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2 Die Balance zwischen Nähe und Distanz finden
ОглавлениеFallbeispiel 2: Persönlicher Raum
Das erst vor Kurzem eingestellte neue Mitglied des Behandlungsteams unseres Krankenhauses machte einen selbstsicheren und sympathischen Eindruck, bis es Zeit für die Teamsitzung war. Für diesen täglichen Termin versammelten sich die etwa zehn Teammitglieder vor einer Wandtafel, auf der die Namen der an diesem Tag behandelten Patienten aufgelistet waren. Als die Mitglieder unseres Teams zusammenkamen, um die Fälle des Tages zu besprechen, schien das neue Teammitglied C. angespannt zu sein und trat ständig einen Schritt zurück, weg von der Gruppe.
In den nächsten Wochen fiel mir auf, dass C. klar definierte Grenzen hatte. Kam ihm jemand näher als etwa 1,20 m verspannte sich C. sichtlich. Kam ihm jemand näher als etwa 1 m, trat C. zurück, selbst wenn er sich dazu in eine unsichere Position manövrierte. Einmal wich C. rückwärts in eine schmale Nische zwischen dem Computer und einer Wand aus und versuchte von diesem beengten, für ihn aber angenehmeren Ort aus das Gespräch fortzusetzen.
Dieses ausweichende Verhalten wiederholte sich regelmäßig. C. war sich offensichtlich seines Verhaltens gar nicht bewusst, und das Team schien ihm keinen zusätzlichen Raum geben zu wollen. Traf C. einen Patienten oder anderen Mitarbeiter allein, konnte man das gleiche Verhalten beobachten. Es kam vor, dass, wenn C. einen Schritt zurücktrat, sein Gesprächspartner einen Schritt nach vorne ging. C. trat dann noch einen Schritt zurück. Sein Gegenüber machte daraufhin noch einen Schritt auf ihn zu, bis C. quasi nicht mehr entkommen konnte. Leider erschwerte dieses starke Bedürfnis von C. nach Abstand die Kommunikation mit ihm sehr und ließ sie manchmal vollkommen entgleisen, besonders dann, wenn der Gesprächspartner seinem Bedürfnis nicht nachkam oder nachkommen konnte.
Immer, wenn ich C. begegnete, war mir sehr daran gelegen, die besonderen räumlichen Bedürfnisse von C. zu respektieren, und blieb immer wenigstens 1,20 m von ihm entfernt. Durch diese Anpassung an seine Bedürfnisse musste ich meinen bevorzugten persönlichen Abstand etwas vergrößern. Nachdem wir ein paar Jahre im Team zusammengearbeitet und gegenseitiges Vertrauen und Akzeptanz entwickelt hatten, konnte ich mit C. in ungefähr 1 m Abstand ein gutes Gespräch führen, ohne dass er rückwärts auswich oder eine Anspannung bemerkbar war. Allerdings sorgte ich immer dafür, ein Gespräch mit ihm nur anzufangen, wenn es genug Platz gab, um gegebenenfalls einen Schritt zurückzutreten und zusätzlichen Abstand zu schaffen.
(Fallnotizen von E. Lang)
Was dieser Fall zeigt: Menschen unterscheiden sich in ihren Bedürfnissen und Vorlieben, ihren persönlichen Raum betreffend – also bezüglich des Abstands, den sie im sozialen Kontakt mit einer anderen Person einzuhalten versuchen. Manche Menschen stehen gerne ziemlich nah bei ihrem Gesprächspartner. Andere brauchen einfach mehr Abstand. Viele Menschen können sich unbewusst auf einen bestimmten Abstand einigen, während sie sich unterhalten. Andere sind ziemlich rigide bezüglich ihrer Bedürfnisse und Vorlieben, besonders in stressigen Situationen. Werden die persönlichen Bedürfnisse nach Abstand missachtet oder ignoriert, beeinträchtigt dies die Kommunikation erheblich. Der Rapport wird behindert, und die Chancen einer Verständigung verringern sich.