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9. Nur eine Amiga

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Rosana entstammte einer gutsituierten Familie. Von Marxismus, Maoismus, Anarchismus und wie sie alle hießen, hatte sie eine eher nebelhafte Vorstellung. Und dennoch hatte sie sich einer linken Organisation angeschlossen. War es bei ihr der, gerade jungen Menschen eigene, übersteigerte Gerechtigkeitssinn oder nur pubertäre Auflehnung gegen das oberflächliche, kleinbürgerliche Umfeld, in dem sie aufgewachsen war?

Südamerika, auf dem Papier seit hundertfünfzig Jahren unabhängig, war bis heute nicht aus dem Stadium eines rückständigen Rohstofflieferanten herausgekommen. Die USA dominierten Konzerne, Handel und Großbanken Lateinamerikas und tauschten aufmüpfige Regierungen nach Belieben aus. Selbst die Bezeichnung "Amerika" hatte man den Latinos weggenommen: Sagte jemand auf der Welt "Amerika", meinte er damit immer nur ein einziges Land: Die Vereinigten Staaten - der Rest des riesigen Doppelkontinents wurde dabei wie selbstverständlich unterschlagen: Das tat weh. Allein dieser verletzte Stolz war für viele Intellektuelle Lateinamerikas Grund genug, nach einer Alternative zu suchen – ganz zu schweigen von der Unfähigkeit des etablierten Systems, die gewaltigen sozialen Probleme zu lösen. Der Beweis für die Tauglichkeit eines Gegenentwurfs stand bis jetzt, Ende der siebziger Jahre, hingegen noch aus.

Atsche war vorsichtig im Umgang mit Rosana, sehr vorsichtig. Seine Zurückhaltung wurde in erster Linie aus seiner Unsicherheit gespeist, mit Rosanas scheinbar leichtfertiger Offenheit umzugehen. Nach südamerikanischer Sitte küsste sie bei der Begrüßung jeden auf beide Wangen, unabhängig davon, wie freundschaftlich oder weniger innig ihr Verhältnis zu dieser Person war - ein für Atsche verwirrender Brauch. Diese französische Art der Begrüßung würde hier erst zwanzig Jahre später in Mode kommen, war aber zu jener Zeit ebenso ungebräuchlich wie Oralsex. Andere junge Männer nahmen derart Einladung erfreut an, berührten sie an der Hüfte, legten jovial und lachend den Arm um ihre Schulter und senkten ihr Gesicht nah zu ihr herunter, derweil sie unablässig auf sie einredeten. Rosana nahm dieses Verhalten als vollkommen normal hin, lächelte ungezwungen und tat in keiner Weise distanziert. Auf Atsche wirkte solcherart Theater billig, fasst unschicklich. Er analysierte nicht, ob es bei ihm unbewusstes Kalkül, Respekt, Dummheit, Weisheit oder einfach nur Hilflosigkeit war - aber seine Entscheidung stand schnell fest: Er würde jede körperliche Berührung mit Rosana zu vermeiden suchen. Trafen sie sich, gab er ihr, wenn überhaupt, nur höflich die Hand.

Beide waren in der gleichen Seminargruppe und sahen sich daher täglich. Obwohl Atsche Rosanas Nähe nicht unangenehm war, suchte er diese nicht, zumindest nicht bewusst und schon gar nicht berechnend. Und doch saßen sie öfter, als es ein Zufall sein konnte, nebeneinander in der Vorlesung, am gleichen Tisch im Seminar, gegenüber beim Mittagessen in der Mensa oder diskutierten im Labor ihre Synthesen und Analysen. Es gab nur einen Ort, an dem Atsche sie nie getroffen hat, eben der Ort, an dem er sie am liebsten gesehen hätte, und sei es nur ein einziges Mal: in der Gemeinschaftsdusche.

Waren es Atsches dürftige Spanischkenntnisse oder seine freundschaftliche Distanz ihr gegenüber, die Rosana dazu bewogen, regelmäßigen Kontakt zu ihm zu pflegen? Mit der Zeit vertraute sie ihm: wie einem väterlichen Freund. Warum sonst nannte sie ihn immer öfter "papi"?

Rosana kam munter und aufgeräumt zur Tür herein. Seitdem Atsche mit Raúl zusammenwohnte, besuchte sie ihn regelmäßig.

"Hola, Atchecito."

"Rosa Mädchen, grüß dich.", mit ihrer scheinbar unbändigen Lebenslust brachte sie immer eine frische Brise in dieses Zimmer. War Raúl anwesend, unterhielt sie sich mit ihm auf Spanisch. Dabei konnte Atsche Raúls sauberer Aussprache noch leidlich folgen. Aber bei Rosana kam er nie nach. Sie hatte diesen singenden karibischen Akzent, aß die Buchstaben und sprach in einer atemberaubenden Geschwindigkeit.

"Rosa, hier bitte, nimm doch einen Stuhl.", wollte er höflich sein.

"Nimm doch einen Stuhl; nimm doch einen Stuhl?", äffte sie ihn gelangweilt nach. Er verstand nicht, was er ihr getan hatte.

"Atsche, du kannst doch schon ganz gut Spanisch. Warum sagst du nicht: 'Señorita, por favor, aca, toma asiento.'", und zur Untermalung, wie sie sich das vorstellte, zog sie den Stuhl an sich und klopfte mit der flachen Hand dreimal auf die Sitzfläche. Dabei sah sie ihn mit hochgezogenen Brauen und großen Augen fragend an, als erwartete sie umgehend eine Antwort.

"Das nächste Mal vielleicht.", wich er aus, um nicht als Spielverderber dazustehen. Rosana ließ nicht locker.

"Junger Mann, warum sprichst du nicht Spanisch mit uns? Dann bist du nach dem Studium perfekt in unserer Sprache.", ja, das war ein verlockender Gedanke. Aber er hatte über dieses Thema schon lange vorher nachgedacht.

"Mädel, was soll ich denn hier mit Spanisch anfangen?"

"Vielleicht fährst du einmal nach Kuba?"

"Das ist nicht so einfach, wie du denkst. Nee, lass mal, Rosa. Es ist viel wichtiger für euch, Deutsch zu lernen, als für mich Spanisch. Wir bleiben bei Deutsch.", Rosana schmollte etwas, schien nachzudenken, und ihre Züge hellten sich wieder auf.

"Ja, du hast wohl recht. Danke.", sie rückte wie selbstverständlich ganz nah an ihn heran, beugte sich über seinen Hefter und schrieb mit ihren schmalen Fingern eine Notiz hinein. Er schloss seine Augen und sog den Duft ihrer Haare ein. Wusste sie denn wirklich nicht, welche frauliche Ausstrahlungskraft sie ausübte, ... so, ... in ihrer infantilen Einfalt, oder in ihrer Unschuld?

Das Mädchen konnte nicht stillsitzen. Ihr Blick fiel auf seine Gitarre, die auf dem Bett stand. Atsche drosch darauf auf Feiern die Harmonien ihrer Sauflieder, dafür hätte eine billige Klampfe mit Stahlsaiten vollauf gereicht. Aber es war eine Konzertgitarre. Für das gute Stück hatte er lange in den Ferien arbeiten müssen. Sein Traum war es immer gewesen, eines Tages wie Paco Lucia darauf spielen zu können. Aber dieses Thema hatte er längst abgehakt. Es war nicht seine Art, schnell aufzugeben. Dennoch musste er bald erkennen, dass seine Fähigkeiten an Grenzen stießen, unüberbrückbar.

"Weißt du noch, am ersten Abend?"

"Bitte, erinnere mich nicht an die Feier danach."

"Wieso? Das war schön. Spielst du etwas auf der Gitarre? Bitte!", Atsche nahm das Instrument und stimmte es andächtig. Er musste jetzt sein Schicksalsstück spielen, "Bourrée" von Bach. Er musste das tun: Wenigstens die ersten Passagen wollte er jetzt schaffen. Als er mitten im Stück den ersten falschen Ton erwischte, brach er sofort ab: "... na ja, und so weiter.", als wäre die Pause gewollt.

"Schade, dass du nicht weitergespielt hast. Das war toll. Wo hast du das gelernt?"

"Ich habe es mir selbst beigebracht, ich hatte viel Zeit, bevor ich hergekommen bin. Aber, ach Scheiße, was soll's, irgendwann wirst du es doch merken: Ich kann das Stück nicht fehlerfrei spielen, nicht ein einziges klassisches Stück. Ich schaffe es einfach nicht, selbst wenn ich üben würde, bis mir die Finger bluten."

"Hey, flaco[3], man muss nicht alles können. Dann lass die Klassik einfach sein. Aber du hast auf der ersten Feier ein paar Lieder gesungen, von Udo hast du gesagt. Ich weiß nicht, wer das ist. Das hat mir sehr gefallen."

"Boah, erinnere mich nicht daran! Na ja, erinnern ist das falsche Wort. Oh Gott, auch das weiß ich nicht mehr."

"Bitte, ein Lied von Udo."

"Bitte nicht."

"Für mich."

"Für dich? Ach Mädel. Okay, aber nur eins.", 'für dich' kam nur der Radio-Song in Frage. Nach einigen Probeharmonien war Atsche so weit:

"Nun hab' ich dieses Lied gemacht, und diesen Text geschrieben.

Und ich hab' dabei an dich gedacht .... die ganze Nacht

- daa dap dap da daah.

... doch dann war alles klar, wir war'n soweit,

Und Thomas von der Technik war ebenfalls bereit.

Er gab uns ein Zeichen, die Maschine lief scho-o-n.

Die Band spielte los und ich stand am Mikrofon,

und ich sang, so schön ich konnte - daa dap dap da daah,

für DICH!"

Stille. Rosana lächelte nicht mehr, wie noch während des Liedes. Atsche wusste nicht, was das zu bedeuten hatte oder ob er etwas falsch gemacht hatte. Er stellte die Gitarre beiseite und wusste noch weniger, was er jetzt sagen sollte. Rosana hatte die Hände im Schoß, ihr Blick ging Richtung Gitarre und doch ins Leere. Nach etlichen langen Sekunden kam wieder Bewegung in ihren Körper.

"Atsche. Ich muss dir jetzt doch ein wenig Spanisch-Unterricht geben, weil ihr im Deutschen für diese Worte keinen Unterschied habt. ... ich habe einen Freund: Ricardo. Du bist auch mein Freund. Aber das ist nicht das Gleiche. Du bist mein amigo (Freund, Kumpel) und Ricardo ist mein enamorado (Geliebter).", die beigefügten Übersetzungen hätte sie sich sparen können, selbst wenn Atsche nicht ein einziges Wort Spanisch verstehen würde.

Nun war es heraus: Sie hatte einen Freund, nein, einen enamorado, und für Atsche würde sie nur eine amiga bleiben. Es gab da also jemanden, der dieses makellose Wesen auf sein Nachtlager ziehen durfte. Auch wenn Atsche bis eben nichts davon gewusst hatte, es keinen Anhaltspunkt gegeben hatte, dass Rosana nicht mehr frei ist - die Nachricht schockierte ihn nicht. Ja, Rosana übte eine feinsinnliche Anziehung auf ihn aus. Aber er hatte nicht nur einmal über sie und sich nachgedacht. So mädchenhaft, fast kindlich ihr Äußeres wirkte, hatte sie doch sehr klare Vorstellungen über ihren Lebensweg. Sie fühlte sich ihrem Land verpflichtet. Sie studierte hier, um ihrem Land, das immer mehr einem Umbruch entgegenging, nach ihrer Rückkehr beim Aufbau helfen zu können. Sie wollte etwas verändern oder zumindest ihren Anteil dazu beitragen, und das konnte sie nur in Kolumbien. Und Atsche, kommunistisch erzogen, unterwarf sich innerlich dieser übergeordneten Raison; wie eine Nonne, die ihre zarten, unbeherrschten Gefühle für den Bäckerjungen sofort zu unterdrücken weiß. Selbst wenn, ja selbst wenn sie ein Paar geworden wären, und selbst wenn es überhaupt in diesen astronomisch weit getrennten Welten machbar wäre - würde sein Gewissen es erlauben, sie hierzubehalten? Nein, es war alles gut. Rosana hatte einen Geliebten und Atsche war für diesen Umstand sogar dankbar, weil er vieles vereinfachte und klare Grenzen zog: dort der enamorado und hier Atsche der amigo.

Der Säbeltänzer

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