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10.

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Die Stimmen wanden sich in- und umeinander bis hoch in die Wölbung des Kirchenschiffs. Die Domkirche von Århus war für Brahms’ Requiem wie geschaffen.

Er sang. Spürte, wie sich die innere Uniform auflöste und er er selbst wurde. Nicht der Kriminalkommissar John Wagner, sondern der Bass John Wagner. Der singende Polizist, wie er im Polizeipräsidium genannt wurde, das wusste er. Aber es war ihm egal. Nein, vielleicht nicht ganz. Nicht, wenn er den Mangel an Respekt seitens der jungen Beamten spürte, aber das gab sich schnell. Anfangs begriffen sie nicht, dass man trotzdem tatkräftig und hart sein konnte, auch wenn man einem Hobby wie dem Singen in einem Chor nachging, sodass er hin und wieder ein Exempel statuieren musste. Sie verstanden nicht, dass es eine Stärke und keine Schwäche war, einen Ort zu haben, eine Insel für die Gefühle. Dass es ihn zu dem machte, der er war. Zu dem, der die Verantwortung trug und der sich nicht drückte. Der all das in einem Kasten verschließen konnte, dessen Existenz sie oft leugneten. So gewaltsam leugneten, dass sie die Abgestumpftheit an den Tag legten, die die Leute nur allzu oft mit der Polizei in Verbindung brachten.

»Selig sind, die da Leid tragen«, sang der Chor, und die Soprane waren hell und rein und versprachen himmlische Seligkeit mit Posaunen und Engeln. Die Mittelstimmen waren die tragenden und gaben Fülle, und die Bässe bildeten den Grund, während der Dirigent Blumen in der Luft zeichnete.

Er formte die Worte; mischte seine Stimme mit den Sopranen, Altstimmen und Tenören, sodass der Klang voll und schwebend wurde, sich des Raums bemächtigte und ihn forttrug.

Selig sind, die da Leid tragen.

Er ließ die Worte aus seinem Mund strömen und dachte an Nina. Spürte, wie seine Brust sich zusammenschnürte, dass es zugleich weh und gut tat. Es war jetzt ein halbes Jahr her, und er trauerte noch immer, das wusste er. Nicht nach außen hin. Aber in seinem Inneren. Ganz tief drinnen, wo nur die Musik hingelangte. Dieses zähe, dichte Requiem, das sie zu Weihnachten aufführen wollten und das ihn vom ersten Probentag an begleitete. Dessen Worte in diesen Tagen in ihm lebten. Tag und Nacht.

Nicht dass er Zeit hatte, zu allen Proben zu erscheinen, natürlich nicht. Hin und wieder hatte die Arbeit ihn auch an den Abenden gefordert, und außerdem war da Alexander. Was das anging, war es ein Geschenk, eine Schwester zu haben, die ein wenig weiter die Straße hinunter wohnte und einen Sohn im gleichen Alter hatte. Er wusste wirklich nicht, was er in den letzten Jahren ohne Hanne gemacht hätte.

Der Dirigent ließ die Arme sinken. Wandte sich an die Soprane.

»Hier brauchen wir einen fast überirdischen Klang. Piano pianissimo, steht da. Wie von einem Engelschor«, sagte er bildhaft. »Wir fangen bei E an.«

Die hellen Stimmen sangen. Sie hatten acht Soprane, ganz unterschiedlich im Charakter, aber jeder mit seiner ihm eigenen Stärke. Besonders ein Sopran war ihm aufgefallen. Nicht dass er die Frau kannte. Er hatte erst vor ein paar Monaten wieder im Chor zu singen begonnen, nach der Pause nach Ninas Krankheit. Aber sie und ihre Stimme hatten etwas so Reines, Zartes, dass es ihn mitten ins Herz traf.

»Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.

Selig sind, die da Sorge tragen, denn sie sollen Trost finden.«

Er hoffte, dass das stimmte. Wusste in seinem tiefsten Inneren, dass eines Tages der Punkt kommen würde, wo die Trauer nachließ. Sie würde immer da sein, in gleichem Umfang, aber vielleicht mit ein wenig mehr Freude durchsetzt. Ein wenig mehr Leichtigkeit, wie wenn die Soprane sangen und das Dunkel sich lichtete.

Zumindest hatte er die Musik, die ein Trost in sich war. Eine Stärke. Und die konnte vonnöten sein, auch wenn er an all das andere dachte. Das, was in den letzten Tagen auf seinem Schreibtisch gelandet war, und das ausreichte, um jeden verantwortungsbewussten Polizisten zu stressen. Das Rätsel um das Kind auf dem Fluss und jetzt das Problem auf der Entbindungsstation des Krankenhauses.

Er seufzte. Hin und wieder war es gar nicht so einfach, den Glauben an das Gute nicht zu verlieren.

Nach der Arbeit mit den Sopranen, die jetzt wie ein Engelschor klangen, unterbrach der Dirigent die Probe.

»Eine Viertelstunde Pause«, verkündete er. »Es gibt Thermoskannen mit Tee und Kaffee. Und Iben hat Kuchen gebacken, soll ich sagen und grüßen.«

Die Leute stellten sich an. Unterhielten sich. Vielleicht sprachen sie so leise, weil sie sich in einer Kirche befanden.

»Hallo, John«, sagte jemand neben ihm, der auch zu den Tenören gehörte. »Ich hätte nicht gedacht, dass du heute Zeit hast. Nach allem, was in der Stadt passiert ist.«

Wagner sah ihn von der Seite an.

»Es war auch nicht leicht, mich frei zu machen. Aber es gibt andere gute Hände, die sich in der Zwischenzeit der Sache annehmen können.«

Er sagte das in der Gewissheit, den größten Teil der Nacht mit dem Lesen von Protokollen und dem Zermartern seines Gehirns zu verbringen. So war es in der Regel, wenn ein neuer Fall brannte. Man konnte ihn nie ganz loslassen.

Der Sangesbruder nickte verständnisvoll.

»Hässliche Geschichte, das mit dem Krankenhaus.«

Wagner nickte zurück. Äußerte sich nicht weiter dazu. Es entsprach nicht seiner Natur, mehr als notwendig zu sagen, und außerhalb der Arbeitszeit sprach er in der Regel nicht über die Fälle. Das wusste der Tenor gut, aber er fuhr trotzdem fort.

»Meine Frau hat vor einem halben Jahr ein Kind zur Welt gebracht. Ich kann dir sagen, dass ihr ganz komisch wurde, als sie das gehört hat. Da läuft es einem wirklich kalt den Rücken herunter. Und dann hier. In unserer Stadt. Das muss man sich einmal vorstellen.«

Sie waren bei den Thermoskannen angelangt, und Wagner goss Kaffee in seine und die Tasse des Sangesbruders. Er nahm sich ein Stück Kuchen und setzte sich auf eine Kirchenbank, ein wenig von der restlichen Versammlung entfernt, die leise summte. Normalerweise war er ziemlich sozial, aber heute brauchte er Zeit zum Nachdenken. Vielleicht hätte er gar nicht kommen sollen. Plötzlich schien ernsthaft eine Scheidelinie zwischen Bürgern und Polizei entstanden zu sein. In der Luft schien eine Erwartung zu liegen, die er sonst nur selten spürte.

Das Interesse der Leute war neu, denn so oft interessierte sich sonst niemand für seine Arbeit. Aber die Ereignisse der letzten Tage hatten etwas in Gang gesetzt, und vor Probenbeginn hatten ihn viele nach dem Stand der Ermittlungen gefragt.

Er brach ein Stück von dem Kuchen ab und schnupperte. Er duftete nach Rosinen und Sukkade und erinnerte ihn an Weihnachten, obwohl der Oktober gerade erst begonnen hatte.

Seltsam, wie der Charakter eines Verbrechens Auswirkungen auf die Reaktionen der Menschen hatte, dachte er, während er kaute. Natürlich waren die Reaktionen auf einen Mord von dessen Motiv oder dem Fehlen desselben abhängig. Aber das war nichts gegen das hier; gegen das Kind auf dem Fluss und den Grafittimaler im Krankenhaus, wie die Presse ihn getauft hatte. Oder sie natürlich, denn es konnte genauso gut eine Frau sein. Die beiden Ereignisse schienen die ganze Stadt zu bewegen. Leute hielten ihn auf der Straße an und kamen mit Kommentaren, die mehr oder minder gut durchdacht waren und manchmal einen Ansatz von Fremdenhass in sich trugen, obwohl niemand irgendetwas wusste. Seine erwachsene Tochter, die gerade schwanger war, hatte ihm anvertraut, dass sie es nicht wagte, in dem Krankenhaus zu entbinden, und sich für eine Hausgeburt entschieden hatte. Und eine erfahrene Kollegin auf dem Präsidium hatte plötzlich zu weinen begonnen und mit brüchiger Stimme gefragt, ob die Welt denn total verrückt geworden sei. Ob das Böse langsam die Oberhand gewinne. Ihr Sohn war am 11. September in New York gewesen und hatte gesehen, wie das World Trade Center in sich zusammenfiel, und zwei Tage lang hatte sie nicht gewusst, ob er noch lebte, weil das Telefonnetz von New York zusammengebrochen war. Und jetzt setzten Frauen ihre Kinder auf dem Århus aus, und jemand schrieb Neugeborenen stirb auf die Stirn. Was würde als Nächstes kommen?

Im Präsidium waren sie mit Reaktionen und Hinweisen überschwemmt worden. Nicht dass sie irgendetwas davon brauchen konnten. So war es immer. Die meisten Hinweise dazu, was die Leute gehört oder gesehen hatten, erwiesen sich bei näherer Überprüfung als unbrauchbar. Faktisch hatten sie den ganzen Tag über nur einen Hinweis bekommen, der vielleicht zu irgendetwas führen konnte. Er war von einer Journalistin gekommen, und genau besehen, hätten sie im Präsidium selbst darauf kommen müssen.

Er spülte mit Kaffee nach, während die anderen sich im Raum verteilten. In einer Ecke saßen drei Altstimmen und diskutierten etwas in den Noten. Hin und wieder schlug jemand vor, wie die Phrasierung sein sollte, und die Stimme erklang im Raum. In einer anderen Ecke standen drei Tenöre und sprachen mit gedämpften Stimmen, während sie die Kalkmalereien studierten, die vor kurzem freigelegt worden waren.

Er dachte an die Journalistin. Sie war neu. Mit den Jahren hatte er viele Journalisten kennen gelernt; einige besser als andere. Jede Zeitung und jeder Fernsehsender hatten feste Kriminalreporter, in der Regel Männer. Entweder waren sie alte Hasen und wussten genau, wonach sie fragen mussten und was sie nicht fragen durften, und das Resultat ihrer Arbeit war in der Regel ordentlich, aber vorhersehbar. Oder es waren junge Männer; vor allem frisch ausgebildete Journalisten, die alles taten, um Platz auf der Titelseite zu bekommen. Eifrig und draufgängerisch, aber auch ein bisschen blutrünstig. Solche, die eine Geschichte lieber etwas grausamer und blutiger darstellten, anstatt das Menschliche in den Mittelpunkt zu rücken.

Und dann war da die Neue. Die etwas unsichere und unorthodoxe Dicte Svendsen mit dem wuscheligen Haar und der kleinen Narbe auf der Lippe, die sie ein wenig vernachlässigt aussehen ließ. Als hätte irgendjemand, sicher sie selbst, vergessen, dass sie eigentlich recht hübsch war. Nicht im konventionellen Sinn, aber trotzdem. Als wäre sie lange Zeit zu beschäftigt gewesen, um in den Spiegel zu sehen und ihren graublauen Augen zu begegnen, die an die eines wachsamen Tieres erinnerten. Gar nicht zu reden von der konstanten Bewegung, mit der sie sich sanft die Haare aus den Augen strich, nur damit sie schnell wieder zurückfielen.

Sie war an diesem Nachmittag, wie verabredet, im Präsidium erschienen. Ohne Tonbandgerät, was ungewöhnlich war.

»Ich rufe Sie lieber an und lese es Ihnen vor«, hatte sie gesagt.

Er hätte sich beinahe vor Überraschung auf seinen Stuhl fallen lassen. Es war selten, dass Journalisten von sich aus vorschlugen, ihm den Artikel zu zeigen, bevor er gedruckt wurde.

»So vermeiden wir Missverständnisse«, hatte sie ihr Vorhaben bekräftigt und sich mit dem Block auf dem Schoß ein wenig nach vorn gebeugt.

Sie wirkte sehr offen, dachte er. Gerade heraus. Oder sie wollte so wirken, verbarg möglicherweise etwas. Er war sich nicht sicher.

»Wie gesagt. Ich soll für die Morgenausgabe einen Artikel über die Ereignisse im Krankenhaus schreiben. Meine Freundin hat das Kind mit dem Graffito auf der Stirn gefunden. Das sage ich Ihnen gleich vorab.«

Auch das überraschte ihn. Viele andere Journalisten hätten diese Information für sich behalten, um sie bei dem folgenden Interview als Überraschungsmoment aus dem Ärmel zu ziehen.

»Und dann habe ich etwas, das Sie vielleicht brauchen können. Wenn Sie es nicht bereits wissen.«

Er spitzte die Ohren. Hatte aus irgendeinem Grund Vertrauen, dass sie ihm keinen Unsinn erzählen würde. Dass es wichtig sein könnte, wenn sie es für wichtig hielt.

Sie saßen in seinem Büro. Sie hatte ein Mineralwasser bekommen, nach dem sie jetzt vorsichtig die Hand ausstreckte, um etwas in ihr Glas einzuschenken, das nicht ganz klar war. Er machte sich im Kopf eine Notiz, dass die Spülmaschine Salz brauchte. Er musste daran denken, in der Küche Bescheid zu sagen. Man musste sich aber auch um alles selbst kümmern.

»Das Handtuch, in das das Kind gewickelt war«, sagte sie. »Jedenfalls eines davon. Es ist wahrscheinlich im Magasin gekauft worden.«

Er wusste, dass er sie anglotzte. Dass sie deutlich sehen konnte, wie die Information ihn überraschte.

»Woher wissen Sie das?«

Sie erzählte es ihm. Und innerlich verfluchte er seine Leute, dass sie diesem Aspekt des Falles nicht nachgegangen waren. Oder zumindest hatte man ihm nichts davon gesagt.

Anschließend hatte sie ihn zu den Vorkommnissen im Krankenhaus interviewt, und er musste zugeben, dass er ihr vielleicht mehr Informationen gegeben hatte, als er es normalerweise tat. War das dumm? In der Regel sagte er Journalisten nie mehr als nötig. Eher ein bisschen weniger. Niemandem, genau genommen, denn fünfundzwanzig Dienstjahre hatten ihn gelehrt, seine natürliche Wortkargheit zu pflegen. Aber es war ein wenig wie mit der Musik. Als entlockte sie ihm etwas, das sonst unter Verschluss blieb.

Er trank den letzten Schluck Kaffee und stand von der harten Kirchenbank auf. Versprach sich, das nächste Mal vorsichtiger zu sein.

Sein Blick fiel zufällig auf die blonde Sopranistin, die ein wenig abseits allein auf einer Treppe saß und leise übte. Halbschwedin, wie er gehört hatte. Jetzt blickte sie auf, und ein Paar verwunderte blaue Augen begegneten seinen. Als würde sie erst jetzt seiner gewahr, obwohl sie zusammen im Chor sangen und natürlich ein paar Worte über dies und das miteinander gewechselt hatten. Als würde sie begreifen, dass er etwas anderes war als ein Mann mit einer Singstimme.

Sie lächelte vorsichtig, und er nickte ihr zu und versuchte sich an einem Lächeln, das ein wenig streng ausfiel. Das hatte mit seiner Arbeit zu tun, das wusste er. Er sollte sich daran gewöhnen, hin und wieder ein wenig er selbst zu sein.

»Wann ist es so weit?«, fragte er, als er in ihrer Hörweite war.

Unwillkürlich griff sie nach ihrem schwangeren Bauch. Sie war schön, fand er. Mit dem langen, bis zur Taille reichenden blonden Haar und den reinen Zügen glich sie einem der Engel, von denen der Dirigent so gerne sprach.

»In ungefähr drei Wochen«, sagte sie. »Noch eine Ewigkeit.«

Irgendwo im Bauch spürte er etwas Warmes und wusste, dass die Worte wahr waren. »Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.«

Der tote Knabe: Skandinavien-Krimi

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