Читать книгу Der tote Knabe: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 12
9.
ОглавлениеSie musste sich mit etwas Alltäglichem beschäftigen. Mit etwas ganz Alltäglichem und Logischem, um nicht an die blaue Wanne auf dem Århus zu denken. Was das anging, war ein Haus, das einen als frisch gebackene Besitzerin im Laufe der ersten Wochen vor immer neue Aufgaben stellte, die einer liebevollen Hand bedurften, genau das Richtige. Das musste sie zugeben.
Wie liebevoll ihre Hände heute waren, konnte sie nicht sagen, als sie die Birnen der Lampen draußen auswechselte. Oder es zumindest versuchte, denn es zeigte sich, dass es natürlich so einfach nicht war. Weil der vorige Besitzer des Hauses überall um das Gemäuer Lampen in zwei verschiedenen Ausführungen mit zwei verschiedenen Fassungen aufgestellt hatte. Und weil sie keine Leiter hatte, sondern nur einen blödsinnigen, wackeligen Hocker. Und weil die Katzen der Nachbarn, vier Stück insgesamt, entschlossen waren, sich um ihre Beine zu winden, sodass sie kaum hinuntersteigen konnte, ohne auf weiches Fell und lange Schwänze zu treten. »Shit! Aua, verdammt...«
Als es ihr endlich gelang, die rostige Schraube zu lösen und das Glas vorsichtig zu lockern, fielen Glasscherben auf den Boden. Auf die Katzen, die schnell zur Seite sprangen. Und auf sie. Die Birne war zersprungen, und einen Moment stand sie stumm da, den Klang des Klirrens in den Ohren, Glasscherben in den Händen und in den Falten der Jacke. Sie schauderte. Fühlte die Unruhe sich heranschleichen. Wahnsinn schien sich ausgebreitet zu haben. Bis hier nach draußen. Bis zu dem kleinen Haus auf dem Land.
»Stirb.« Anne war völlig aufgelöst gewesen, am Telefon und auch später, als sie sich zu einer Tasse Trostkaffee im Café Kindrødt getroffen hatten.
Ein einziges Wort. Fünf Buchstaben. Und plötzlich war nichts mehr wie vorher, falls es das jemals gewesen war.
Das Telefon schellte, während sie auf dem Hocker stand, und erinnerte sie daran, dass sie faktisch Dienst hatte. Es war ihr erster Arbeitstag zu Hause. Der erste einer geplanten Reihe, an denen sie gleichzeitig ihrer Arbeit nachgehen, dem Hund Gesellschaft leisten und die Pausen zu kleinen, notwendigen Arbeiten im Haus nutzen wollte. Während sie auf verschiedene Anrufe gewartet hatte, hatte sie bereits den Küchenboden geputzt und zwei Umzugskartons ausgepackt, was sie nur in der alten Theorie bestätigte, dass die Arbeit eines Journalisten größtenteils darin bestand, auf die Reaktionen der Quellen auf die Bescheide zu warten, die man hinterlegt hatte. Oder anders ausgedrückt: Journalisten waren in der Regel mit Warten beschäftigt. Und in der Wartezeit spukten die Ereignisse in ihrem Kopf herum. Das Kind auf dem Fluss; das Wort auf der Stirn des Neugeborenen. Plötzlich, völlig unerwartet, hatte sich das Gefühl eingestellt, dass die Wände um sie zusammenrückten, und sie hatte sich entschlossen, draußen zu arbeiten. Hatte nach einem Schraubenzieher gesucht, um die Birnen auszuwechseln, und wollte eventuell noch herabgefallene, verrottete Blätter zu Haufen zusammenharken.
Das Telefon verlangte sein Recht.
Unelegant sprang sie vom Hocker herunter und bahnte sich einen Weg zwischen vier Tigerschwänzen. Sie schaffte es beim vierten Klingelton und hoffte, dass es der Psychologe war, den sie gerade über Mobbing am Arbeitsplatz interviewt hatte. Sie wollte den Artikel heute fertig bekommen.
»Dicte.«
»Svendsen!«
Kaiser klang beunruhigend munter.
»Was ist los mit euch in Århus? Zuerst ein Kind auf dem Fluss und jetzt ein Grafittimaler auf der Entbindungsstation?«
Natürlich hatte er es gehört. Sie war schließlich nicht die Einzige, die über Kontakte verfügte. Wie hatte sie etwas anderes annehmen können.
»Ich glaube nicht, dass die beiden Geschichten etwas miteinander zu tun haben«, sagte sie.
»Aber du musst zugeben, dass das auffällig ist. Man muss unwillkürlich an diese Limericks denken, du weißt schon »Alle Kinder...«
Er ließ die Fortsetzung in der Luft hängen. Als wüsste er, dass sie es nicht lassen konnte weiterzudenken. Rose hatte letztes Jahr eines dieser Bücher zu Weihnachten bekommen und sich einen Spaß daraus gemacht, an den Weihnachtstagen laut daraus vorzulesen. Sie erschauderte, als sie sich an einen erinnerte. »Alle Kinder sahen in den Sarg... mit Ausnahme von Bitten, die lag drinnen.«
»Nun gut, Spaß beiseite«, sagte Kaiser, und sie konnte den Ernst hinter seinen Worten hören. Vielleicht war er doch ein Mensch.
»Natürlich bringen wir die Story. Da du ohnehin an der anderen dran bist, kannst du auch in diesem Fall recherchieren.«
Sicher konnte sie das. Rein theoretisch betrachtet. Einmal abgesehen davon, dass sie keine Lust dazu hatte, was schließlich nur ein Detail war, das er in seine Überlegungen nicht mit einbeziehen konnte. Er hatte selbst zwei kleine Enkel, wie sie wusste. Ob das da mit hineinspielte? Ob er sich die Angst vorgestellt hatte, genau wie sie? Wie vielleicht alle. Die verzweifelte, eiskalte Angst, dass jemand, irgendein Fremder, den eigenen Kindern etwas Böses wollte. Sie töten wollte.
Natürlich hatte er das. Natürlich hatte er die Angst gespürt, dachte sie. Und gerade deshalb wusste er, dass diese Story gelesen, begierig von allen verängstigten Eltern und Müttern verschlungen werden würde. Von allen Schwangeren. Allen Eltern kleiner Kinder, die ihre kleinen Geschöpfe jeden Tag Pädagogen in Horten und Kindergärten anvertrauten. Wo war man noch sicher?
»Wir sollten kein Öl ins Feuer gießen und alle Eltern verängstigen«, sagte sie und wusste, dass sie wie der Redakteur klang, der sie nicht war.
»Natürlich nicht«, sagte er kühl. »Aber wir haben auch eine Verpflichtung, die Wahrheit ans Licht zu bringen.«
Die Wahrheit. Das übliche Alibi, um Zeitungen zu verkaufen.
»Ich dachte übrigens, Holger sei aus dem Urlaub zurück«, wandte sie ein.
Es entstand eine Pause, in der sie ihn auf irgendetwas kauen hörte. Schokoladenkuchen?
»Holger Davidsen ist mit anderem beschäftigt«, sagte er dann.
Interessant. Holger Davidsen war der für Kriminalfälle zuständige Reporter in der Redaktion und, soweit sie wusste, der, in dessen Zuständigkeitsbereich diese Story normalerweise fallen würde. Derjenige, der all die guten Kontakte zur Polizei hatte und mit Rechtsanwälten und Staatsanwälten per du war und im Übrigen ausgezeichnet darüber Bescheid wusste, was die Mühlen der Justiz am Laufen hielt.
»Was willst du haben?«
»Die neuesten Neuigkeiten, natürlich. Was sagt die Krankenhausleitung, die Polizei. Und ein Porträt.«
»Von wem?«
Sie sah es vor sich. Das Porträt irgendeines Polizisten, der zufälligerweise den Fall übernommen hatte. Genauso zufällig wie sie selbst. Anrufe bei der Familie und den Kollegen, um etwas über das Hobby des Mannes zu erfahren und wie er so lebte und ob er tierlieb war. Und kinderlieb.
»Von der Stadt der Angst«, sagte Kaiser theatralisch, und plötzlich wusste sie, warum er sie ausgewählt hatte, die Artikel zu schreiben. Sie würde sich nicht damit begnügen, Fakten wiederzugeben. Und er wollte Gefühle. Wollte das Unterste zuoberst kehren, auch von ihren Gefühlen, wollte, dass sie durch die Worte hindurch in die Spalten der Zeitung flossen. Er wollte ihre Seele, aber er würde sie nicht ganz bekommen. Würde sie nicht zerstören, sodass alles, was sie so mühsam in sich eingesperrt hatte, herausgeströmt kam.
In der Redaktion hatte Holger Davidsen den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, während er auf die Tastatur einhämmerte und hin und wieder eine informative Frage stellte. Neben dem Telefon brummte ein kleines Tonbandgerät.
»Soll das heißen, dass es überhaupt keine Sicherheitsmaßnahmen gibt? Dass da jeder einfach hereinspazieren kann?«
Es folgte eine Pause, während der er schrieb. Sie konnte an seinem Hals sehen, dass er ärgerlich war. Er schien sich im Hemdkragen zu krümmen, wie eine Katze, die einen Buckel macht, und das kurze Nackenhaar schien sich wütend zu sträuben.
Er war in ihrem Alter. Der Komet der Redaktion in Sachen Verbrechen und derjenige, der eine Story fast immer so aufmachen konnte, dass sie auf der Titelseite landete.
Hurenmord in Randers; Jungenbanden überfallen unschuldige Konfirmanden; Einschmuggeln osteuropäischer Mädchen in jütländische Bordelle. Holger war immer zur rechten Zeit am rechten Ort, wie auch immer er das machte.
»Das heißt demnach, dass, rein theoretisch betrachtet, jemand einfach mit einem Kind abhauen kann.«
Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Bevor er den Mann abwürgte und den Hörer auflegte, konnte sie gerade noch denken, dass am anderen Ende der Direktor des Krankenhauses sein musste.
Ihre Geschichte, Herrgott nochmal.
Kaiser war der Meinung, dass sie die Story schreiben sollte; vielleicht, weil sie eine Frau war, vielleicht, weil sie Anne kannte. Oder vielleicht auch nur, weil er es aus irgendeinem Grund für amüsant hielt, zwei Kollegen gegeneinander auszuspielen. Denn ganz offensichtlich hatte er vergessen, Holger Davidsen von seinem Entschluss zu informieren.
»Was ist los? Habe ich mir Ei aufs Hemd gekleckert? Vergessen, den Reißverschluss zuzumachen?«
Ihr wurde klar, dass sie ihn anglotzte. Diese Situation nicht gewollt hatte. Am liebsten ihn und Kaiser zum Teufel schicken würde.
Sie räusperte sich.
»War das das Krankenhaus?«
Er kratzte sich am Kopf. Schob sich mit langen Beinen vom Schreibtisch weg.
»Klar. Was für eine Story. Man kann, verdammt nochmal, einfach hineingehen, ist das nicht unglaublich?«
Sie hatte Lust, ihn zu fragen, was daran unglaublich war. Aber sie wusste, dass eine Retourkutsche kommen würde. Mit einem Hinweis auf den 11. September und dass man jetzt überall die Sicherheitsvorkehrungen verschärfen musste. Man konnte schließlich nicht wissen, ob nicht auch auf der Entbindungsstation Selbstmordattentäter herumliefen.
»Das kommt morgen auf die Titelseite«, fuhr er fort. »Das ist sonnenklar.«
»Hast du mit Kaiser gesprochen?« Sie fragte vorsichtig und wünschte, sie wäre eine Katze mit Samtpfoten.
Er sah sie verständnislos an.
»Der sitzt doch in Kopenhagen.«
Sie wollte gerade antworten, dass das Telefon bereits erfunden sei, als der Apparat auf seinem Schreibtisch schellte. Sie starrten ihn beide kurz an, dann griff er nach dem Hörer.
»Davidsen hier«, sagte er mit einem Konzentrat aus dem gesammelten Selbstvertrauen aller Männer in der Stimme.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schaltete den PC ein, während sie mit halbem Ohr zuhörte. Die Luft schien schon bald aus seiner Stimme zu entweichen, sodass sie trocken und knapp wurde.
»Okay... okay. Aber... Aber...«
Das ganze Gespräch dauerte nicht länger als drei Minuten, und Davidsens Stimme erinnerte an einen brodelnden Vulkan kurz vor dem Ausbruch.
»Wie du meinst. Dann machen wir das so... Tschüss.«
Sie wollte sich klein machen. In den Computer kriechen oder zu der Maus werden, die geschützt unter ihrer Hand lag.
»Das war Kaiser«, sagte er mit derselben trockenen Stimme, aus der jeglicher Enthusiasmus verschwunden war. »Sieht ganz so aus, als ob du über die Sache berichtest. Eine Reporterin. Mit Sinn für Kinderfragen. Für Kinder und geistig Minderbemittelte. Und Frauen.«
Und Redakteure, dachte sie. Er glotzte sie an.
»Du hättest es mir zumindest gleich sagen können«, sagte er dann.
Am liebsten wäre sie ehrlich gewesen und hätte ihm gesagt, dass er, wenn es nach ihr ging, gern den ganzen Mist übernehmen und zurechtbiegen konnte, wie er wollte, und eine super Story daraus machen. Aber das wäre unprofessionell, dachte sie. Sie war Journalistin und in diesem Fall Nachrichtenreporterin, ob sie das wollte oder nicht. Außerdem ließ etwas an seinem Auftreten sie innerlich kochen.
»Dazu war keine Zeit«, sagte sie kurz und versuchte es mit kühler Freundlichkeit.
»Keine Zeit«, sagte er spöttisch. »Stimmt. Du hast wirklich keine Zeit, wenn du die Story für die Morgenausgabe fertig bekommen willst.«
Er griff nach dem Tonbandgerät, und sie ahnte mehr als sie wusste, dass er das Interview mit dem Krankenhaus löschte.
»Hör mal zu, Holger«, begann sie. »Ich habe nicht um den Job gebeten, verstehst du? Ich brauche deine Hilfe.«
Aber von ihm, der jetzt ihr Konkurrent war, war keine Hilfe zu erwarten, ob ihr das recht war oder nicht.
Mit zitternden Händen suchte sie im Telefonbuch nach der Nummer des Krankenhauses. Ruhig und gefasst. Ruhig und gefasst, wiederholte sie, während sie die Seiten umblätterte. Sie hatten die Auflage, die Auskunft nicht mehr als nötig in Anspruch zu nehmen. Sie hatte gerade die Nummer gewählt, als Bo flötend hereinkam, seine Tasche auf das Sofa warf und ihr ein vergrößertes Foto unter die Nase hielt.
»Je t’aime.«
»Was?«
Bo zeigte auf das Foto.
»Sie sind von Je t’aime. Kennst du die Marke?«
Sie drückte auf die Gabel. Starrte das Foto an. Verwirrt, weil ihre Gedanken noch beim Krankenhaus waren.
»Das Handtuch«, sagte er freundlich. »Gute Qualität. Französisch.«
»Wo gibt es die?«
»Im Magasin«, lächelte er triumphierend. »Nur im Magasin. Meine Kusine arbeitet dort.«