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8. Ein Zimmer mit Raúl

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Atsche war weder ignorant noch eingebildet - weit davon entfernt, ein Überflieger zu sein, aber gewieft genug, um jeder Art von Verpflichtung aus dem Wege zu gehen. Vorlesungen kannte er nur vom Hörensagen und während der winterlichen Jagdsaison ließ er das Studium gänzlich ruhen. Für die paar Prüfungen reichte es vorerst. Und so hatte er das, was er am liebsten hatte: Freizeit. Was sich ein Playboy für Geld erkauft, war für Atsche umsonst: Feiern, hübsche Mädchen, Sport, Kultur und viele Freunde. Kurzum: dolce vita. Für sich selbst stellte er nur eine einzige Regel auf: nie zweimal mit der gleichen Frau zu schlafen.

Sein simpel genialer Plan stieß jedoch gleich am Anfang auf ein Hindernis, das er nicht hatte voraussehen können: seine ihm wahllos zugeteilten Mitbewohner. Beide keine üblen Kerle, nein, auf ihre Art nicht uninteressant. Aber Atsches Anspruch an das Studentenleben, namentlich an Zeiteinteilung, Pflichterfüllung und Freizeitgestaltung stand in diametralem Gegensatz zu deren Gesinnung. Gleich bei der ersten Studentin, die er nachts in ihrem Beisein penetriert hatte, veranstalteten sie ein Riesentheater. Die nächste, eine große schlanke Rothaarige, verführte er in Ermangelung anderer Optionen auf dem kalten Betonfußboden im Kellerflur. Nachdem er sich dabei Knie und Ellenbogen aufgescheuert hatte, stand für ihn fest: Das durfte auf keinen Fall zum Dauerzustand werden.

Doch Rettung nahte mit schnellen Schritten: Als hätte einer der Schreibtischtäter Atsches stille Wehklagen erhört, bot man ihm an, mit einem Peruaner zusammenzuziehen. Diese Offerte kam ihm mehr als gelegen, hatte er dadurch das Privileg, das Zimmer mit nur einem Mitbewohner teilen zu müssen – im Ernstfall faire Kampfbedingungen. Ohne zweimal nachzudenken, sagte er zu. Der Sinn dieser administrativen Maßnahme bestand darin, dem armen Ausländer einen deutschen Paten hilfreich zur Seite zu stellen. Leute, Leute: den Bock zum Gärtner gemacht.

Sein Schützling hieß Raúl, vom Wesen her ein ruhiger Vertreter, äußerlich ein cholo[2], wie er im Buche steht: sture schwarze Haare, klein von Wuchs, Hakennase, ausgeprägte Jochbeine, eng stehende Augen und einen bräunlichen Teint. Trotz seines zweifelsfrei indianischen Aussehens hatte er einen urspanischen Nachnamen, ein Detail, das in seiner Heimat nicht unbedeutend war: Mit einem Ketschua-Nachnamen wie Huancahuari landete die Bewerbung für einen Job unbesehen ganz unten im Stapel.

"Sag mal Raúl, wie bist du eigentlich hierhergekommen?", Atsche stellte die Gitarre an die Wand und warf den Rucksack auf sein zukünftiges Bett, es gab ein klirrendes Geräusch. "Mit dem Flugzeug, schon klar. Die Frage ist: Weshalb und wie?"

"Ich wollte studieren."

"Ausgerechnet in der DDR? Ich meine, keine Ahnung, wie es bei euch aussieht, aber ihr seid doch auch so was wie ein westliches Land."

"Das kann man so nicht vergleichen. Ein Studium hätte ich mir zu Hause nie leisten können.", es war kaum zu übersehen, dass Raúl aus ärmlichen Verhältnissen stammte. Wenn man ihn sah, dann immer in demselben schäbigen Anzug und mit derselben abgewetzten Ledertasche.

"Also, da geht man in Lima locker-flockig zu unserer Botschaft und sagt: 'Hallo Freunde des peruanischen Walzers, ich habe kein Geld. Bezahlt ihr mir ein Studium?'."

"Umgekehrt. Eure Leute haben mir das angeboten, weil ich in einer linken Jugendorganisation war."

"Verstehe: internationale Solidarität und so. Wir unterstützen unsere linken Freunde in den Entwicklungsländern. Das finde ich gut."

"Für mich war das eine einmalige Chance.", nickte Raúl zufrieden. Atsche wühlte in seinem Rucksack und zauberte zwei Flaschen Bier hervor.

"Hier Raúl, möchtest du eins?"

"Ui, ja. Danke, ich danke dir.", Raúl nahm die Flasche mit beiden Händen und machte mit angedeuteten devoten Verbeugungen ein paar Schritte zurück.

"Prost Raúl."

"Atsche, salud!", nachdem jeder einen Schluck genommen hatte, räusperte sich Raúl. Ihm schien etwas Unangenehmes auf der Zunge zu liegen.

"Nun, das mit den Freunden stimmt nur zum Teil."

"Wie, was jetzt? Links ist links."

"Wir sehen das etwas anders. Marxismus ist für uns keine Lösung, die meisten sind arme Bauern. Die Landbevölkerung steht für uns im Mittelpunkt. Wir brauchen einen Sozialismus, der speziell an unsere Bedingungen angepasst ist: 'Sozialismus in einem Land'."

"Mensch Raúl, du alter Inka: Das ist Maoismus pur."

"Ja und? Der Marxismus-Leninismus kann uns keine Antworten geben."

"Aber was ist mit der führenden Rolle des Proletariats?"

"Überlege doch mal: Neun Bauern sollen sich von einem Proleten führen lassen?"

"Hm, ich muss zugeben, an der Stelle hat die Theorie noch gewisse Schwächen.", genau das war der wunde Punkt: Gemäß Marx' Lehre hätte es die Oktoberrevolution ausgerechnet im rückständigen Russland nicht geben dürfen.

"Von mir aus: Bauern hin, Arbeiter her. Euer Kampf richtet sich also gegen den Einfluss der USA von außen und im Innern gegen die Bourgeoisie?"

"Nein, es geht um unser Land, um einen Sozialismus ganz speziell für unser Land. Wir wollen auch Teile des Kleinbürgertums mit einbeziehen."

"Na dann eben einen Bauernsozialismus mit Tante-Emma-Laden. Aber wenn nicht gegen die USA und auch nicht gegen das Bürgertum, wogegen kämpft ihr dann?"

"Unser Hauptgegner ist im Moment die kommunistische Partei - die Marxisten."

"WAS? Marxisten sind Kommunisten, genau wie ihr."

"Im Hochland gibt es viele Gemeinden mit marxistischen Bürgermeistern."

"Ja, das ist doch klasse, so kann man den Leuten vor Ort helfen. Was soll denn daran schlecht sein?"

"Auf diese Weise kollaborieren sie mit der bürgerlichen Demokratie, die wir ablehnen."

"Aber vielleicht nur, um den Boden für die Revolution zu ebnen."

"Und sie nehmen uns unsere Anhänger in den Bergregionen weg."

"Also, das ist doch verrückt, das ist völlig verrückt! Ihr wollt eine Revolution anzetteln und habt nichts Wichtigeres zu tun, als Kommunisten zu bekämpfen? Das ist der Plan? Ich krieg' mich gar nicht wieder ein. Da studierst du jetzt im Land deiner Feinde? ... und, und die bezahlen dir das auch noch!"

"Das kann man nicht vergleichen. Ihr seid ein industrialisiertes Land, das ist etwas vollkommen anderes. Bei euch spielen Bauern keine Rolle."

"Moment, Moment, ich bin Bauer."

"Ja klar. Darum gab es bei der Einschreibung auch kein Kästchen für die soziale Herkunft Bauer."

Der Säbeltänzer

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