Читать книгу Der tote Knabe: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 4

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Die Sonne schien auf das Wasser des Århus-Flusses und die Luft roch nach Spätsommer. Die Blumenhändlerin an der Ecke des großen Kaufhauses Magasin hatte reichlich zu tun, und Eltern von Kleinkindern und Teenager bevölkerten langsam die Fußgängerzone Immervad und schleckten das erste Eis des Tages. Alles wirkte so gesehen ziemlich normal. Unnormal normal, im Grunde genommen. Eigentlich hätte es ein schöner Tag sein können, wäre er nicht so verdammt schlecht gewesen.

Irgendetwas in der Richtung dachte sie, als sie das Kind erblickte. Oder besser gesagt den Laut hörte, denn er fing als Erstes ihre Aufmerksamkeit ein. Der raue Laut von Plastik, das gegen Steine schabt. Warum er gerade ihr Ohr erreichte, wusste sie nicht. Vielleicht litten die Gäste in den Straßencafés unter den Heizstrahlern nach den Open-Air-Konzerten des Sommers unter einer verminderten Hörfähigkeit. Oder das Gehör verfeinerte sich, wenn man vierzig wurde.

Aber vorher, bevor sie das Kind entdeckte, waren da die Freundinnen Ida Marie und Anne. Und ihr verdammtes Geburtstagsgeschenk, das sie, mit hochrotem Kopf und verlegen, ganz entspannt entgegenzunehmen versuchte. Was ein wenig schwierig war, vor allem weil Ida Marie sich mit ihrem großen, dicken Bauch erhoben und für das ganze Café und alle Passanten, die zuhören mochten, ein schwedisches Geburtstagslied angestimmt hatte. Dazu winkte sie mit einer schwedischen Fahne. Die Leute klatschten, als sie fertig war.

Aller Augen waren deshalb auf ihren Tisch gerichtet, hatte Dicte das Gefühl. Und das wäre vielleicht gar nicht so schlimm gewesen, wäre da nicht noch dieses Geschenk gewesen, das Ida Marie und Anne ihr feierlich überreichten.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, zum Haus und zur Scheidung«, leierte Anne herunter, als läse sie von einem unsichtbaren Merkzettel ab. Anne war nie die Spontanste gewesen und hatte die kleine Rede bestimmt auswendig gelernt. »Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen versucht, ein Geschenk zu finden, das zu jedem der drei Anlässe passt.«

Ida Marie holte ihre Kamera aus der Tasche. Ida Maries Kamera war berüchtigt.

Anne ignorierte sie.

»Glaub nur nicht, dass das leicht war. Und billig auch nicht. Wir haben die verschiedensten Leute um Rat gefragt. Psychologen, Moderatoren, Teilnehmer der Robinson-Show und Kummerkastentanten. Alle haben ihre Meinung beigesteuert, und das Resultat ist, wenn ich das so sagen darf, ergreifend.«

»Man muss einfach zugreifen«, fügte Ida Marie ernsthaft hinzu, während Anne in bester Stimmung und mit Showmaster-Stimme an Dicte gewandt fortfuhr:

»Es fällt in die Kategorie eins.«

Während sie das Päckchen, eine längliche, in schwarzes Seidenpapier gehüllte Schachtel mit einer flaschengrünen Schleife, hervorholte, hatte Dicte das Gefühl, die ganzen letzten Geburtstage wie auf einer gezippten Diskette Revue passieren zu sehen. Vielleicht wäre es korrekter zu sagen, dass sie sie auf einen reduziert sah und das kleine, irritierende Wort Gemütlichkeit darüber zu schweben und ihr vor der Nase herumzubaumeln schien. Irritierend, dass sie das vermisste. Ebenso wie die Familie. Wie Torsten, der Teufel sollte ihn holen. Torsten war unübertroffen im Ausrichten von Geburtstagen, das musste sie ihm lassen. Kaffee und Brötchen im Bett; Kerzen auf dem Nachttisch; Liebe mit speziellen Dicte-Effekten, wie er das nannte. Und abends ein Essen mit den engsten Freunden, die nach der Scheidung die Seite gewechselt und sich für ihn entschieden hatten. Nicht, weil die Moral auf seiner Seite war; alle wussten, dass dem nicht so war. Sondern weil er bei Abendgesellschaften ein guter Unterhalter und hin und wieder im Fernsehen zu sehen war. Jedenfalls war sie zu diesem Schluss gekommen.

Sie selbst war zurück nach Århus gegangen, wo sie, wie die Hälfte der Einwohner Kopenhagens, ihre Studienzeit verbracht hatte. Die Idee war, neu anzufangen. Den Kontakt zu alten Freunden wieder aufzunehmen und neue zu finden, sodass sie außer Rose noch andere Bezugspersonen hätte. Töchter im Teenie-Alter waren und blieben unbeständige Zeitgenossen.

Während die Gedanken durch ihren Kopf schwirrten, kabbelten die Freundinnen sich, inwieweit sich die Kategorie auf Werkzeug, Gerät, Hilfsmittel oder ein Viertes eingrenzen ließ. Anne schlug Toilettenartikel vor. Auf der gleichen Ebene wie Zahnbürste und Wattepads.

»Und jetzt pack endlich aus«, verlangte Ida Marie ungeduldig und richtete die Kamera auf sie. »Wir sind gespannt.«

Den Blicken der übrigen Cafégäste nach zu schließen, waren sie nicht die Einzigen, die warteten.

Sie starrte das Geschenk an, und es schien zurückzustarren. Schelmisch. Sie stellte sich eine schwarze Schachtel vor, aus der in dem Moment, in dem sie sie öffnete, ein Clown auf einer Feder heraussprang und sie mit einem Boxhandschuh k.o. schlug. Trotzdem zog sie die Schleife auf. Packte langsam aus.

Hatte das Dings plötzlich in der Hand und versuchte ohne viel Glück zu erraten, was für eine Funktion es hatte, während Ida Marie professionell fotografierte.

Es war schreiend pink mit kleinen roten Noppen, woraus sie schloss, dass Ida Marie die Farbe ausgesucht hatte. Und es war aus Plastik. Seine Form war länglich und erinnerte an eine Rakete.

»Jedenfalls ist es handlich«, sagte sie nervös. »Was immer es ist.«

Anne und Ida Marie kicherten und lachten. Auch an den meisten anderen Tischen wurde gekichert und gelacht.

Sie begann, das Ding zu untersuchen. Drehte es auf den Kopf und stellte fest, dass der eine Teil, der untere, sich drehen ließ. Ohne Vorwarnung begann das Dings so kräftig zu vibrieren, dass sie es vor Schreck auf den Tisch fallen ließ.

Ihr erster Gedanke, als es ihr langsam dämmerte, war: »Das könnt ihr doch nicht ernst meinen.« Schnell gefolgt von: »Wie sich das wohl anfühlt?«

Sie begrub das Gesicht in den Händen und spürte, wie das Blut sich verräterisch in Gehirn und Gesicht ausbreitete und alles rot färbte, innerlich und äußerlich.

»Ein Dildo!«

Sie starrte Ida Marie und Anne an. Starrte auf den Vibrator, der auf dem Tisch lag und sie aus Ärger, so unsanft fortgeworfen worden zu sein, anknurrte.

»Du musst zugeben, das war genial«, sagte Anne und sah sie mit ihren schrägen Asiatenaugen an. Anne, die sonst immer so ernst war. Anne, die Salman Rushdie las und die im Alter von sechs Monaten mit einem Flugzeug aus Korea gekommen und auf einem ostjütländischen Pfarrhof gelandet war. Und die jetzt davon lebte, kleine rosige Dänen auf die Welt zu bringen.

Ida Marie streckte mitfühlend die Hand aus und schaltete den Dildo gekonnt aus.

»Sonst ist die Batterie gleich leer«, erklärte sie und sah Dicte aus Augen von der Farbe der schwedischen Papierflagge, die jetzt nutzlos auf dem Tisch lag, unschuldig an. »In der Zeitung stand, dass jede siebte dänische Frau einen hat«, informierte sie bereitwillig.

Diese Gelegenheit konnte Dicte sich nicht entgehen lassen.

»Und was ist mit den Schwedinnen? Oder sind die Dinger in Schweden verboten? Du könntest doch in Erwägung ziehen, sie einzuschmuggeln«, schlug sie vor.

»Aber die Batterien solltest du vorher rausnehmen«, fügte Anne hinzu.

Das Bild von Ida Marie mit Hunderten von vibrierenden Dildos und einem wütenden schwedischen Zöllner zauberte auf wundersame Weise das erste Lächeln dieses Tages auf Dictes Gesicht. Sie spürte, wie sich ihre Mundwinkel plötzlich nach oben verzogen; wie die Lachmuskeln sich spannten. Sie lachte erleichtert auf und ließ etwas von dem Geburtstagsstress ab.

Ida Marie nahm eine neutrale Stimme an.

»In Schweden kennt man so etwas natürlich nicht. Dort haben wir die schwedischen Männer.«

Der Kommentar löste Gelächter an den Nachbartischen aus.

»Manche Frauen behaupten, so ein Ding einem Mann vorzuziehen«, sagte Anne freundlich. »Es soll weniger Mühe machen. Wie man so sagt.«

»Wie man so sagt«, wiederholte Dicte und merkte, wie sie ihre Fassung zurückgewann. »Soll das heißen, ihr habt ihn nicht einmal ausprobiert?«

Anne machte erst ein dummes Gesicht, dann gewann ihre praktische Natur die Oberhand.

»Du kannst ihn umtauschen«, sagte sie ernst. »Wenn du mit dem hier nicht zufrieden bist, kannst du dir auch einen holen, der wie ein Handy aussieht.«

Dicte steckte den Dildo schnell zurück in die Schachtel.

»Nun gut, danke für das Geschenk«, murmelte sie und vermied es, den beiden in die Augen zu sehen. Stattdessen wanderte ihr Blick zu der Blumenhändlerin an der Ecke hinüber, und sie ärgerte sich, dass sie ihr nicht einfach einen Blumenstrauß gekauft hatten. Sie sah sich die Leute an, die an diesem Septembertag unterwegs waren. Ein Inlineskater schlängelte sich zwischen den Eltern von Kleinkindern und den Eis essenden Teenagern durch. Alles sah ganz normal aus, aber der Schein trog. War sie nicht gerade vierzig geworden? Und war der unerwünschte Geburtstag nicht auf denselben Tag wie die letzte Unterschrift in ihrer Scheidungssache gefallen? Und als Krönung und Betonung ihres neuen – und unerwünschten – Singledaseins bekam sie einen Dildo als Geburtstagsgeschenk!

Genau in diesem Moment hörte sie den Laut vom Fluss, direkt unterhalb der Stelle, wo sie saßen. Mit Annes und Ida Maries Stimmen im Hintergrund erreichte er sie plötzlich und erinnerte sie an den Tag vor vielen, vielen Jahren, als sie als Kind einen Plastikeimer in den Hofbrunnen hinuntergelassen hatte, der nahezu bodenlos und verbotenes Terrain war. Nur um hinterher ihre erste Ohrfeige zu kassieren.

Vielleicht vergaß sie deshalb alles über Dildos und Scheidungen und Freundinnen, für die man sich schämen musste.

Sie stand auf. Ging die paar Schritte zum Ufer und sah in das morastig grüne Wasser hinunter. Horchte wieder. Kniff im Sonnenlicht die Augen zusammen und spürte mit dem Schaukeln des Wassers den Abstand zu damals.

Dann fiel ihr Blick auf die blaue Plastikwanne, die auf dem Wasser schaukelte. Ganz nahe am Ufer, vielleicht von der Strömung dorthin getrieben. Und dann sah sie das Gesicht, teilweise unter einem Handtuch versteckt. Klein und bleich und mit geschlossenen Augen.

Lange Zeit starrte sie nur, während der Schürflaut zu einem unwirklichen Geräuschteppich wurde. Dann schien ihr Körper aufzutauen, und sie spürte den unmöglichen Drang, das Bündel in die Arme zu schließen. Es zu beschützen. Seine weiche Haut an ihrer Wange zu spüren und ihm Leben einzuhauchen, es warm, satt und zufrieden zu machen. Instinkt, das wusste sie, und wunderte sich. Nach so vielen Jahren.

»Ein Kind«, hörte sie ihre eigene Stimme, fern und zitternd wie der Ton eines schlechten Tonbandgeräts.

Sie merkte, dass sie den Atem angehalten und die Luft erst mit den Worten herausgelassen hatte.

»Da unten liegt ein Kind.«

Sie zeigte auf das trübe Wasser.

Der tote Knabe: Skandinavien-Krimi

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