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2. Die alte und die neue Welt
ОглавлениеDer zehnte September war ein sonniger, windstiller Spätsommertag und ein Sonntag obendrein. Für Atsche ein denkwürdiges Datum: Endlich war er Student. Ein völlig neuer Abschnitt in seinem Leben begann: kein Gefängnis wie bei der Armee, kein Eingesperrtsein im Internat, keine Abhängigkeit vom elterlichen Haushalt. Er fühlte sich erstmals in seinem Leben unabhängig und ja, das darf man so sagen: Frei! In den kommenden fünf Jahren würde er nichts weiter zu tun haben, als die Prüfungen recht oder schlecht zu bestehen und einigen Formalitäten zu genügen. Das erschien ihm lächerlich wenig. Darüber hinaus könnte er tun und lassen, was er wollte. Von vielen Älteren hatte er gehört, dass das Studium die schönste Zeit ihres Lebens gewesen sei, und wenn er sich etwas fest vorgenommen hatte, dann, dass auch er dies einmal sagen würde.
Allerdings erwischte ihn eine der Formalitäten ausgerechnet heute: der studentische Kontrolldienst, kurz SKD. Jedes Wohnheim hatte am Eingang eine Art Pförtnerbude, in der zwei Studenten Wache schieben mussten. Ungesehen kam also weder jemand hinein noch hinaus. "Kontrolldienst" trifft es aber nicht einmal annähernd, da niemals jemand kontrolliert wurde. Letzte Woche hatte Atsche einen Brief von der Uni erhalten:
"Sehr geehrter Herr Wagner, ... sind Sie zum SKD am 10.09.1978 von 14:00 bis 22:00 Uhr eingeteilt. ... Die Einweisung erfolgt um 13:30. Sie werden den Dienst gemeinsam mit Thorsten Heckenbauer versehen. ... "
So eine gottverdammte Scheiße! Während alle anderen rabiat feiern würden, müsste er in dieser öden Bude sitzen. Heckenbauer hieß sein Spannemann also. Für einen Nachnamen wie Heckenbauer kann man sich doch glatt erschießen. Hecken kann man pflanzen, schneiden oder auch vollpinkeln, aber doch nicht bauen. Und all seine Nachkommen wären ein Leben lang mit diesem peinlichen Namen bestraft.
Atsche kam geradewegs vom Bahnhof, hatte seinen Rucksack geschultert, die Gitarre in der Hand und war im Laufschritt auf dem Weg zum Wohnheim. Eine alte Frau, so um die vierzig, gab auf dem Flur einem Burschen mit Brille, ordentlich gekämmten Haaren, weißem Hemd, Jackett und lederner Aktentasche ihre Anweisungen. Die unterwiesene, hagere Gestalt konnte nur dieser Heckenbauer sein. Gerade sagte sie mit Blick auf seine prall gefüllte Aktentasche:
"Oha. Herr Heckenbauer, sie haben sich heute Abend aber viel vorgenommen."
"Ja, Wissenschaft ist schwer. Das sind alles Bücher. Ich will den Dienst nutzen, und mich noch ein wenig vorbereiten.", Atsche hatte es geahnt: ein Streber.
"Tach. Ich bin Richard Wagner, heute zum SKD eingeteilt.", brachte er etwas pustlos hervor.
"Sie sind zehn Minuten zu spät, Herr Wagner."
"Tut mir leid. Sie wissen ja, diese Langsamfahrstrecken überall. Ich habe meinen Anschluss in Leipzig verpasst.", sofort brodelte es in Atsche. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich für irgendetwas zu entschuldigen, schon gar nicht vor dieser runzligen Harpyie.
"Natürlich weiß ich das. Aber die Genossen von der Reichsbahn arbeiten mit Hochdruck an der Lösung dieses Problems. Man kann eben nicht immer alles auf die Minute genau planen. Vielleicht nehmen Sie das nächste Mal einfach einen Zug früher. Sie haben hier schließlich eine Aufgabe!"
Die Einweisung war eine Farce. Ein Zettel mit allen wichtigen Punkten, die er ohnehin nicht beachten würde (am wenigsten das Alkoholverbot), wäre völlig ausreichend gewesen. Also, da saß er nun mit diesem fein herausgeputzten Heckenpisser, wieder eingesperrt, diesmal im SKD-Verschlag.
"Hallo. Ich bin Thorsten, aber alle nennen mich Hecki.", versuchte diese Frohnatur eine Konversation anzubändeln und streckte Atsche seine Hand entgegen. Atsche ahnte, dass es wenig Sinn machen würde, hier einen auf beleidigt zu spielen. Hecki trug schließlich keine Schuld an dem Dilemma des ersten Abends.
"Hecki, nimm es nicht persönlich, mit diesem Scheißdienst haben sie mir gleich den ersten Abend versaut, aber gründlich. Na ja, wir werden es schon überstehen.", Atsche stellte die Gitarre beiseite und setzte den Rucksack ab. Dabei gab es ein klirrendes Geräusch. Er öffnete den Rucksack und kramte zwei Flaschen Pils hervor, nestelte aus seiner Hosentasche einen Dreikantschlüssel und öffnete damit die beiden Flaschen.
"Ähm, Hecki: Ich weiß, du willst heute noch lernen. Möchtest du vielleicht trotzdem ein Bier?", Hecki rutsche etwas unsicher auf seinem Stuhl hin und her und rückte seine Brille gerade.
"Ich weiß nicht. Wenn ich ein Schluck Bier trinke, kann ich mich danach immer schlecht konzentrieren."
"Ach, komm Junge, das ist der erste Tag und in dieser Woche läuft eh nicht viel.", Hecki nahm zögernd die Flasche, hielt sie weit von sich und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen das Etikett, als würde er so etwas zum ersten Mal sehen.
"Prost Hecki.", hielt ihm Atsche seine Flasche entgegen, Hecki stieß mit ihm an, klock, setzte die Flasche vorsichtig an seine gespitzten Lippen und nippelte daran wie ein Mädchen.
"Na, war das so schlimm?"
"Nein, nein. Was ist das?"
"Luxator, das beste Bier aus Magdeburg.", sie unterhielten sich artig über Familie, Schule, Armee und das bevorstehende Studium. Leider würden sie, wie sich schnell herausstellte, in der gleichen Seminargruppe sein. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte Hecki endlich die seinige Flasche Bier vollständig geleert. Atsche beherrschte sich aus Höflichkeit, in der gleichen Zeit nicht drei Bier hinterzukippen.
Immer wieder gingen diverse Studenten an ihrer Loge vorbei, die einen hinein, die anderen hinaus. Schon vorhin hatten sie sich über zwei vermeintlich deutsche Bewohner gewundert, die sich aber in einer völlig unbekannten Sprache unterhielten. Und was war das jetzt? Ein schüchterner, dunkelhäutiger Junge passierte ihr Fenster und nickte ihnen freundlich zu.
"Was macht der denn hier? Ist das ein Kubaner?"
"Nee, eher Inder oder so was."
"Ich dachte, wir sind hier nur unter uns."
"Das habe ich auch nicht gewusst. Das ist ja wie bei den Weltfestpielen. Toll.", und bei den eben taxierten Balten und dem Pakistani blieb es nicht. Neben deutschen war eine bunte Mischung ausländischer Studenten mit ihnen immatrikuliert worden: Russen, Osteuropäer und Kaukasen, zierliche Asiaten, muskulöse Schwarzafrikaner, Araber, quirlige Mulatten aus der Karibik, hispanische Kreolen und gedrungene Indios aus Südamerika, sogar eine Griechin. Die beiden Jungs hatten bisher kaum Ausländer zu Gesicht bekommen. Und wenn nun einer von diesen Exoten hereinkam, betrachteten sie diesen neugierig, wie in einem Zoo - nur mit dem Unterschied, dass Hecki und Atsche diejenigen waren, die hier im Käfig saßen.
"Du meine Güte, wie sollen wir das in diesem Kerker nur so lange aushalten? Der einzige Trost ist, dass mein Rucksack voller Bier ist. Aber vom Bier muss man immer so viel pinkeln. Ein kleiner Schnaps wäre jetzt das Angemessene.", Atsche sagte dies in der Gewissheit, dass Herr Heckenbauer für derartige Bedürfnisse keinerlei Verständnis haben würde.
"Ein Wissenschaftler findet für jedes Problem eine Lösung."
"Das ist kein wissenschaftliches Problem, sondern ein ganz profanes, Herr Professor.", Hecki ließ sich von dem sarkastischen Unterton nicht beeindrucken. Er nahm seine dicke Aktentasche auf den Schoß und fing in aller Ruhe an, darin herumzuwühlen. Gleich würde dieser Brillen-Heini eines seiner fetten Fachbücher auspacken und darin nach einer Lösung suchen. Aber nein, die Tasche entpuppte sich als wahre Wundertüte. Erst landeten ein paar Strümpfe auf dem Tisch, dann eine Zahnbürste, ein Berg Tütensuppen und zu guter Letzt zog Hecki eine große Flasche mit einem glasklaren Inhalt hervor.
"Na, da ist er ja, mein Kleiner.", seine Augen leuchteten.
"Was ist das?"
"Blauer Würger."
"Was in aller Welt ist denn Blauer Würger?"
"Das ist der billigste Korn überhaupt. Mein Vater hatte ein paar Flaschen 'rumstehen. Und ich dachte mir, bevor er davon zum Säufer wird, nehme ich von dem Zeug was mit."
"Na dann wird das Gelumpe wohl auch nach billig schmecken."
"Schlimmer. Aber 'nem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, oder?", jetzt war alles klar, so klar wie der Fusel in der schmucklosen Flasche.
"Hecki, du mieser Hund! Du hast mich auf den Arm genommen."
"Und du bist darauf reingefallen! Huh, huh.", dieser Drahtwurm amüsierte sich köstlich und musste die Brille abnehmen, um sich die Augen zu wischen. Atsche war es mehr als recht, entpuppte sich Hecki letztlich doch als Mensch.
"Und was ist sonst noch in deiner Schatztasche?"
"Noch eine Flasche Blauer Würger und ein paar Kriminalromane. Das mit den Büchern war also nicht gelogen."
"Hecki, soll ich dir mal was sagen?"
"Sag es."
"Ich glaube, das ist der Beginn einer langen Freundschaft."
"Na dann. Prost Atsche."
"Prost Hecki."
Der Nachteil ihres Dienstes entpuppte sich langsam als Vorteil: Alle, die hier wohnen würden, mussten an ihnen vorbei, wobei das Interesse der Wachhabenden vorerst nur dem weiblichen Anteil der Karawane galt. Beide kamen frisch von der Armee und waren in einer bestimmten Beziehung verdammt ausgehungert. Und das Material, das sich hier präsentierte, gab ihrer Fantasie ausreichend Spielraum. Gerade kamen drei Mädels durch, von denen jeder von ihnen jede Einzelne sofort auf seine Favoritenliste setzte. Die Grazien grüßten freundlich und waren in aufgeräumter Stimmung.
"Ich werd' nicht wieder. Wenn das so weiter geht, krieg' ich'n Koller.", und es ging so weiter. Beide mussten sich Mühe geben, den Mund nicht offen zu behalten.
Aber was sie jetzt da draußen im Schein der Abendsonne in einem leichten Sommerkleid, bei jedem Schritt wippend, auf sich zukommen sahen, ließ sie vollends verstummen: ein Mädchen mit langen gewellten schwarzen Haaren, einem natürlich braunen Teint, feinen schwarzen Brauen, einem Profil wie eine Inka-Prinzessin und Augen wie ein Reh: eine Latina wie gemalt! So etwas kannte Atsche nur aus dem Fernsehen. Bisher hatte er stets auf einen festen, strukturierten Kussmund gestanden und daran würde sich auch nichts ändern. Allein bei diesem Mädchen revidierte er seine Meinung radikal und vollständig: Kein anderer Mund würde besser zu ihr passen als ihre weichen, konturlosen, rosafarbenen Lippen. Klack, klack, klack machten ihre Absätze auf dem Steinfußboden des Flurs, als sie an ihnen vorbeispazierte. Sie lächelte den beiden staunenden Gestalten hinter der albernen Pförtnerklappe zu, als würden sie sich schon lange kennen, winkte freundlich, sagte "Hola" und schon war sie an ihnen vorbei. Atsche hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Entgegen seiner angeborenen Scheu gegenüber dem anderen Geschlecht schnellte er hoch, riss die Tür ihres Verhaus auf und passte das Mädchen, Hecki im Nacken, gerade noch auf dem Flur ab.
"Hallo, wer bist du denn?"
"Ich heiße Rosana, ihr könnt auch Rosa zu mir sagen."
"Ich heiße Richard, aber alle nennen mich nur Atsche."
"Ja, das kann ich mir gut merken. Im Spanischen buchstabieren wir das 'H' wie 'atsche'.", Hecki drängte sich an Atsche vorbei.
"Hallo Rosa, ich bin Hecki. In welcher Seminargruppe bist du denn?"
"Ich bin in Seminargruppe 7."
"Na, wenn das kein gutes Zeichen ist. Dann sind wir drei in derselben Seminargruppe. Was machst du heute noch?", kam Hecki gleich zur Sache.
"Ich weiß nicht, ich kenne ja niemanden."
"Wenn du weiter nichts vorhast, kannst du uns ein bisschen Gesellschaft leisten. Wir müssen noch bis zehn hier sitzen.", Hecki hatte Atsche wohl doch einiges voraus.
"Ja, das wäre nett. Aber ich muss erstmal auf mein Zimmer, meine deutsche Zimmerkollegin kennenlernen. Vielleicht komme ich nachher bei euch vorbei. Also dann, chau.", sie winkte wie ein Schulkind und weg war sie. Die beiden Diensthabenden standen eine Weile wortlos nebeneinander und sahen auf die Ecke, hinter der Rosana eben verschwunden war, so als ob sie dort gleich wieder zum Vorschein kommen würde. Als Atsche wiedererwachte, fasste er Hecki bei beiden Schultern und schüttelte ihn:
"Mann, hast du das gesehen? Das ist doch der Hammer!"
"Die kommt heute nicht wieder."
"Sie hat doch 'vielleicht' gesagt."
"Dieses 'vielleicht' kenne ich. Mensch Junge, bleib ruhig. Wir sind in derselben Seminargruppe, die sehen wir jeden Tag."
"Sag mal Hecki. Ich habe da eine eher philosophische Frage."
"Oh fein. Ich gebe auch gern philosophische Antworten."
"Glaubst du, hier fällt auch für einen Trottel wie mich etwas ab?"
"Junge, bist du blind? Hast du nicht geschnallt, was hier vorbeigelaufen ist? Wir werden vögeln, was das Zeug hält."
"Meinst du echt?"
"Aber sicher. Und wir werden noch heute damit anfangen, gleich nach dem Dienst."
"Wie soll das denn gehen?"
"Ich habe für nachher eine Spontanfete auf meinem Zimmer organisiert."
"Ey, sauber. Das nenn' ich mal Mitdenken."
"Das sehe ich auch so. Na, ich denke, das ist ein würdiger Anlass, noch einen gehörigen Schluck zu nehmen.", der Würger wurde wieder hin- und hergereicht.
"Ähm, ... , da wir gerade beim Thema sind: Wann war denn dein erstes Mal?"
"Boah, das war überirdisch, mit vierzehn.", Hecki machte in der Erinnerung daran jetzt noch große Augen.
"Mit vierzehn? Das gibt es nicht! In dem Alter habe ich gerade mal angefangen, mir einen runterzuholen - in der Badewanne."
"Und wie lange ist es bei der Badewanne geblieben?"
"Bis ich achtzehn war. Aber erzähl mal, wie war das bei dir?"
"Im Ferienlager. Da war so'ne kleine süße Schnecke, weiß nicht, was die an mir gefressen hat. Jedenfalls waren nachmittags alle am Strand und wir beide hatten uns verabredet, Unwohlsein vorzutäuschen. Ich hätte im Leben nicht geglaubt, dass da wirklich was läuft, maximal ein bisschen küssen. Aber die Kleine war für ihr Alter schon, wie soll ich sagen, nicht unbeleckt. Lange Rede kurzer Sinn. Mit einem Mal lag ich drauf und die Post ging ab. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Ich weiß nur noch, dass ich von Anfang an geschwitzt habe wie ein Schwein. Das war klasse."
"Hast du ein Glück. Das hätte mir auch gefallen. Ich war einfach immer zu blöd."
"Wie war denn nun dein erstes Mal?"
"Wie gesagt, erst mit achtzehn. Feier im Internat. Die Feier war um halb zehn Schluss, Zapfenstreich war immer um zehn. Auf der Fete war eine Siebzehnjährige, die wollte angeblich noch was in Physik von mir erklärt haben, bevor Nachtruhe war. Wir beide auf mein Zimmer, da war nicht mehr viel mit Physik. Ich mache das Licht aus, da liegt sie schon im Bett. Ich rauf auf die Mutti, mir nur die Hose aufgeknöpft und ihr den Rock hochgeschoben. Da geht das Licht wieder an - Seppel, mein Mitbewohner kommt rein: 'Atsche, bist du verrückt. Die alte Hexe ist schon auf dem Flur'. Die 'Hexe' war die Internatsleiterin, die gleich alle Zimmer kontrollieren würde. Es wurde ein Wettlauf mit der Zeit. Seppel aufgepasst, wie weit die 'Hexe' ist, aus dem Zimmer rausgeguckt, reingeguckt: 'Beeil dich.', rausgeguckt, reingeguckt: 'Verdammt, nur noch zwei Zimmer.', ich rammele weiter, und das alles bei Festbeleuchtung. Dann ist mir endlich einer abgegangen. Wir beide sofort raus aus dem Bett, die Klamotten hochgezogen und gleich am Schreibtisch einen auf Physik lernen gespielt, total verschwitzt. Das war's, das war alles. Ich war dermaßen enttäuscht. Irgendwie hatte ich mir das epochaler vorgestellt. Dabei war es nicht viel anders als Wichsen, nur wärmer. Aber egal, jetzt war ich endlich ein Mann und konnte mitreden."
"Und danach? Wann war das nächste Mal?"
"In den Ferien habe ich gearbeitet."
"Aber an den Wochenenden."
"Habe ich meinen Jagdschein gemacht. Und dann kam die Armeezeit."
"Aber bis zum Studium war ein halbes Jahr Zeit."
"Habe ich wieder als Traktorist gearbeitet."
"Doch nicht die ganze Woche."
"In der Ernte wird auch an den Wochenenden gearbeitet, und wenn nicht ..., Mensch Hecki, ich wohne auf einem winzigen Dorf."
"Also danach war gar nix mehr?", Atsche sparte sich die Antwort. Eine Stunde mussten sie noch überstehen. Da klopfte es an der Budentür und ohne das "Herein" abzuwarten, lugte doch tatsächlich das neugierige Gesicht von Rosana hinter der Tür vor.
"Komm her Mädel. Willst du ein Bier?"
"Ja, gerne.", das hatten sie nicht erwartet.
"Wo kommst du her?"
"Colombia."
"Kolumbien also, aus Bogotá?", meist landet man mit der Hauptstadt einen Treffer.
"Nein, aus Cartagena. Das liegt an der karibischen Küste."
"Gabriel García Márquez?"
"Hey, woher kennst du ihn?"
"Ich kenne ihn natürlich nicht. Ich habe 'Hundert Jahre Einsamkeit' von ihm gelesen."
"Ah ja, cien años de soledad. Ja, das ist sehr bekannt. Und wie fandest du es?"
"Grottenlangweilig. Alle hatten die gleichen Namen und ein derartiges Durcheinander. Es war die reinste Qual."
"Warum hast du es gelesen weiter?"
"Ich lese jedes Buch, das ich einmal angefangen habe, bis zum Schluss."
"Wirklich jedes?"
"Sogar die Bibel."
"Que masoquista!"
"Sag mal, Rosa. Das ist ja irre, wie gut du Deutsch sprichst. Hast du das vorher in Kolumbien gelernt?"
"Dios mio, ihr habt Vorstellungen!", lachte sie. "In Lateinamerika kann fast niemand eine Fremdsprache, nicht einmal Englisch. Wozu auch? Alle Nachbarländer sprechen Spanisch. Nein, die ausländischen Studenten, alle hier, mussten vorher ein Jahr auf das Herder-Institut in Leipzig. Ein Jahr lang Deutsch intensiv, jeden Tag, von morgens bis abends, auch samstags. Ich kann also nichts dafür. Aber bitte, nicht so schnell sprechen, ja? ", bettelte sie mit zusammengefalteten Händen.
"Der Wahnsinn. Mal was anderes Rosa: Wie heißt du mit Nachnamen?", wollte Hecki wissen.
"Mein voller Name ist Rosana Eva Jiménez Navarro.", boah, hatte das einen Klang.
"Also kurz Rosana Navarro?"
"Nein, wenn schon kurz, dann Rosana Jiménez. Der letzte Teil ist immer der Nachname der Mutter.", Fragen nach dem woher, wohin, Schule, Eltern, Geschwister, Vorlieben, politische Anschauungen usw. gingen hin und her. Hier trafen zwei völlig verschiedene Welten aufeinander und dabei war das Klima noch der geringste Unterschied. Rosana wollte so viel von den beiden wissen, und die beiden von ihr. Wenn Rosana erzählte, dann immer mit Händen und Füßen. Als wäre Deutsch die Sprache eines Urvolkes, bei der das gesprochene Wort erst einen Sinn ergibt, wenn man die zugehörige Handbewegung sieht, musste sie jede Bemerkung mit einer Geste verbinden. Etwas Besonderes wurde durch einen Kuss auf ihre zusammengepressten Daumen und Zeigefinger untermalt, bei heiklen Dingen "ui, jui, jui" schüttelte sie ihre Hand, als wäre diese eingeschlafen. Das Logische kam nicht ohne nach außen gekehrte Handflächen aus, bei jeder Redepause strich sie mit dem kleinen Finger das Haar hinter ihr Ohr. Sprachen die Jungs für ihr Verständnis zu schnell, hob sie beide Hände, als wollte sie sich ergeben. Zählte sie mit gewichtiger Miene Dinge auf, 1-2-3, dann verwendete sie dazu nicht wie jeder normale Mensch Daumen, Zeige- und Mittelfinger, sondern hob erst den kleinen Finger, dann den Ringfinger und schließlich den Mittelfinger. Atsche versuchte dies hinter seinem Rücken nachzumachen, es wollte ihm nicht gelingen.
Wenn Rosana ihnen zuhörte, dann immer mit großen Augen und einem erwartungsvollen Lächeln auf dem Gesicht, wie ein kleines Kind, das staunend den Geschichten der Erwachsenen lauscht, als hätte sie derartige Dinge noch nie gehört. Was Atsche nicht vermutet hätte: Hier waren er und Hecki die Exoten für sie. War Rosana von irgendeiner Bemerkung besonders beeindruckt, legte sie wie selbstvergessen ihre Hand auf das Knie oder den Unterarm ihres Gegenübers und hörte gespannt zu, oder sie rüttelte gar mit ihren dünnen, braunen Ärmchen an seiner Schulter: "Erzähl weiter.". Atsche war von so viel Temperament und Offenherzigkeit überfordert und er wusste nicht, wie er dies deuten und noch weniger, wie er darauf reagieren sollte. Bei einem deutschen Mädchen hätte er ein derartiges Verhalten anders und eindeutig interpretiert. Aber ein innerer Instinkt gebot es ihm, auf Rosanas selbstverständlich erscheinende körperliche Berührungen nicht in gleicher Weise zu reagieren.