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5. Fettbach, Phenol und Vietnamesen

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Der "Fettbach" war einer der diversen Studentenclubs in Neustadt, doch keineswegs nur einer von vielen. Der Fettbach war eine Institution, hatte aber einen gewichtigen Nachteil: die Entfernung. Es war der einzige Club, der nicht auf dem Campus lag, sondern im Stadtzentrum von Neustadt - mit den entsprechenden Konsequenzen. Für den Fußweg vom Fettbach ins Wohnheim benötigte man eine halbe Stunde, vorausgesetzt man war im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte. Andernfalls dauerte es entsprechend länger, was die Regel war. Während man die Distanz von einem Studentenclub auf dem Campus bis ins eigene Bett im Ernstfall auf allen vieren in schicklicher Zeit bewältigen konnte, war Gleiches beim Fettbach praktisch ausgeschlossen. Und der Rückweg vom Fettbach hatte noch eine andere unangenehme Besonderheit: Die Wahrscheinlichkeit, zu nächtlicher Stunde von einer Polizeistreife angehalten zu werden, war im Stadtgebiet überdurchschnittlich hoch. Das galt in besonderem Maße für diese frechen Studenten. Ihr stets ausgelassenes, lautes Benehmen wurde von den freudlosen Volkspolizisten als überheblich wahrgenommen. In gewissen Einzelfällen lagen sie damit nicht so weit daneben.

Mittwoch, ihr dritter Tag beim Studium. Hecki und Atsche hatten sich mit vier Mädels verabredet, heute das erste Mal in den Fettbach zu gehen. Und dann war da noch ein gewisser Zerowitsch, genannt Zero. Hecki hatte den Burschen angeschleppt und war von ihm begeistert, erzählte andauernd von ihm und fand ihn supercool. Das konnte nur an Heckis Brille liegen, Atsche sah das anders: ein weichlicher Schönling, ein selbstverliebter Schwätzer vor dem Herrn, kurzum ein arrogantes, überhebliches Arschloch. Aber eins musste selbst Atsche zugeben: ein sehr gescheites überhebliches Arschloch. Zu allem Überfluss standen die Mädels auf Zero. Dabei hatte er eine eher weiche Figur, dicke Lippen und Hände wie ein Mädchen. Aber Atsche wollte sich dadurch seine gute Laune nicht verderben lassen.

Beim Eintreten empfing sie ein originelles Kellergewölbe mit einer famosen Raumaufteilung: Die einzelnen Abteilungen waren ringförmig angeordnet und so konnte der gelangweilte Besucher im Kreis wandern und kam überall vorbei: am Hauptraum mit den Tischen der Gäste, an der Bar, am Biertresen, an einem Korridor mit Stehtischen, an der Tanzfläche, an der Sitzreihe aus alten Fässern und dann wieder von vorn. Heute spielte ein vietnamesisches Duo klassische Gitarrenstücke. Atsche, der selbst an dem Anspruch, Bourrée von Johann Sebastian Bach auch nur ein einziges Mal fehlerfrei auf seiner Gitarre zu Ende zu bringen, immer wieder erbärmlich scheiterte, war vollkommen aus dem Häuschen. Unglaublich, was die beiden schmalen Jungs da aus den Saiten zauberten. Unglaublich gut war auch die Stimmung ihrer kleinen Gruppe, die Mädels waren unkompliziert und selbst Zero wirkte inzwischen nicht mehr so störend. Nicht minder atemberaubend war die Geschwindigkeit, mit der einer nach dem anderen eine neue Runde von der Bar holte.

Der Rückweg vom Fettbach zum Campus führte unweigerlich um den Teufelsteich, von der Größe her eher ein kleiner See, umsäumt von Trauerweiden mit einem Springbrunnen in der Mitte und einer großen Eisdiele direkt am Ufer. Es gab sogar einen Bootsverleih, natürlich nur tagsüber. Die Stadtverwaltung hatte hier um den Teich mit dem anschließenden Park ein Kleinod geschaffen, das sich angenehm von der Tristesse der restlichen Umgebung abhob. Als ihre kleine laute Schar am Teufelsteich anlangte und auf das andere Ufer hinüberschaute, wurde sich Hecki der Tatsache bewusst, wie lange sie noch laufen müssten, um endlich im Wohnheim anzukommen.

"Hört mal, es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: entweder den Umweg, also den langen Drum-Herum-Weg oder den direkten Weg, den Geradeaus-Weg."

"Ich bin dabei. Etwas Erfrischung kann ich jetzt gebrauchen.", meldete sich Atsche. Zero schloss seine Teilnahme umgehend und kategorisch aus. Auch von den Mädels war keine einzige zu bewegen, sie bei der Querung des Großen Wassers zu begleiten. Das lag aber nicht daran, dass sie sich dafür hätten entkleiden müssen. Erstens war es dunkel und zweitens waren sie, ebenso wie die Jungs, durch die Schule der Gemeinschaftsdusche gegangen. Die anfängliche Scham, sich nackt vor dem jeweils anderen Geschlecht zu zeigen, war bei allen nach kurzer Zeit verflogen, vollständig. Aber sie hatten ein Argument, das nicht ganz von der Hand zu weisen war:

"Seid ihr verrückt, ihr wollt in diese Kloake steigen? Hautausschlag ist das Mindeste, was ihr euch dabei aufsackt.", in der Tat war der Teufelsteich der Zielhafen von Substanzen, die in der Natur eher selten vorkommen. In den Chemie-Labors der Uni wanderten alle Rückstände in den Ausguss: Benzol, Phenol, Toluol, Säuren, Chlor; Cadmium-, Blei- und andere Schwermetallsalze bis hin zu Arsen. Der Abfluss führte in einen Bach, der Bach sammelte in seinem Verlauf beiläufig die ungeklärten Abwässer eines Chemiebetriebes auf und mündete schlussendlich im Teufelsteich.

Seinen Namen hatte der Teufelsteich aus abergläubischen Zeiten: Der Sage nach spukte es hier um Mitternacht, wenn der Neumond auf einen Mittwoch fiel. Heute war Mittwoch, bis zum Neumond fehlten aber noch drei Tage. Die industrielle Gegenwart hatte eine plausiblere Deutung für die Namensgebung nachgeliefert: Jetzt war das Wasser schwarz wie Pech und leblos wie das Tote Meer. Auf den bunten, in der Eisdiele erhältlichen Ansichtskarten sah der Teich wie jeder andere, ja fast idyllisch aus. Schwäne, zahme Wildgänse, Blässrallen und etliche Arten, zum Teil exotischer, Wildenten hatten hier eine Heimstatt gefunden. Dennoch wedelte in seinen Wassern nicht ein einziger Fisch mit seiner Schwanzflosse. Wundersamerweise schien das Wasserfedervieh keinen körperlichen Schäden davonzutragen. Womöglich lag es daran, dass sie keine Wasserpflanzen vom Grund holten und dann verspeisten: Es gab hier keine Wasserpflanzen, schon lange nicht mehr.

"Weiber!", sagte Hecki und begann, sich auszuziehen.

"Weichei!", sagte Atsche in Richtung Zero, zog sich splitterfasernackt aus und reichte Gabi seine Sachen samt Unterhose.

"Wir sehen uns am anderen Ufer.", und die beiden Helden stürzten sich in die Fluten. Zumindest war das der Plan gewesen. Aber was am Rand wie eine normale Wasseroberfläche aussah, entpuppte sich als eine nur handbreit hohe Schicht einer undurchsichtigen Flüssigkeit, die der unvoreingenommene Beobachter für Wasser halten würde, darunter knietiefer Schlamm. Nach dreißig Metern bekamen sie endlich die Beine wieder frei, eine Handbreit Wasser unterm Kiel und konnten schwimmen. Obwohl ihre Sinne schon leicht getrübt waren, spürten sie den penetranten, unnatürlichen Geruch der gräulichen Brühe. Nach jedem Atemzug versuchten sie, diesen Gestank von sich wegzupusten. Im Licht der Gehweglaternen konnten sie die Enten und anderen Wasservögel erkennen, durch die sie sich den Weg bahnten. Die Tiere zeigten keine Scheu.

"Hecki, weißt du, dass die Warzenente die einzige Hausente ist, die aus Südamerika stammt?"

"Is' mir egal. Aber boah, die schmecken sooo gut.", Hecki hätte sich die Lippen geleckt, wenn er nicht gerade wieder den Mief vor sich wegpusten müsste.

"Hecki. Weißt du, dass es gar nicht gut ist, wenn es viel mehr Erpel als Enten gibt?"

"Kann ich mir denken, bei Menschen ist das ähnlich."

"Ja, aber bei Enten ist das fatal. Wenn fünf Erpel andauernd ein und dieselbe Ente begatten wollen, dann hat die Ente so viel Stress, dass sie sogar sterben kann. In der Natur verrecken die meisten Enten im Frühjahr, in der Paarungszeit, wenn man eigentlich denkt, der Winter ist vorbei und alles wird gut."

"Das ist echt 'n Ding. Und ich dachte immer, Frauen mögen es, wenn viele Männer um sie herum sind."

"Junge, sieh dir das nur an. Hier sind viel mehr Erpel als Enten auf dem Teich, viel mehr."

"Das ist nicht gut für die Enten, oder? Kann man denn gar nichts für die armen Enten tun?"

"Du meinst, so etwas wie eine gute Tat zum Wohle der Natur?"

Der Säbeltänzer

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