Читать книгу Der tote Knabe: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 7
4.
ОглавлениеIda Marie klammerte sich an den Alltag.
Allmählich schien irgendetwas in ihr aufzutauen. Als könnte sie sich nach Kannen von Tee und dem ewigen Starren aus dem Fenster endlich aufraffen, etwas zu tun. Die Betten zu beziehen, zum Beispiel. Oder die Spülmaschine zu füllen oder nur ein paar Kerzen anzuzünden und etwas Tomatensuppe aufzuwärmen, bis Theis nach Hause kam.
Aber sie sah immer wieder das Kind vor sich, auch wenn sie Teller stapelte oder den Tisch deckte oder Zeitungen aussortierte. Mit seinen geschlossenen Augen und den kleinen Händchen; vor allem die waren ihr aufgefallen, über der Brust gefaltet wie zu einem stummen Gebet. Und sie spürte die ganze Zeit nach, ob sich in ihrem Bauch noch Leben regte. War aufmerksam für die kleinste Bewegung. Für das kleinste Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte. Sagte sich, dass sie verrückt war. Konnte es aber nicht lassen.
Theis sagte sie nichts. Warum, wusste sie nicht genau. Vielleicht, weil er immer so beschäftigt war. Vielleicht, weil sie ihn nicht beunruhigen wollte. Natürlich hätte sie es erzählen sollen. Aber am ersten Abend war er müde und erschöpft und schlief auf dem Sofa ein. Und am nächsten nahm sie sich zusammen und ging mit den Kolleginnen aus. Sie hatte immerhin selbst geholfen, den Polterabend auszurichten und den Besuch bei der Wahrsagerin zu planen.
Das dachte sie noch immer und redete sich gut zu, als die Gesellschaft nach einem kleinen Bummel durch die Stadt ein Taxi zu den grauen Betonklötzen in Gjellerup nahm. Trotzdem spürte sie die Angst, die sie beschlich. Die eiskalte, rettungslose Angst vor etwas, das in der Zukunft lag und von dem sie nicht so genau wusste, was es war. Vielleicht vor der Geburt. Vielleicht davor, das Kind zu verlieren. Oder Theis. Oder sich selbst, es gab viele Möglichkeiten.
Sie fanden die Wohnung schnell, und bei den ersten fünf gab es keine Probleme. Sie kamen mit roten Wangen und glänzenden, fiebrigen Augen wieder heraus, als hätte sie ein Prinz geküsst.
Doch als sie an der Reihe war, merkte sie, dass etwas sie in die andere Richtung zog. Dass sie am liebsten nach Hause wollte. Dass es bestimmt ein Fehler war, aber sie brachte es nicht über sich, das auszusprechen.
Es gab keine Kristallkugel und keine Tarotkarten. Und auch keine exotische, dunkel gekleidete Frau mit goldenen Ohrringen, einem groß geblümten Fransenschal um die Schultern und einer schwarzen Katze auf dem Schoß.
Das hier war kein Zigeunerwagen, sondern eine Wohnung im größten Ausländerghetto der Stadt. Und die Wahrsagerin hieß Hanne Guldberg und hatte mittelblondes, kurzes Haar, eine Strickjacke von Jackpot über den alten Jeans und eine schlimme Erkältung, die sie mit Hilfe von einer Box mit Kleenex, die auf dem Sofa lag, in den Griff zu bekommen versuchte.
»Das letzte lebende Bild«, sagte sie fröhlich vor einem durchdringenden Nieser, und Ida Marie spürte wieder die Nervosität und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Griff nach der Türklinke.
»Das war bildlich gesprochen«, sagte die Frau und lächelte freundlich. »Sie sind doch die Letzte, nicht? Ich muss mein Kind im Hort abholen«, fügte sie entschuldigend hinzu und machte Ida Marie ein Zeichen, sich zu setzen.
Sie nickte und ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber sinken. So tief und weich, dass sie das Gefühl hatte, später nicht wieder hochzukommen. Es war der letzte Stopp auf der Polterabendrunde vor dem Abendessen im Globen Flakket. Solidarisch hatten sie sich alle bereit erklärt, sich die Zukunft vorhersagen zu lassen, und einen Termin gemacht. Aber das war inzwischen lange her, in einer ganz anderen Welt. Vor dem 11. September, der den Erdball erschüttert und Schockwellen bis nach Århus geschickt hatte. Vor dem Kind auf dem Fluss.
Sie merkte den kalten Schweiß im Nacken.
»Wir können es ja kurz machen«, schlug sie vorsichtig vor und hielt hoffnungsvoll die Luft an.
»Nein, nein, das ist nicht nötig«, nieste die Wahrsagerin. »Wir schaffen das noch. Die anderen haben erzählt, dass Sie das Kind auf dem Fluss gefunden haben«, fügte sie hinzu.
Ida Marie starrte sie an. Dann blinzelte sie.
»Ja. Wir waren zu dritt.«
»Und das in Ihrem Zustand«, sagte die Wahrsagerin mütterlich. »Geht es Ihnen wieder besser?«
Als wüsste sie, dass sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch gestanden hatte. Als könnte sie in der Vergangenheit lesen.
Ida Marie nickte.
»Ja.«
»Aber schlimm ist es noch immer?«
Wieder ein Nicken.
»Wenn Sie ein wenig früher gekommen wären, hätte ich es vielleicht vorhersagen können«, sagte Hanne Guldberg, und Ida Marie hatte das Gefühl, als spräche sie zu sich selbst, während sie ein weiteres Papiertaschentuch aus der Schachtel zog. »Vielleicht nicht so detailliert, denn so funktioniert das nicht. Aber trotzdem. Ich hätte Sie bestimmt ein bisschen vorbereiten können«, sagte die Wahrsagerin, nicht ohne einen gewissen fachlichen Stolz in der Stimme, und wurde dann von einem gewaltigen Hustenanfall geschüttelt.
Ida Marie wollte sie, halb im Spaß, fragen, ob sie auch den 11. September hätte vorhersagen können, ließ es jedoch. Man sollte nicht mit dem Schicksal spaßen. Außerdem wusste sie nicht, warum sie diese beiden Ereignisse in Gedanken plötzlich miteinander verband.
Wieder war das Bild da. Einen kurzen Moment. Wie klein er war, war ihr allererster Gedanke, als der Verstand wieder zu funktionieren begonnen hatte. Ein ganz kleiner Mensch, der keine Chance bekommen hatte. Sie fror und schlug die Arme um sich, während sie dort vor der Wahrsagerin saß, die sich wieder die Nase putzte. Eine Unsicherheit schien sich in die frühere Sicherheit geschlichen zu haben. Als hätte das ganze Leben eine Kehrtwendung gemacht und sähe plötzlich völlig anders aus. Was war passiert? Was veranlasste einen Menschen im modernen Dänemark, sein Kind auf diese Weise zurückzulassen?
Sie spürte, wie sich das Kind in ihr bewegte und schob die Gedanken weg, während die Wahrsagerin ihren Husten unter Kontrolle bekam. Wahrscheinlich war das der Grund. Dass es jetzt nicht mehr lange dauerte. Dass ihre eigene Welt sich für immer verändern würde und sie sich von jetzt an um so vieles mehr kümmern musste. Und dass sie in Wirklichkeit nicht überblicken konnte, wie sie und Theis mit ihren beiden Jobs und seinem dauernden Pendeln zwischen Århus und Kopenhagen so eine kleine Familie am Funktionieren halten konnten. Sie begegnete dem Blick der Wahrsagerin und fragte sich sekundenlang, ob sie auch Gedanken lesen konnte.
»Sie brauchen nicht nervös zu sein«, lächelte Hanne Guldberg mit Tränen in den Augen von dem Hustenanfall. »Ich sage nichts Schlimmes. Nur Generelles.«
Ida Marie seufzte. Eigentlich glaubte sie nicht an so etwas. Warum war sie dann nervös? Warum betrachtete sie es nicht als den Spaß, der es war?
»Lesen Sie auch aus der Hand?«, fragte sie.
Die Frau, die vielleicht Anfang dreißig war, schüttelte fast nachsichtig den Kopf.
»Es reicht, dass Sie hier sind. Möchten Sie Kaffee oder Tee?«
»Nur Wasser, danke.«
Hanne Guldberg holte zwei Gläser aus der Küche, die eine offene Verbindung zum Wohnzimmer hatte.
»Es ist gemütlich hier«, sagte Ida Marie und hörte, dass sie verblüfft klang. Die Wohnung war hell und freundlich und in typisch dänischem Stil eingerichtet. Mit dem obligatorischen Elipsentisch oder etwas Ähnlichem und sechs pastellgrünen Arne-Jacobsen-Stühlen. Die Spätsommersonne tanzte über Per Arnoldis Kunst, die in Glasrahmen an den weißen Wänden hing.
»Es ist ganz schön hier«, sagte Hanne Guldberg und reichte ihr das Glas. »Natürlich gibt es viel Krawall, aber man spricht miteinander. Das ist wichtig.«
Ida Marie lächelte.
»Das kann ich mir vorstellen.«
Hanne Guldberg sah sie mit einem seltsam direkten Blick an. »Ich sehe, dass Sie an einem Wendepunkt stehen«, sagte sie. »Um das zu sehen, bedarf es keiner Wahrsagerin. Aber wenn Sie wollen, kann ich Ihnen vielleicht ein bisschen mehr zu diesem Wendepunkt sagen.«
Ida Marie nickte vorsichtig. Das klang Vertrauen erweckend. Ein Wendepunkt. Herrgott nochmal, sie würde es schon überleben. Außerdem hatten sie im Vorhinein ausgemacht, dass sie sich nicht auf das Negative konzentrieren wollten. Es ging nicht an, eine zukünftige Braut zu einer Wahrsagerin zu schleppen und mit einem nervlichen Wrack nach Hause zu kommen. Aus diesem Grund gab es wirklich nichts, wovor sie Angst haben musste. Überhaupt nichts.
»Ich möchte Sie bitten, mir irgendetwas Persönliches zu reichen, das ich anfassen kann, damit ich ein Gefühl für Sie bekomme«, sagte diese moderne Wahrsagerin, als ginge es um einen Besuch beim HNO-Arzt: »Gähnen Sie, und sagen Sie aaa.«
Zuerst kam ihr der Ehering in den Sinn, doch dann war ihr das zu simpel. Außerdem war sie sauer auf Theis, weil er das ganze Wochenende arbeiten musste. Wieder einmal.
Sie gab der Wahrsagerin das Medaillon ihrer Großmutter. Ihre Mutter hatte es ihr gegeben, als sie von der Schwangerschaft erfahren hatte.
Hanne Guldberg hielt das Medaillon in der Hand und ließ die Goldkette wie ein umgedrehtes Pendel pendeln.
»Ein Erbstück«, sagte sie. »Von der mütterlichen Seite?«
Ida Marie nickte. Spürte erneut die Nervosität.
»Von einem Ort oben im Norden. An einem großen See, stimmt das?«
»Aus Vänern«, flüsterte Ida Marie. »In Schweden.«
»Natürlich. In Schweden.«
Jetzt schloss sie die Augen. Die Stimme veränderte sich und wurde fast zu einem Flüstern.
»Sie sind ein fremder Vogel hier. Das hat Ihnen Probleme gemacht. Wenn auch nicht mehr so sehr. Sie haben sich verändert; versucht, sich anzupassen, aber etwas plagt Sie. Etwas, das Sie aus Ihrer Kindheit mit sich herumschleppen. Was die Zukunft betrifft, kommt bald etwas Großes auf Sie zu. Etwas, das eine Zeit lang Ihr ganzes Leben bestimmen wird. Ich weiß nicht, ob es negativ oder positiv ist, aber es ist nicht die Geburt, von der ich spreche. Es geht um etwas anderes.«
Ida Marie saß, das Wasserglas in der Hand, ganz steif da. Wollte den Mund aufmachen, um zu fragen, um weitere Einzelheiten zu erfahren, wagte es aber nicht. Stattdessen sagte sie:
»Können Sie etwas über die Geburt sagen?«
Jetzt lächelte Hanne Guldberg und öffnete die Augen.
»Die Geburt ist nicht das Problem, falls es ein Problem geben wird. Davor brauchen Sie keine Angst zu haben.«
»Und das Kind?«
»Wunderschön. Alles, was Sie sich wünschen können.«
Sie merkte, wie eine Last von ihren Schultern fiel, und stand mit einem Lächeln auf, das sich nicht zurückhalten ließ.
Doch als sie nach einem Abendessen im Globen und als Zuschauerin beim Salsatanz der anderen im Gyngen an diesem Abend nach Hause ging, spürte sie den Puls der Stadt wie ein langes, ungleichmäßiges Trommelsolo in ihren Ohren. Mit der Dunkelheit war Århus plötzlich zu New York geworden. Die hohen Stimmen betrunkener Männer bekamen einen bedrohlichen Unterton, ein Schatten in einer Toreinfahrt wurde zu einem mordlustigen Verrückten. Keiner wusste, wann die Katastrophe passieren, wann alles auseinander brechen würde. Wann es mit der Sicherheit ein für alle Mal vorbei wäre.
Aber noch war sie da, das durfte sie nicht vergessen. Noch gab es sie, in ihrer Wohnung in der Samsøgade, wo Theis eine Kerze ins Fenster gestellt hatte, sodass es von draußen heimelig und warm aussah. Sie hatte sie sich so gewünscht, die Sicherheit. Gewünscht wie das Kostbarste auf der Welt. Aber warum hatte sie dann das Gefühl, nicht die ganz reine Ware bekommen zu haben? Dass irgendwo, vielleicht direkt um die Ecke, etwas anderes auf sie wartete. Vielleicht war es das, was die Wahrsagerin aus Gjellerup gesehen hatte. Ihren eigenen inneren Zweifel, umgesetzt in Handlung.
Theis. Sie hatten ihre guten und ihre schlechten Zeiten gehabt. Ihre Krisen, wie alle anderen. Etwas anderes wäre nach neun Jahren wohl verwunderlich. Und jetzt war da plötzlich das Kind, das sie erwartete und für das sie gekämpft hatten. Einen Kampf, der sie in gewisser Weise zusammengehalten hatte. Das Kind, das ihr Leben leuchtend rot und beunruhigend dunkel zugleich zeichnete. Es war seltsam, sich etwas so lange gewünscht zu haben und zu wissen, dass jetzt die Zeit gekommen war. Dass dieses riesige Geschenk, diese gigantische Verantwortung bald die ihre sein würde. Sie musste bei dem Gedanken beinahe lächeln, während sie die Treppen in die zweite Etage hochstieg. Allein die Erwartung war fast schon mehr als ihr Verhältnis aushielt.
Theis saß mit einem letzten Schluck Rotwein auf dem Sofa und sah CNN. Sie hörte etwas von Anthrax und Osama bin Laden, den zurzeit üblichen Themen. Hin und wieder vermisste man etwas ganz anderes.
»Ich denke, sie sollten eine Sendung über Schweden bringen«, schlug sie bei einem Kuss vor, der sie als die Sünderin entlarven würde, die sie war.
»Du hast geraucht«, murmelte er, wie vorherzusehen gewesen war, und sie hatte das Gefühl, dass er sie vorwurfsvoll ansah.
»Nur eine.«
»Und nur ein Glas?«
Sie seufzte.
»Anderthalb. Vielleicht auch zwei. Ich habe das gebraucht.«
»Das kann ich mir denken«, sagte er und zeigte auf die Zeitung, die unter einer Schüssel mit Pistazien lag. Schalen waren über die Seiten verteilt. »Was für ein Fund für eine Schwangere. Warum hast du mir nichts erzählt? Denn du warst doch dort, nicht?«
Hörte sie da eine gewisse Sorge oder nur einen Vorwurf in seiner Stimme? War er enttäuscht über ihr Schweigen oder besorgt um ihren Seelenfrieden? Sie hoffte Letzteres. Wollte sich hinsetzen und erklären, dass sie nicht zu denjenigen gehörte, die einfach drauflosredeten, ohne das Gefühl zu haben, dass es ihn interessierte. Dass sie in der letzten Zeit gemerkt hatte, dass er mehr als genug mit seiner Arbeit beschäftigt war und ihre vertraulichen Mitteilungen der einen oder anderen Art ihm nur lästig waren. Wie damals, als das Wasser sich in ihrem Körper zu sammeln begann und sie ihre Schuhe nicht anbekam oder als der Leistenbruch sich ankündigte, bedingt durch die Schwangerschaft. Noch ein Problem, zu dem man Stellung nehmen musste. Und Probleme hatte er schließlich genug, wie er immer sagte.
»Ich habe es wohl vergessen«, log sie.
»Vergessen«, wunderte er sich. »So etwas vergisst man doch nicht. Ich weiß zwar, dass du an anderes zu denken hast, aber trotzdem.«
Sie nahm sich eine Hand voll Pistazienkerne, schüttelte die Schalen von der Zeitung und setzte sich in den Lehnstuhl. Starrte auf das Bild von den Freundinnen mit der Plastikwanne in Dictes Schoß. Ihre leeren Blicke. Die Stille zwischen ihnen. Sie hatte das Bild selbst gemacht. Fast automatisch drauflosfotografiert, während ihr Verstand stillstand und sich weigerte zu begreifen. Jetzt war es auf der Titelseite der Avisen gelandet. In Begleitung von Dictes Text mit der Überschrift »Moses auf dem Århus«. Darunter stand in Fettdruck: »Freundinnen finden neugeborenen Jungen tot auf dem Fluss. Keine Spur von der Mutter des Kindes.«
Sie versuchte zu lesen, schaffte es aber nicht. Begann zu frieren und kroch zu Theis hinüber und zog die Wolldecke um sich, die auf dem Sofa lag. Er musste ihr die Zigarette verziehen haben, denn jetzt legte er gutmütig den Arm um sie und rieb leicht ihren Bauch. Sie beschloss, nichts mehr zu seiner Wochenendarbeit zu sagen, auch wenn sie geplant hatten, in die Stadt zu gehen und nach einem Kinderwagen zu sehen. Rieb ihre Nase an seiner rauen Wange. Spürte die Lust und den Hunger nach Sicherheit wie einen fein gesponnenen, zusammengedrehten Faden, der langsam stärker wurde.
»So, so, das willst du«, murmelte er, während sie sein Ohr streichelte und küsste und wollte, dass sein Körper ihren umschloss. Sie an einen schönen Ort entführte. Sie rettete.
An der Stimme hörte sie sein etwas widerstrebendes Lächeln, hörte aber nicht auf. Schob alle Gedanken, dass sie sich wie eine tonnenschwere Kuh vorkam, zur Seite. Er sollte sie begehren. Sie beschützen.
»Was bist du weich und rund geworden«, sagte er. Seine Hand wanderte zu ihrer Lende und tiefer, und sie entschloss sich, es als Kompliment zu betrachten. Ja, sie war runder geworden; üppiger; mit Beinen, die anschwollen, gar nicht erst zu reden von der verdammten Hämorrhoide, die sie gerade jetzt zum Teufel wünschte. Aber das musste er nun mal in Kauf nehmen.
Sie stand auf. Zog leicht an ihm.
»Komm.«
Sie sah, dass er zögerte. Vielleicht dachte er das Gleiche wie sie. Vorsichtig begegnete sein Blick dem ihren.
»Vielleicht sollten wir besser warten.«
»Worauf?«
»Ja, weißt du...« Sein Blick wanderte nach unten zu ihrem Bauch, und sie hörte ihren Ärger.
»Es wird doch nur noch schwieriger, wenn das Baby erst da ist. Zeit zu finden, meine ich.«
Einen Moment sah er richtiggehend panisch aus. Dann schien er einen schweren Entschluss zu treffen, stand auf und ließ sich mit ins Schlafzimmer ziehen, aber an der Steifheit seines Nackens sah sie, dass er es ausschließlich ihr zuliebe tat. Weil er nicht wusste, wie er sonst mit der Situation fertig werden, mit ihr und ihrer Unberechenbarkeit umgehen sollte.
Erst als sie sich geliebt hatten, gemütlich und unbeholfen. Erst als er sich von ihr zurückgezogen und mit einem leichten Schnarchen auf seine Seite gerollt hatte, erinnerte sie sich an die Worte von Hanne Guldberg, als sie sich im Treppenhaus verabschiedet hatten.
»Ich weiß nicht genau, was das zu bedeuten hat. Aber ich spüre, dass wir uns nicht das letzte Mal gesehen haben, Sie und ich.«
Die Angst traf sie wie ein Schlag in die Magengrube, während sie dalag. Beschwerlich drehte sie sich im Bett um und kroch näher an Theis heran. Tat etwas, das sie seit vielen Jahren nicht mehr getan hatte. Nicht seit ihrer Kindheit, dachte sie, als sie die Hände faltete und betete.