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1. Tante Anna
ОглавлениеVergangene Woche hatte Atsche den letzten Brief von Rosana erhalten, den allerletzten. Nach zwei Jahren, in denen sie nichts weiter voneinander gehabt hatten als ihre regelmäßigen Briefe; zwei Jahre, in denen er keine andere Frau auch nur sehnsüchtig angesehen, geschweige denn angefasst hatte. Nach zwei Jahren, in denen er immer noch die sinnlose Hoffnung gehegt hatte, sie würde eines Tages zu ihm zurückkehren können, brach Rosana den Kontakt nun ab.
"Atsche, ich kann nicht mehr! Ich weiß, ich werde nie wieder so geliebt werden, wie du mich geliebt hast, aber es ist eine Illusion ohne jede Perspektive. Verschwende dein Leben nicht! Du wirst in meinem Herzen bleiben - für immer."
Was sollte Atsche dazu sagen? ER war es schließlich gewesen, der sie hatte widerstandslos ziehen lassen. ER hatte tatenlos zugesehen, wie sich der Vorhang langsam gesenkt hatte, bis er endgültig gefallen war - der Eiserne Vorhang zwischen ihnen.
Atsche war für ein paar Tage zu seinen Eltern nach Schnelleben gefahren. Nach dem Abschluss seines Studiums waren die Besuche immer seltener geworden. Nicht dass er sich von den Eltern Trost erhoffte. Über Rosana hatten sie nie wieder gesprochen. Seit ihrer Abreise war das Thema in diesem Hause tabu. Aber die Abende in der Natur zu verbringen, brachte ihm immerhin etwas Ablenkung.
Bei seiner Ankunft erzählte ihm seine Mutter, dass es Tante Anna sehr schlecht ginge und sie in Kürze das Schlimmste erwarten müssten. Tante Anna war eine Großtante von Atsche. Sie hatte immer in Schnelleben gewohnt und sich nie weit von diesem Dorf entfernt. In ihrer Jugend war Anna ein hübsches Mädchen gewesen. Nun wird dies, wohl aus Freundlichkeit und Mangel an gegenteiligen Beweisen, gemeinhin fast jeder alternden Frau nachgesagt. Doch ließen Annas nachkolorierte Jugendfotos aus dem Familienalbum jeden Zweifler verstummen. Die wenigen jungen Burschen im Dorf hatten ihr alle den Hof gemacht. Und obwohl Anna ihren Freundinnen gegenüber immer wieder beteuert, ja fast geschworen hatte, den Otto würde sie niemals heiraten - am Ende machte doch Otto, mit seiner den Wagners eigenen Beharrlichkeit, das Rennen.
Atsche erinnerte sich gern an Onkel Ottos hintergründigen Humor. Oft hatten sie vor der Gartenlaube gemeinsam Kaffee getrunken, während Onkel Otto seine billigen Stumpen rauchte. Atsche lauschte dabei gespannt den Geschichten, die der Onkel zu erzählen hatte: Geschichten einer Generation, die noch Originale zuhauf hervorgebracht hatte, trocken gewürzt durch Ottos obligates Plattdeutsch. Die Vertrautheit zwischen Tante Anna und Onkel Otto strahlte eine wohltuende Ruhe und Harmonie aus, die durch ihre gegenseitigen Sticheleien eher noch bestätigt wurde.
Nachdem Onkel Otto vor etlichen Jahren gestorben war, wirkte Tante Anna etwas hilflos. In der Folge übernahm Atsche die anstrengenden körperlichen Arbeiten in ihrem Garten, wie einst ihr Mann. Den Kaffee vor der Laube tranken sie nun zu zweit. Anstelle des Zigarrenqualms bildete fortan ein Gläschen Likör den Abschluss des Rituals, wobei Tante Anna kein einziges Mal die Bemerkung "ausnahmsweise" ausließ. Und allmählich wurde sie wie eine zweite Großmutter für Atsche. Doch nun ging es mit Tante Anna unweigerlich dem Ende entgegen.
"Ich war gestern Abend bei Anna. Gehst du heute allein zu ihr? Es ist besser, wenn wir uns alle abwechseln.", sagte die Mutter. Atsche trank einen letzten Schluck Tee und erhob sich. Im Flur zog er den Lodenmantel über und pflückte im Garten ein paar Blumen. Die einzigen Blumen, die jetzt noch blühten, waren die letzten Herbstastern. Er mochte Astern, es waren für ihn die Nelken des Herbstes. Die zehn Minuten zum Haus von Tante Anna ging er zu Fuß. Oben im Treppenhaus an ihrer Wohnungstür angekommen, klopfte er leise und trat ein. In der Wohnstube war nur seine Großmutter, offenbar im Aufbruch begriffen.
"Grüß dich, Oma.", Atsche küsste sie zur Begrüßung auf den Mund und half ihr darauf in den Mantel.
"Richard. Gut, dass du kommst. Dann brauche ich Anna nicht allein lassen. Ich muss erstmal nach Hause, nach den Hühnern sehen und eine Kleinigkeit essen."
"Geht es dir wenigstens gut?"
"Ja, ja, mir schon, ja. Aber ..., na du wirst es selbst sehen. Sie liegt in der Schlafstube. Richard, ich muss los."
Im Schlafzimmer roch es nach Kampfer und alter Frau. Tante Anna hatte ein weißes langärmliges Nachthemd an, die Bettdecke war bis zur Brust hochgezogen und ihre Arme lagen seitlich neben ihr, fast so als gehörten sie nicht zu ihr. Von ihrer ehemals leichten Korpulenz war nichts geblieben, sie sah eingefallen aus und hatte einen gelben Schimmer auf der Haut.
"Hallo Tante Anna. Hier, ich habe dir ein paar frische Astern mitgebracht.", Atsche strich ihr über die kalte, schweißnasse Stirn. Die Blumen registrierte sie nicht.
"Richard, dass ich dich noch einmal sehen würde."
"Aber, aber, ich bin doch nicht aus der Welt. Wir werden uns noch oft sehen."
"Das glaube ich nicht, mein Junge. Mit mir geht es zu Ende."
"Nun, es geht dir im Moment nicht gut. Aber wir wollen doch im Frühjahr wieder in deiner Laube gemütlich Kaffee trinken, Omas berühmten Hefekuchen essen und ein Likörchen nehmen, oder nicht? Hoffnung gibt es immer."
"Nicht mehr für mich.", sie ließ den Kopf, den sie bis dahin noch mühsam, aus einer Art Höflichkeit, leicht angehoben hatte, auf das Kissen zurücksinken und sah mit leeren Augen an die Decke.
"Ich habe letztens die Rosen in deinem Garten zurückgeschnitten und mit Mist abgedeckt. Das ist zwar noch etwas früh, aber nun kann der Winter kommen.", Atsche zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr.
"Richard, wie alt bist du jetzt?"
"Siebenundzwanzig."
"Doch schon. Sag, hast du immer noch keine Freundin? So ein ansehnlicher Junge wie du.", für ihren besorgniserregenden körperlichen Zustand konnte sie verhältnismäßig deutlich sprechen, wenn auch langsam.
"Damit habe ich es nicht eilig."
"Oder hast du noch nicht die Richtige gefunden?", genau über dieses Thema wollte Atsche am Allerwenigsten reden. Schon suchte er nach einer ausweichenden Antwort, doch als er in Tante Annas müde Augen sah, schämte er sich für sein Vorhaben, jetzt und hier nicht ehrlich zu sein. Seit Jahren hatte er mit niemandem darüber gesprochen, selbst mit seinen besten Freunden nicht.
"Doch, ja. Ich hatte die Richtige gefunden."
"Das ist aber schön, Richard. Wer ist sie? Du hast sie uns noch nicht vorgestellt."
"Ich, ähm, ... ich habe sie gehen lassen."
"Aber warum?"
"Mir hat der Mut gefehlt."
"Das ist schade, mein Junge, sehr schade. Und, fehlt sie dir?", Tante Anna hüstelte leicht.
"Ich bin noch jung, es wird wieder vergehen. Die Zeit heilt alle Wunden.", wie altklug er sich anhörte.
"Das hoffe ich, das hoffe ich sehr für dich."
"Keine Sorge, das wird wieder."
"Ach, Jungchen. Du kannst das noch nicht wissen: Die Zeit heilt nur die kleinen Wunden."
"Du meinst den Krieg?"
"Nein, ... das Herz."
"Ja, der gute Onkel Otto. Jedes Mal, wenn ich im Schrebergarten bin, fallen mir seine Geschichten ein.", Anna machte Anstalten, als wollte sie sich etwas aufrichten. Atsche rückte ihr das Kissen zurecht, damit ihr Kopf etwas höher lag.
"Ist deine Oma noch da?"
"Nein, wir sind ganz allein. Aber ich bleibe noch eine Weile.", Anna nickte kaum wahrnehmbar in Richtung ihrer Bettkante, was er als Aufforderung verstand, dichter an sie heranzurücken.
"Als ich ein junges Mädchen war, da hatte ich noch nicht mit Otto angebändelt ..., hier auf dem Gut war eine Kompanie Kavallerie für ein paar Monate einquartiert. Das war eine Aufregung im Dorf, sage ich dir.", sie lächelte, wie jemand, dem eine schöne Erinnerung ins Hirn schießt. "Die einfachen Soldaten durften natürlich abends nicht ausgehen. Viel war hier auch nicht los. Aber die drei Offiziere sind abends immer im Dorf auf und ab geritten und auch mal in der Kneipe eingekehrt. Die Offiziere waren noch blutjung und sehr schneidig in ihren akkuraten Uniformen - einer ganz besonders. Ja, und dann war das Erntefest und der Gutsbesitzer hat auch die Offiziere dazu eingeladen. Ein Offizier hat mir immer heimliche Blicke zugeworfen. Aber wir haben den ganzen Abend nicht miteinander geredet. Nur am Ende hat er mir einen Zettel zugesteckt. Er hieß Herwarth. Wir haben uns immer heimlich getroffen, das war nicht so einfach in so einem kleinen Dorf, zwei Monate lang. Dann musste die Kompanie weiter.", Tante Anna leckte sich ihre trockenen Lippen. Mit dem Kopf deutete sie auf die Tasse auf ihrem Nachttisch und Atsche gab ihr etwas von dem inzwischen kalten Kamillentee zu trinken.
"Herwarth wollte mich mitnehmen. Er wollte, dass wir heiraten. Er hatte schon alles geplant - er war in allem sehr korrekt. Aber, ich konnte doch meine Mutter nicht allein lassen. Und so weit weg von hier. Das hat mir Angst gemacht. Ich habe ihm gesagt, dass ich das nicht kann.", ihre Stimme war zum Ende hin immer leiser geworden. Nach einer kurzen Pause, in der sie nicht zu atmen schien, holte sie tief Luft und fuhr fort: "Und dann waren sie weg. Ich habe wochenlang geweint, ... ja, und heute? ... bis heute habe ich ihn nicht vergessen. Manchmal träume ich noch von ihm, wie er an meinem Fenster vorbeireitet. Nein, er kommt mich nicht holen, er reitet nur vorbei und ich kann nicht mit. Es ist immer das Gleiche: Er reitet vorbei, winkt mir zu und ich kann mich nicht bewegen. Ach, hätte ich damals doch nur den Herwarth genommen, ... dann wäre alles anders gekommen. Ganz anders.", diese Sätze hatten sie viel Kraft gekostet und sie schloss die Augen. Ihr schwerer Atem ließ erkennen, dass sie nicht schlief.
Atsche war schockiert! Es erschien ihm völlig absurd, dass zwei Monate im Leben so lange und so intensiv nachwirken können. Niemand in der ganzen Verwandtschaft hatte davon gewusst. Da hatte diese Frau zwei Kriege überstanden, zwei Kinder großgezogen, war scheinbar zufrieden mit sich und der Welt, um nun auf dem Totenbett eine Mutlosigkeit zu bereuen, die ihr gesamtes Leben schlagartig sinnlos erscheinen lässt? Das machte Atsche panische Angst. Sollte es ihm in seinen letzten Minuten ebenso ergehen? Würde auch für ihn alles Erlebte wertlos werden? Und das alles nur wegen dieser einen, seiner bisher einzigen, Feigheit?
Tante Anna starb zwei Tage später, friedlich eingeschlafen, wie man beschwichtigend sagt, obwohl weder der Friede noch der Schlaf das Geringste mit dem Endresultat gemein haben - der absoluten Leere.
Atsche saß mit seinen Eltern am Frühstückstisch. Das Telefon klingelte, seine Mutter nahm ab. Es war ein kurzes Gespräch.
"Hans.", sagte sie zum Vater. "Der Leichenbestatter ist bei Tante Anna. Sein Kollege ist ausgefallen und er kann sie nicht allein die Treppe heruntertragen. Gehst du mal helfen?", der Vater fuhr erschrocken herum.
"Ich? Nein."
"Hans!"
"Nein, ... nein, sowas kann ich nicht."
"Aber irgendjemand muss helfen."
"Schon gut, ich gehe.", sagte Atsche ruhig und stellte seine Teetasse beiseite. Er ging in den Flur, zog seinen Mantel über und verließ das Haus. Dieses Mal fiel das Blumenpflücken aus.
Tante Anna wohnte im ersten Stock, es ging eine schmale Treppe und eine enge Kehre hinauf. Im Schlafzimmer wartete der Bestatter mit herabhängenden Armen. Die Bettdecke war zur Seite geschlagen, Anna Wagner hatte noch immer ihr weißes Nachthemd an. Bei Atsches letztem Besuch hatte er nur ihr Gesicht und ihre Arme gesehen, ihr Körper war unter dem schweren Federbett kaum zu erahnen gewesen. Dass sie jetzt so unfassbar schmal war, hatte Atsche nicht erwartet. Er war über sich selbst erstaunt: Er hatte keinerlei Empfindung. Das war nicht mehr Tante Anna. Zu oft hatte er bei Tieren gesehen, wie von einem Moment auf den anderen das Licht ausging und dann blieb nur ein seelenloser Berg Fleisch. Was hier lag, war weniger: ein Bündel aus Haut und Knochen. Wenn ein Verstorbener noch warm ist, ist es etwas anderes. Man kann seine warme Hand halten, man kann ihn streicheln und küssen, als würde die Seele sich Zeit lassen und erst in ein paar Stunden nach und nach entweichen. Das ist ein langsamer Abschied, auch wenn man weiß, dass hinter diesem Gesicht niemand mehr zuhört, wie bei einem Schlafenden. Aber hier lag die Sache anders. Anna war steinkalt und nur noch ein Haufen Materie, mehr nicht - auch wenn dieser Haufen in seinem Aussehen entfernt an Tante Anna erinnerte.
"Wollen wir?", fragte der Bestatter.
"Ja, klar.", antwortete Atsche, als handele es ich um ein Möbelstück. Es gab keine Trage oder ein anderes, dem Umstand angemessenes Behältnis. Sie trugen Anna im Bettlaken die enge Treppe hinunter. Anna war so leicht, dass Atsche sich fragte, warum der Bestatter überhaupt seine Hilfe gebraucht hatte. Unten angekommen legten sie sie auf eine Bahre und schoben sie in den Leichenwagen. Der Bestatter schloss die Wagentür.
Atsche glaubte nicht an ein Leben nach dem Tode. Das machte ihm mitunter selbst Angst, aber jetzt tröstete es ihn. Tante Anna musste also nicht diese unsinnige Bürde, die sie ein Leben lang gequält hatte, mit hinübernehmen. Es war vorbei.