Читать книгу Der Säbeltänzer - Erhard Regener - Страница 9

Оглавление

Hecki und Atsche schlenderten Richtung Hauptgebäude und sondierten in Ruhe das Gelände. Die Universität von Neustadt an der Plage war perfekt zugeschnitten. Während bei anderen Unis Hörsäle, Seminarräume, Sportplätze und Wohnheime oft über das gesamte Stadtgebiet verteilt sind, war in Neustadt alles auf einem einzigen Campus-Gelände zusammengefasst, bis hin zu den vielen Studentenclubs. Es gab Fußballplätze, eine große Mensa, drei Kneipen, eine Speisegaststätte, einen Lebensmittelladen, einen Getränkemarkt, ein Russenmagazin, eine Post, ein Münztelefon: also alles, was man zum Leben braucht, und alles war fußläufig in Minuten erreichbar. Fünftausend Studenten in einem Tiegel von zwei Quadratkilometern zusammengepresst. Und das Beste daran: mehr weibliche als männliche Kommilitonen.

Der große Hörsaal war fast voll. Atsche hatte sich auf das Studium auch deswegen gefreut, weil er viel vom freien Geist und der offenen Diskussionskultur an den Universitäten gelesen hatte. Der Zahn wurde ihm bei dieser Veranstaltung recht schnell gezogen. Es war wie überall: Die politischen Dogmen dominierten auch hier alles. Das fing bereits mit der "sozialen Herkunft" an, ein wichtiges Auswahlkriterium bei der Zulassung zum Studium. Ein gewisser Prozentsatz an Arbeiterkindern musste erfüllt sein. Die geringsten Chancen auf einen Studienplatz hatte man als Abkömmling der Intelligenz. Die Crux bei der Sache, dass eben diese Arbeiterkinder und deren Nachkommen später selbst zur minderprivilegierten Intelligenz gehören würden, sprang offenbar niemandem ins Auge. Gemeinhin stellt man sich unter "Herkunft" etwas Unabänderliches vor, fix wie die DNA. Aber Atsche selbst war das beste Beispiel für die Variabilität dieses Merkmals, das in den Papieren festgehalten wurde wie in anderen Ländern die Religionszugehörigkeit. Sein Vater hatte Schmied gelernt, was Atsche bei seiner Geburt zum Arbeiterkind qualifizierte. Nach einem Fernstudium stieg der Vater zum Ingenieur auf und die soziale Herkunft seines Sohnes wurde auf "Intelligenz" herabgestuft. Und schließlich wurde mit dem Wechsel des Seniors in die Landwirtschaft aus dem zwanzigjährigen Atsche im Handumdrehen und offiziell ein Bauernkind.

In den vor ihnen liegenden Fragebögen wurde folgerichtig die soziale Herkunft abgefragt.

"Ich habe mal eine Frage.", meldete er sich artig.

"Ja bitte.", die Dame, die die Veranstaltung leitete, erteilte ihm lächelnd und scheinbar hilfsbereit das Wort.

"Wir sind doch ein Arbeiter- und Bauern-Staat, oder?", das Gesicht der freundlichen Dame erstarrte. Im besten Falle mimte dieser vorwitzige Neuling hier den Klassenkasper. Andernfalls konnte sich hinter seiner satirisch anmutenden Suggestivfrage nur eine blasphemische, konterrevolutionäre Grundgesinnung verbergen. So etwas konnte sie ausgerechnet bei dieser initialen Veranstaltung nicht gebrauchen.

"Was soll die Frage? Ja natürlich sind wir das."

"Bei der sozialen Herkunft kann man hier nur Arbeiter oder Intelligenz ankreuzen."

"Und Angestellter.", ergänzte die korrekte Dame.

"Ja, aber ich bin doch ein Bauer!", der ganze Saal brüllte.

Der Säbeltänzer

Подняться наверх