Читать книгу Der tote Knabe: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 6
3.
ОглавлениеDer Fotograf glich einem herrenlosen Hund. Mager und wachsam, mit mottenzerfressenem Fell. Letzteres traf nicht nur auf die wilden Haarzotteln, sondern auch auf seinen Bart, der spärlich war wie der eines Teenagers, und auf seine Kleidung zu, die an Sachen aus einer Kleiderspende für Albanien erinnerte. Alles in allem wirkte er sehr modern.
»Ich bin Bo«, sagte er, trat eine Zigarette mit dem Stiefel aus und machte ganz den Eindruck, als würde er Afghanistan dem Eingang der Entbindungsstation des Krankenhauses von Skejby vorziehen.
Sie gab ihm die Hand.
»Dicte.«
Sie hatte von ihm gehört. Sogar von ihm gelesen, als er irgendeinen ausländischen Fotowettbewerb mit Bildern aus Sierra Leone gewonnen hatte – oder war es Bolivien? Irgendein Kriegsgebiet jedenfalls, sie erinnerte sich nicht genau. Aber selbst preisgekrönte Fotografen mussten von etwas leben, und so arbeitete er als ständiger freier Mitarbeiter für die Redaktion in Århus.
»Wir werden mit der Hebamme sprechen, die mit am Fluss war«, informierte sie ihn, während sie durch die langen Gänge liefen und das Personal auf Rollerblades an sich vorbeilaufen sahen. Eine gehbehinderte Großmutter kämpfte sich tapfer auf ihren Stock gestützt vorwärts. Sie hatte keine Rollerblades. Dicte sah verstohlen zu dem Fotografen hin. Hatte wieder das sichere Gefühl, dass er lieber woanders wäre.
Er schniefte und trocknete sich die Nase mit seinem Ärmel, während er mit der Fototasche über der Schulter neben ihr hertrottete. Und sie sah seine Augen, die auf der Suche nach der Wirklichkeit die Wände entlangschwirrten und ihren Weg in all die Zimmer und Büros suchten, an denen sie vorbeikamen. Spürte die Wachsamkeit, als erwarte er aus einem der Kreißsäle, aus denen hin und wieder herzzerreißende Schreie zu hören waren, einen Angriff aus dem Hinterhalt mit einer AK 47.
»Das klingt nach Folterkammer«, sagte er.
»Das ist es auch«, antwortete sie.
Nach dem Gespräch mit Kaiser hatte sie schnell einen Termin mit Anne gemacht. Außer Atem, zwischen einer Steißgeburt und einer Erstgeburt, war sie darauf eingegangen. Ein Hoch auf Anne und ihre Hilfsbereitschaft. Und das, obwohl sie schon eine Stunde auf der Polizeiwache vergeudet und irgendeinem Schreibtischbeamten eine Erklärung gegeben hatte. Sie musste übrigens daran denken, die Polizei anzurufen und herauszufinden, wer den Fall bearbeitete. Wenn sie Glück hatte, war die Geschichte schnell erledigt, und sie hatte Ruhe vor Kaiser. Konnte das Ganze hinter sich lassen, obwohl sie damit wohl zu viel erwartete. Während sie mit den langen Schritten des Fotografen Schritt zu halten versuchte, kam der Gedanke. Dass etwas aufgebrochen worden war. Aufgebrochen wie mit einem Brecheisen. Brutal.
Anne ließ sie warten. Sie sei noch immer mitten in der Steißgeburt, wurde ihnen freundlich mitgeteilt. Also ließen sie sich zwischen den Schreien und den beschäftigten, weiß gekleideten Frauen nieder. Auf der Station herrschte eine intensive und gleichzeitig gelöste Stimmung. Schmerzensschreie gemischt mit glücklichem Lachen und lächelnde, müde Gesichter am Rande des Weinens.
»Hast du Kinder?«, fragte der Fotograf plötzlich.
Sie nickte.
»Eine Tochter, schon ein Teenager. Ein hartes Stück Arbeit«, fügte sie hinzu und kam sich alt vor. Er konnte nicht viel älter als Ende zwanzig sein.
»Ich habe zwei«, sagte er zu ihrer Überraschung. »Einen Jungen und ein Mädchen. Fünf und sieben.«
Sie hatte wohl ziemlich verblüfft dreingesehen, denn er fügte hinzu:
»Ich habe früh angefangen.«
Anne kam, und sie kriegte ihr Interview, in der Ecke eines Büros, in das beschäftigte Menschen ab und zu hereinplatzten, eine Entschuldigung murmelten und wieder gingen. Bo fotografierte, und sie dachte flüchtig an Ida Marie. Wie sie zusammengebrochen war und Anne Angst gehabt hatte, dass das Kind kommen würde, mitten in dem ganzen Durcheinander. Sie hatten Ida Marie auf einen Stuhl gesetzt, vornübergebeugt, so gut es ging, während sie weinte. Schluchzte wie ein Wasserfall und die Worte hervorstieß: »Ich will es nicht haben. Ich will es nicht haben.« Und sie wussten nicht genau, ob sie von dem Kind in ihrem Bauch sprach, das sie plötzlich nicht haben wollte; oder ob sie den Tod, der so nahe war, auf Abstand zu halten versuchte.
Anne wiederholte still die Fakten. Eine Hausgeburt, meinte sie. Die Nabelschnur war ungeschickt durchtrennt und verknotet worden. Der Körper des Kindes mit getrocknetem Blut verschmiert.
»So wie ich das sehe, ist er 24 Stunden nach der Geburt auf dem Fluss ausgesetzt worden. Aber ihr müsst euch im rechtsmedizinischen Institut schlau machen«, sagte sie und seufzte deutlich hörbar, während ihre Finger an der Tasche des Kittels herumfingerten, als hätte sie dort etwas, an das sie sich klammern konnte. »Ich kann nur sagen, wie es unmittelbar aussah.«
»Wie im Mittelalter«, hatte Anne unten am Fluss fast weinend gesagt.
»Und das im modernen Dänemark. Wer setzt sein Kind auf diese Weise in einem Land aus, wo es so viele Hilfsmöglichkeiten gibt?«
Dicte hätte nie gedacht, dass Anne bleich aussehen könnte. Aber plötzlich schien jemand auf einen Fernseherknopf gedrückt zu haben, und alles wurde schwarzweiß. Als könnte man in diesem Moment durch sie hindurch in das dunkle Wasser des Flusses sehen.
»Was machen wir mit den Bildern von der Wanne?«, fragte Bo. »Wo ist die jetzt?«
»Bei der Polizei. Zur technischen Untersuchung«, sagte Anne, die wusste, wie so etwas vor sich ging. »Aber Ida Marie hat doch Bilder gemacht. Sowohl von dem Geburtstag als auch später. Warum holt ihr euch nicht den Film?«
»Geburtstag?«, fragte Bo, als sie zusammen das Krankenhaus verließen, um sich zu Ida Maries Reisebüro zu begeben.
»Never mind«, seufzte Dicte und dachte an Annes kleines Königreich im Krankenhaus. Für sie würde es nie mehr so sein wie vorher, das fühlte sie. Und Ida Marie. Schwanger. Erstgebärende mit neununddreißig. Von ihnen dreien war sie diejenige, die auf keinen Fall hätte dort sein sollen. Nie das tote Kind hätte sehen dürfen. Die, der es vergönnt sein sollte, am nächsten Morgen mit einem totalen Blackout aufzuwachen. Das wünschte sie Ida Marie, auch wenn es unmöglich war. Dass sie sich an nichts anderes als an das Kind in ihrem Bauch erinnerte.
Ida Marie war zu dem Reisebüro am Store Torv gegangen, das ihr zusammen mit drei anderen Frauen gehörte. Wo hätte sie auch sonst hingehen sollen, dachte Dicte, denn Theis war auf Dienstreise in Kopenhagen. Und wer war besser dazu geeignet, zu trösten und die Wogen zu glätten als gute Kolleginnen? Am besten wäre natürlich eine Psychologin gewesen, aber so etwas durfte man Ida Marie nicht vorschlagen. Sie hatte die Nase voll von Psychologen, würde sie sicher antworten und hinzufügen, dass das nicht persönlich gemeint sei.
Sie saß mit einer Tasse Tee zusammen mit einer Kollegin in dem kleinen Gemeinschaftsraum. Grüßte bleich.
»Hej.«
Dicte konnte es nicht lassen. Sie setzte sich neben Ida Marie und streichelte ihren Arm, dessen Muskeln angespannt waren.
»Wie geht es dir?«
»Grauenhaft«, murmelte Ida Marie in die Teetasse.
Dicte nickte zu dem Fotografen hinüber, der sich ein wenig abseits hielt.
»Das ist Bo. Ich soll einen Artikel schreiben, verdammt. Über das, was passiert ist.«
Ida Marie befeuchtete vorsichtig die Lippen mit der Zunge. Als wollte sie nachspüren, ob sie noch da waren. Nickte Bo kurz zu und glitt wieder in ihre Tee-Welt.
Dicte räusperte sich.
»Vielleicht sollte sich jemand um dich kümmern«, schlug sie vorsichtig vor. »Du kannst mit mir kommen. Bis Theis wieder da ist.«
Ida Marie schüttelte den Kopf.
»Mir geht es gut. Ausgezeichnet. Ist mir nie besser gegangen.«
Dicte ließ die Lüge einen Augenblick im Raum stehen. Wusste nicht richtig, wie sie zu Ida Marie durchdringen sollte.
»Hast du die Kamera dabei? Den Film?«, fragte sie leise, als könnte etwas kaputtgehen, wenn sie laut spräche. »Vielleicht können wir einige der Aufnahmen für den Artikel brauchen«, sagte sie. Sie kam sich wie der reinste Aasgeier vor.
Ida Marie sah sie voller Abscheu an. Setzte die Teetasse mit einem Scheppern ab.
»Von dem Kind?«
Dicte schüttelte den Kopf. Streichelte wieder den Arm, der jetzt unruhig über den Tisch fuhr.
»Wir zeigen das Kind nicht«, versprach sie. »Nur die Situation. Uns. Die Wanne, falls sich ein brauchbares Bild findet.«
Ida Marie saß eine Weile da und sah ihren Arm an, als wäre er ein selbstständiger Teil von ihr. Dann schüttelte sie Dictes Hand ab, griff in die Tasche und holte die Kamera heraus. Gab sie ihr.
»Du kannst alles haben«, sagte sie mit belegter Stimme.
Die Redaktion war zu klein für die sechs Journalisten, und vom ersten Tag an hatten die anderen davon geredet, in ein größeres Haus umzuziehen. Aber mit der Zeit hatte Dicte begriffen, dass sie das seit Jahren taten. Träumen. Von Büros an dem neuen Jachthafen und einem eigenen Firmenboot mit Logo. Es blieb beim Reden, weil die Zeitung in Kopenhagen immer sparen musste. Deshalb mussten sie sich in drei kleinen Räumen und einem etwas größeren zusammendrängen, in dem sie gemeinsam mit zwei anderen und einer stimmungsvollen Aussicht auf den Telefontorget und die Straßenverkäufer saß, die in regelmäßigen Abständen von der Polizei aufgefordert wurden zu verschwinden.
Bo war mit Ida Maries Film in der altmodischen Dunkelkammer verschwunden. Sie setzte sich an den Schreibtisch, der sich noch immer nicht ganz vertraut anfühlte. Holte ihren Block heraus und landete mit einem einzigen Anruf bei Kriminalkommissar John Wagner, der sich nicht zu dem Todesfall äußern wollte.
Sie bekam ein paar vorhersehbare Antworten der Sorte »Das kann ich nicht kommentieren« oder »Es ist zu früh, Vermutungen anzustellen«. Bevor sie auflegte, war sie nahe daran, ihm eine Karriere als Politiker vorzuschlagen.
Sie sah aus dem Fenster. Konnte fast bis zum Fluss hinuntersehen, wenn sie wollte. Hätte zumindest aufstehen und ihn erahnen können, aber sie ließ es. Sie musste das loswerden. Es wegarbeiten. Genau das musste sie. Selbst wenn sie Sensationen hasste. Und noch mehr, darüber zu schreiben.
Während ihres Praktikums bei der Zeitung, das Ewigkeiten zurücklag, hatte Kaiser sie ausgeguckt und ihr einen persönlichen Kurs verpasst, der sie beide frustriert zurückgelassen hatte. Ihn, weil er aus unerfindlichen Gründen davon überzeugt war, dass sie ein verborgenes Talent in sich trug. Sie, weil sie wusste, dass er sich irrte. Sie konnte alles Mögliche andere. Lange psychologische Analysen über Führungsstile schreiben, Wirtschaftsbilanzen lesen und ungewöhnliche Wirtschaftsgeschichten aufspüren. Aber die Sensationsberichterstattung war und blieb ihr ein Rätsel. Sie verstand einfach nicht, wie etwas so Einfaches und Direktes so verdammt schwer sein konnte. Vielleicht, weil sie das Sensationelle in den meisten Sensationen in der Regel nicht sah und das Prestige nicht verstand, das damit verbunden war, den eigenen Namen auf der Titelseite zu sehen.
»Raus mit den Sprachblüten«, pflegte Kaiser zu sagen, wenn er ihre Artikel entstaubte. »Wir brauchen Fakten. Die Geschichte muss in den ersten drei Zeilen erzählt werden. Und in der Überschrift.«
Das versuchte sie jetzt nach bestem Wissen und Gewissen und fühlte sich in ihre Praktikumszeit zurückversetzt. Hier saß sie mit ihren vierzig Jahren, gerädert nach den Ereignissen des Tages. Mit einer Teenagertochter, die unbeschützt durch die Stadt streifte; glückliche Besitzerin einer baufälligen Behausung auf dem Lande. Und sie wusste, dass sie bald Kaiser am Apparat haben würde mit seinen üblichen Einwänden, was Schreibstil, Prioritätensetzung und Perspektive anging.
Sie sah auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis zur Deadline und sie mühte sich noch immer mit dem Vorspann ab. Vor der Überschrift hatte sie bereits kapituliert. Darum musste sich der Redakteur kümmern. Das war zu schwer. Zu unmöglich, dachte sie. Sie wollte gerade mit dem Text anfangen, als hinter ihr eine Stimme in übertriebenem Nachrichtensprechertonfall las:
»Ein neugeborenes Baby wurde gestern in einer Plastikwanne auf dem Århus gefunden.«
Bo lächelte zuckersüß und winkte mit den Fotos.
»Sollen die Leser nicht gleich erfahren, dass das Kind tot war?«, schlug er vor.
Sie seufzte.
»Das kommt weiter unten. Es muss doch ein Spannungsmoment geben, das die Leute motiviert weiterzulesen«, erfand sie.
Er setzte sich auf die Schreibtischkante. Sah sie herausfordernd an.
»Gib es zu. Du hast nicht daran gedacht.«
»Und wenn es so wäre?«, sagte sie müde. »Was geht das dich an? Du bist doch nur der Fotograf.«
Die Worte waren ihr entschlüpft, bevor die Selbstzensur hatte einsetzen können. Ein rotes Licht leuchtete vor ihrem inneren Auge auf. So etwas sagte man nicht zu einem Fotografen. Man konnte es notfalls denken, aber auch das war fast schon strafbar.
Er schüttelte langsam den Kopf.
»Ich glaube, du hast heute einen schlechten Tag«, sagte er leise.
»Einen sehr schlechten«, gab sie zu.
»Und er wird noch schlechter«, sagte er ernst, aber mit einem kleinen Lächeln hinter dem Bart und Heiterkeit in den tiefsten Winkeln seines Blickes.
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, dass sie sich in Kopenhagen bestimmt über die Fotos wundern werden, die ich gerade mit einem Taxi zum Flughafen expediert habe. Genau wie ich mich gewundert habe, nur dass ich in der glücklichen Situation bin, dass du mich in das Rätsel einweihen kannst, wenn du magst.«
»In welches Rätsel?«
Langsam legte er die Abzüge auf den Tisch. Da waren Aufnahmen von der Wanne und von ihr und Anne, die vorsichtig auf das Kind hinuntersah.
Aber da waren auch noch andere Fotos, aufgenommen in schrägen Perspektiven mit Ida Maries charakteristischer Kameraführung. Von dem Geschenk und ihrem gespannten Gesichtsausdruck, als sie die Schleife aufzog. Von dem genoppten Dildo, der wie eine Rakete auf der Abschussrampe dastand. Von ihr, wie sie das Teil mit einem verwirrten Lächeln um die Mundwinkel festhielt. Sie konnte schon die Sprechblase darüber sehen, die witzige Köpfe am schwarzen Brett der Zeitung darüber malten: »Ich kann es kaum erwarten!«
»Oh, shit«, murmelte sie und sah Kaisers Gesichtsausdruck vor sich, wenn er später am Abend den Stapel mit Fotos durchging.
»Shit, shit, shit! Die hast du nicht mitgeschickt. Nicht alle.«
Bos Blick zog sie neugierig aus. Vollkommen ohne Scham tastete er unter dem Sommerkleid ihre Brüste ab; ihre Schenkel, ihren Hals und ihre Taille. Das Lächeln war immer noch irgendwo da.
»Natürlich habe ich das. Das ist mir schließlich gesagt worden«, sagte er, rutschte vom Schreibtisch und schlenderte zur Tür. »Du kannst nicht erwarten, dass ich selbst denke.«
Er öffnete die Tür, warf sich die Jeansjacke über die Schulter und ihr einen unbestimmbaren Blick zu.
»Ich bin schließlich nur der Fotograf.«