass er sie verstand. Aber genau das tat er nicht. Jedenfalls verdächtigte sie ihn, es nicht zu tun.

»Jetzt musst du endlich aufhören, daran zu denken«, stöhnte er, und sie merkte, wie er sie im Halbdunkel musterte. Konnte seinen schläfrigen Blick aus den zufallenden Augen nahezu sehen. Die langen Wimpern auf der zarten Haut.

»Du hast doch nicht zum ersten Mal ein totes Kind gesehen.«

Die Worte kannte sie gut. Er fuhr mit seiner Logik und einem Gähner fort.

»Du kannst unmöglich alle unerwünschten Kinder dieser Welt retten.«

Nicht, dass er hart war. Da war sie sich sicher. Ganz im Gegenteil. Er hielt es nur nicht aus, darüber zu reden. Bekam richtiggehend Bauchschmerzen davon, sagte er, und jetzt musste sie aufhören. Sie konnte sowieso nichts ändern.

Aber sie konnte jetzt nicht aufhören. Irgendetwas in ihr schien ihn zwingen zu wollen. Wollte ihn umdrehen und ihm in die Augen sehen und zeigen, dass die Welt grausam und hässlich und widerwärtig war. Dass sie nicht aus der reinen Ästhetik bestand, mit der er im Symphonieorchester Mozart aus seiner Oboe herauszauberte. Aber Anders hatte sich mit den dunklen Seiten dieses Lebens immer schwer getan. Sie wusste, dass das damit zusammenhing, dass er seinen Vater gefunden hatte, als er sich erhängt hatte. Sie sollte aufhören. Verständnisvoll sein. Aber es wollte heraus.

»Er war noch warm«, erinnerte sie sich, und wieder spürte sie die Schwere des toten Kindes auf ihrem Arm. »Er war bestimmt erst wenige Minuten tot.«

»Anne!«

Er sagte es in einem Ton, als hätte sie etwas Ekliges beim Essen gesagt. Drehte ihr den Rücken zu und zog die Decke mit sich.

»Entschuldigung«, stieß sie hervor. »Ich kann es nicht lassen.«

In der Regel sagte sie nichts, wenn bei der Arbeit etwas Trauriges passierte. Wenn etwas schief lief. Wohl wissend, dass seine Welt eine andere war. Eine, die aus Schönheit bestand.

Sie wusste auch, dass er am liebsten an seiner romantischen Vorstellung von ihr als Hebamme festhalten wollte. Als wäre sie eine Art Engel, der kleine Kinder ebenso leicht und schmerzfrei in die Welt brachte wie der Storch. War er etwa nicht umgekippt, als Jacob geboren wurde? Hatte er etwa nicht anschließend erklärt, dass er nie mehr in seinem Leben einen Fuß in einen Kreißsaal setzen würde, weil das alle Mystik kaputtmache und alles so blutig und barsch erscheinen ließ. So unappetitlich, hätte er auch sagen können, aber das tat er dann doch nicht.

Sie hatte ihm erklärt, dass es nun einmal so war. Dass zu einer Geburt auch Blut und Schleim gehörten und alles, was aus menschlichen Öffnungen kommen konnte. Aber mitten in dem Schmerz war auch eine Schönheit und gerade deshalb etwas fast Heiliges. Trotzdem war ihm die Lust auf Sex drei Monate lang vergangen, weil er ihren Körper plötzlich mit einem Albtraum aus Schreien und Blut und Schmerz verbunden hatte.

Sie musste fast lächeln, wie sie da auf ihrer Seite lag und daran zurückdachte.

Anders, der Kriegsdienstverweigerer aus Hobro, der nicht einmal eine Spinne totschlagen und kein Blut sehen konnte. Nicht einmal sein eigenes. In den sie sich verliebt hatte, als sie zusammen mit einer Freundin irrtümlich auf einem Fest des Musikinstituts gelandet war. Der schöne Anders mit den schlanken Fingern und der zarten Haut. Seine Augen waren weich wie geschmolzene Schokolade und vielleicht, hatte sie manchmal gedacht, hatte der liebe Gott sich vorgestellt, dass ein Mädchen aus ihm hätte werden sollen. Durch ein Spiel des Schicksals war er als Junge aus dem Schoß seiner Mutter gekommen, und es schien, als würde er viel Zeit darauf verwenden, seine Maskulinität zu unterstreichen, indem er Lederhosen und Cowboystiefel trug und sich wie ein Cowboy bewegte, der gerade aus dem Sattel gestiegen war. Aber die Empfindsamkeit konnten auch die gröbsten Nieten auf der Jeansjacke ihm nicht nehmen. Von ihr lebte er auch, und er pflegte seine Halsentzündungen und seine Erkältungen wie andere ihren Ziergarten.

Sie seufzte gegen die Seidenhaut seines Rückens. Atmete seinen Duft ein. In der Regel hatte sie Nachsicht mit ihm, denn er konnte zaubern. Wenn sie sich liebten, glich er einem Blinden. Als konzentrierten sich alle Sinne in den empfindsamen Fingerspitzen, die über ihren Körper wanderten. Und mit der Oboe an den Lippen konnte er einem Märchen Leben einhauchen und sie in eine Welt der Schönheit entführen.

Aber diese Welt war eine Illusion, dachte sie jetzt, als sie neben ihm lag. Sie hatte nichts mit der Wirklichkeit gemein. Nichts mit dem Kind auf dem Fluss.

»Sie haben ihn ins Gemeindekrankenhaus gebracht«, sagte sie leise, obwohl sie wusste, dass er dabei war einzuschlafen. »Ins pathologische Institut.«

Sie wollte noch hinzufügen, dass sie ihn sicher gleich obduziert hatten, aber das würde Anders nicht verkraften. Eigentlich konnte sie jeden Gedanken an Verständnis auch gleich aufgeben. An eine tröstende Schulter.

»Können wir jetzt nicht endlich schlafen?«, gähnte er. »Ich habe morgen einen langen Probentag.«

Und abends ein Konzert, hätte sie hinzufügen können. Denn das war die Realität, in der es unmöglich war, genügend Zeit zu finden, um zwei verschiedene Jobs miteinander in Einklang zu bringen. Jacob war jetzt sechs und ging glücklicherweise nach der Schule in den Hort, wenn weder sie noch Anders zu Hause waren. Aber es war und blieb ein Puzzlespiel. Vor allem wenn sie Abendschicht hatte und Anders in einem Konzert spielte. Dann blieb als Lösung nur die Schwiegermutter, die sich gut dafür bezahlen ließ. Nicht in Geld natürlich, sondern in Worten. Es gab keine Grenzen für das, was Anne sich über die Krankheiten der Schwiegermutter anhören musste. Aber so war es nun einmal, wenn die Leute glaubten, dass man fast eine Ärztin war.

»Gute Nacht, mein Schatz«, kam es bestimmt von Anders’ Rücken.

Die Gedanken schwirrten ihr noch eine Weile durch den Kopf, dann lösten sie sich allmählich in traumhafte Gebilde auf.

Sie wälzte sich im Bett. Spürte den Drang, sich an ihn zu kuscheln und an ihm festzusaugen und zu versichern, dass sie noch immer einander hatten und dass sie sich immer wieder zusammenrauften. Dass sie einander eine Stütze waren. Aber vielleicht war das eine Illusion, ebenso, wie seine Welt der Schönheit eine war. Vielleicht suchte sie nach Kräften, die er nicht hatte und nie gehabt hatte.

»Was haben wir heute? Wer holt Kaffee?«

Die Chefhebamme Vibeke Termansen eröffnete die Morgenbesprechung. Maria, die jüngste Hebamme auf der Entbindungsstation, studierte den Plan und referierte:

»Von den Routinearbeiten einmal abgesehen, haben wir zwei Erstgebärende, die eine mit Zwillingen. Fünf hoffentlich normale Geburten, eine Steißlage und eine Totgeburt.«

Um den Tisch wurde es still. Wie immer bei Totgeburten.

»Inge Jespersen. Wie geht es ihr?«, fragte Anne.

Aber die Frage erübrigte sich eigentlich. Sie hatte schon mit der Frau gesprochen. Wusste, dass sie um diese Schwangerschaft gekämpft und drei spontane Aborte hinter sich hatte. Im Alter von sechsunddreißig Jahren war es ihr endlich gelungen, das Kind so lange zu behalten, dass die Geburt in Reichweite rückte. Der Termin hätte in einem Monat sein sollen. Aber vor einer Woche hatte Inge Jespersen geklagt, dass das Kind sich vierundzwanzig Stunden lang nicht bewegt hätte. Plötzlich waren keine Herztöne mehr zu hören gewesen. Eine Untersuchung hatte ergeben, dass das kleine Mädchen tot war. Die Ursache war nicht bekannt.

»Wie zu erwarten«, murmelte Vibeke, die mehr Totgeburten erlebt hatte als sie alle zusammen. »Wer kümmert sich um sie?«

»Das mache ich«, sagte Hanne, die aus Ringkøbing kam und immer einen gewissen Überschuss an Kraft hatte.

Sie blieben noch eine Weile sitzen, um es zu verdauen.

»Die Polizei hat angerufen«, sagte Vibeke schließlich leise.

»Wegen dem Kind auf dem Fluss?«, fragte Anne.

Vibeke nickte.

»Sie wollten wissen, ob wir ein paar ganz junge Mädchen zur Untersuchung hierhatten. Von anderer ethnischer Herkunft, wie man das heute nennt. Mädchen, die nicht zur Geburt erschienen sind.«

»Suchen sie nur nach Ausländerinnen?«, fragte Maria, die es mit der Etikette nicht so genau nahm. Entweder man war Däne oder man war es nicht, und die meisten Menschen fremder Abstammung fielen in die letzte Kategorie. Sie biss in ein Brötchen. »Haben sie nur nach ganz jungen gefragt?«

Die Chefhebamme zuckte mit den Schultern.

»Ja. Ich habe ihnen gesagt, dass wir niemanden hierhatten, der in dieses Schema passt. Und dass eine Schwangerschaftsdepression sowohl ältere als auch jüngere Frauen treffen kann. Falls das der Grund war.«

Anne nickte. Auf der Station hatten sie schon alles erlebt. Frauen, die den Kopf abwandten und keine Freude zeigten. Frauen, die ganz offensichtlich in einer schweren Krise steckten und keine zusätzliche Kraft hatten, sich um ein Kind zu kümmern. Aber wenn sie ihre Kinder im Krankenhaus zur Welt brachten, standen sie zumindest unter Beobachtung und bekamen Hilfe angeboten.

Die Mutter des kleinen Moses hatte ihn offensichtlich alleine zur Welt gebracht oder so gut wie. Ohne professionelle Hilfe und Stütze. Sie war irgendwo da draußen. Verzweifelt. Unglücklich. Vielleicht konnte sie sich nicht einmal erinnern, was sie getan hatte, falls sie es selbst getan hatte. Jemand musste etwas wissen. Jemand musste sie kennen. Nachbarn, Familie, Bekannte. Es war schwer, schwanger zu sein, ohne dass jemand etwas merkte. Die meisten Menschen hatten ein Umfeld, auch wenn es nur aus der engsten Familie bestand. Gab es mehrere Leute, die etwas wussten? Hatte überhaupt die Mutter selbst das Kind auf dem Fluss ausgesetzt?

»Anne? Bist du okay?«

Vibeke Termansen beobachtete sie aufmerksam.

Sie nickte.

»Absolut.«

Sie trank den letzten Schluck Kaffee und stand auf.

Gegen Nachmittag, als sie hatte aufgeben und den Arzt zu einem Kaiserschnitt rufen müssen, spürte sie plötzlich die Müdigkeit. Sie traf sie wie ein Hammer von einem Moment auf den anderen. Die Beine begannen, unter ihr nachzugeben, als ginge sie auf einem Kissen aus Watte. Der Schweiß brach ihr unter dem weißen Kittel aus und lief ihr in kleinen Bächen den Rücken hinunter. Ihr, die sonst nie sichtbar schwitzte.

Sie dachte, dass das die Reaktion sein musste. Spürte, dass sie sich kurz hinsetzen, sich in einem stillen Moment über eines der Neugeborenen freuen und das Gefühl von Tod und Unglück vertreiben musste, das sie seit dem Fund des Babys auf dem Fluss in seinen Klauen hielt.

In der vergangenen Nacht hatte sie eine junge Frau entbunden, die sie von einer Geburt vor zwei Jahren oberflächlich kannte. Die Frau hatte eine kleine Tochter mit langem, dunklem Haar und den größten, schönsten Augen zur Welt gebracht.

Obwohl es ihr zweites Kind war, war sie sehr nervös gewesen, fast panisch. Beinahe hätten sie das Kind mit der Saugglocke holen müssen. Schließlich hatte es doch ohne eine Schramme oder Beule die Geburt überstanden, was man von der Mutter nicht sagen konnte, sie musste genäht werden.

Anne ging den Gang zu dem Zweibettzimmer hinunter, in dem die Frau mit ihrem Kind lag. Dachte, dass sie sich zwei Minuten Zeit nehmen und mit ihr reden wollte, das Kind auf den Arm nehmen, die Wärme und den Atem zwischen ihren Händen spüren, die kleinen, fechtenden Arme und die Saugbewegungen des Mundes, den süßen Duft neuen Lebens einatmen.

Doch als sie die Tür des Zimmers einen Spaltbreit öffnete, sah sie, dass die Mutter schlief, das kleine Kinderbett neben sich. Sie wollte gerade wieder gehen, als eine innere Unruhe sie in das Zimmer zog, das hell und sonnig war und von dem aus man den Herbst mit seinen fallenden Blättern sehen konnte.

Vielleicht war es die jahrelange Erfahrung mit Kindern, die sie ganz in das Zimmer treten ließ. Vielleicht nur der Drang, das Kind atmen zu sehen. Zu sehen, dass es lebte. Als Gegengewicht zu all dem Schrecklichen.

Als sie in das hohe Kinderbett sah, spürte sie, wie ihr Herz vor Schreck einen Schlag auszusetzen drohte. Das Kind lebte, das stand fest, atmete regelmäßig, wie sie sich ganz instinktiv versicherte, indem sie eine Hand dicht vor den kleinen Mund hielt, sodass sie den Wärmestrom spürte.

Aber etwas anderes war nicht, wie es sein sollte. Etwas war absolut falsch, und in dem Moment, in dem sie es entdeckte, hatte sie nicht die Fantasie, sich die daraus ergebenden Konsequenzen vorzustellen. Jemand war im Zimmer gewesen. Hatte so dagestanden wie sie jetzt. Hatte sich über das Kind gebeugt, während die Mutter schlief. Und hatte mit schwarzer, dicker Tusche fünf Buchstaben auf die Stirn des Kindes geschrieben.

Stirb, stand da.

Die Buchstaben waren mit einem fetten, wütenden Strich unterstrichen.

Der tote Knabe: Skandinavien-Krimi

Подняться наверх