Читать книгу Der tote Knabe: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 5
2.
Оглавление»Svendsen?«
»Kaiser«, murmelte Dicte in den Hörer und griff automatisch nach dem Kugelschreiber. Stütze. Unsicherheit. Ihre Analyse erfolgte automatisch. Hin und wieder verwünschte sie ihr Psychologiestudium, auch wenn sie es nur zur Hälfte absolviert hatte.
Der Nachrichtenredakteur schien über das Telefon hören zu können, dass man besser nicht an ihr herummäkelte. Und genau deshalb tat er es, denn so war er nun mal. Wie die meisten Redakteure überall auf der Welt, dachte sie. Diese Art Menschen wurde mit einem besonderen Redakteursgen geboren, das sie dazu befähigte, Journalisten nervös zusammenzucken zu lassen und Fragen zu stellen, die vorzugsweise mit höchstens drei präzisen Worten beantwortet werden sollten. Mit Kaiser sprach man in der Regel in Zeitungsüberschriften.
»Wie ich gehört habe, warst du schwimmen.«
Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Der Kugelschreiber begann nahezu von selbst, Kringel auf den Block zu malen.
»Was hast du gehört?«
»Etwas über einen Moses auf dem Århus.«
Sie hatte nicht die geringste Ahnung, woher er es wusste. Aber es überraschte sie auch nicht. Otto Kaiser war, wollte man den Gerüchten Glauben schenken, mit einem sechsten und siebten Sinn ausgestattet, was Sensationen und die Kunst anging, den wunden Punkt eines Menschen zu treffen.
Sie selbst hatte das erst einige wenige Male zu spüren bekommen. Aber das reichte ihr, und seitdem hatte sie, wann immer es möglich war, einen großen Bogen um den Nachrichtenjournalismus gemacht. Um Kaisers Domäne. Der Umzug nach Århus hatte zu ihrer großen Zufriedenheit den Abstand noch vergrößert, ein kleiner Nebengewinn ihres Entschlusses. Der Hauptgewinn war natürlich, dass Torsten nicht länger einfach so vorbeischauen konnte.
»Ich hatte nicht viel damit zu tun«, sagte sie zögernd.
Der Kugelschreiber malte ein Gesicht, während sie nachdachte. Dreieckige Form, dunkle Augen, Schnauzbart. Kaiser.
»Ich habe etwas anderes gehört«, insistierte die Stimme honigsüß. »Ein Vögelchen hat mir erzählt, dass du den kleinen Moses entdeckt und dich wie ein Labrador in den Fluss gestürzt hast. Du hättest eine Heldin werden können, Svendsen. Ein Jammer, dass es zu spät war«, fügte er boshaft hinzu.
»Wenn du das so sehen willst«, sagte sie und fügte der Zeichnung etwas Körperähnliches hinzu. Lang und gewandt und dynamisch. Unvorhersehbar. »Ich weiß nicht mehr. Das Kind war tot. Der Krankenwagen kam schnell, und die Polizei hat sich um alles Weitere gekümmert. Das war’s.«
Indem sie es sagte, war sie sich sehr wohl bewusst, wie grob sie das Gesetz der Journalistenwelt verletzte, an die sie sich wohl nie gewöhnen würde. Eine gute Story musste von hinten und von vorne erzählt werden. Und natürlich war hier mehr zu holen. Sehr viel mehr. Diese Geschichte bot Stoff für einen ganzen Fortsetzungsroman.
»Also dann, ich muss mich beeilen«, versuchte sie es. »In einer halben Stunde muss ich einen Artikel in der Wirtschaftsredaktion abliefern.«
Letzteres fügte sie in dem Versuch hinzu, Kaiser auf seine eigenen Nachrichtenreporter zu verweisen und nicht Leute in der Wirtschaftsredaktion zu klauen, wo sie arbeitete. Es war der übliche Kleinkrieg.
»Ich habe mit Mikkelsen gesprochen«, sagte Kaiser listig. »Und er hat dich freundlicherweise für eine Woche ausgeliehen, weil Seifert in Urlaub ist und Davidsen mit der Rockersache in Randers zu tun hat.«
Dicte spürte, wie die Welt sich gegen sie verschwor. Allein bei dem Gedanken, zu Kaisers Regiment von Nachrichtensoldaten zu gehören, brach ihr der Schweiß aus. Für viele war das ein Traumjob, das wusste sie. Aber nicht für sie. Sie blieb am liebsten für sich, schrieb ihre kleinen Artikel über Wirtschaftspsychologie und machte hin und wieder ein langes und langweiliges Interview mit einem Manager.
»Ich bin keine Nachrichtenjournalistin«, wandte sie ein, aber das beeindruckte ihn nicht.
»Wir brauchen einen Anreißer für die Titelseite. Die Leser wollen wissen, was, wie und wann.«
Sie konnte ihn nahezu vor sich sehen, wie er hinter seinem Schreibtisch saß, die Rückenlehne des Stuhls in fast waagerechter Position, den Telefonhörer unter dem Kinn und die Tastatur des PCs auf dem Schoß, während die Agenturmeldungen von Ritzau liefen. Vielleicht hatte er die Schublade aufgezogen. Kaiser war immer auf Diät, versteckte jedoch oft einen Teller mit einem Stück Kuchen in der Schublade. Am liebsten Schokoladenkuchen.
»Und eine Reportage auf Seite drei«, fügte er hinzu. »Wie hast du das Kind entdeckt? Was hast du gefühlt? Wie waren Stimmung und Reaktionen und so weiter. Du bist genau die, die wir brauchen, Svendsen. Deadline ist um sechs.«
Das waren noch drei Stunden. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Um sich zu wehren. Um ihm zu erzählen, dass die Toilette in dem neuen Haus verstopft war, dass der Schlammsaugwagen um vier kam; dass dem Dunstabzug in der Küche ein Rohr fehlte, sodass der Essensdunst ins Schlafzimmer statt aus dem Haus geblasen wurde. Dass das verdammte Haus sich im Lauf der ersten sechs Wochen als ein Fass ohne Boden erwiesen hatte. Und dass sie darüber hinaus nicht an das Kind denken wollte, geschweige denn darüber schreiben.
»Und denk daran, einen Fotografen mitzunehmen«, sagte Kaiser, bevor er auflegte. »Wir brauchen Bilder. Von dem Ort, von dir, von der Wanne.«
»Auch von der Leiche?«, fragte sie säuerlich.
Er brummte irgendetwas Unverständliches.
Sie legte auf und merkte erst jetzt, dass ihre Hände zitterten. Vor allem aus Wut. Aber da war noch etwas anderes. Wie eine Art Hunger, der sich nicht stillen ließ. Ein leerer, dumpfer Raum in ihrem Magen, an der Grenze zur Übelkeit.
Wieder erinnerte sie sich an das Gefühl des Wassers vor nur wenigen Stunden. An das unruhige Murmeln der Leute oben im Café. An ihre eigene Sprachlosigkeit über das, was sie tat. Denn Kaiser hatte ja Recht, woher auch immer er es gehört hatte. Sie war hineingesprungen. Nicht kopfüber, natürlich, aber sie war die Treppen zum Fluss hinuntergelaufen und hatte sich ins Wasser gleiten lassen, das von nahem betrachtet sehr viel trüber war als aus der Ferne. Sie erinnerte sich vage, dass Dinge an der Oberfläche geschwommen waren. Dass ihr auf dem Weg zu der blauen Plastikwanne ein Stück Eispapier zwischen die Finger geraten war und dass sie eine Plastikflasche hatte zur Seite schieben müssen, die an der Oberfläche schaukelte. Brauselimonade, erinnerte sie sich und wunderte sich über die Erinnerung. An das Gesicht des Kindes erinnerte sie sich nicht. Wollte sich nicht daran erinnern. Sie hatte sich mit der Wanne abgemüht; sie vor sich hergeschoben, während sie am Ufer des Flusses entlanggeschwommen war. Hatte sie zur Treppe gezogen, wo Anne sie sofort in Empfang genommen hatte, nach außen hin geschützt durch den Professionalismus der Hebamme, während Ida Marie ganz automatisch und völlig grotesk wie ein Roboter weiterfotografiert hatte. Das hatte sie gedacht. Wie ein Roboter. Aber das war, bevor sie die Tränen gesehen hatte, die ihre Wangen hinunterliefen. Den schwangeren Bauch, der schutzlos vorstand, wie ein verletzlicher Panzer. Die Kamera, die sie gegen die Wirklichkeit zu beschützen schien.
Zu dem Zeitpunkt hatte schon irgendjemand einen Krankenwagen gerufen, aber bis der kam, nahm Anne die Sache in die Hand. Sie sah vorsichtig in das Bündel aus alten Handtüchern, suchte sich mit zitternden Händen einen Weg und stellte fest, was Dicte bereits wusste. Was sie gespürt hatte, weil die Stille in der Wanne so laut war.
»Ein kleiner Junge«, murmelte Anne ohne ihre übliche Hebammenstimme, die sie sonst ganz automatisch annahm, wenn Neugeborene in der Nähe waren.
»Neugeboren«, stellte sie fest. »Höchstens zwei Tage alt, denke ich.«
Sie blickte auf. Dicte sah kurz etwas Feuchtes in ihren Augen, bevor Anne es wegblinzelte.
»Er ist tot.«