Читать книгу Der Säbeltänzer - Erhard Regener - Страница 17
11. Auch Lamas haben eine Würde
ОглавлениеHecki und Atsche auf dem Heimweg vom Fettbach. Warum konnte dieser Club nicht auf dem Campus liegen wie alle anderen auch? Immer ein halbe Stunde Fußweg und immer früh am Abend, kurz nach Mitternacht. Die beiden traten den Heimweg ohne Begleitung an, der dadurch umso trister wirkte. So trotteten die geschlagenen Krieger gesenkten Hauptes nebeneinanderher, in Richtung ihrer eigenen Betten.
"Sag mal, die Schwarzhaarige, also wenn die nicht schnuckelig war. Du hast doch schon ganz erfolgreich an ihr rumgeschraubt. Wo war das Problem?", fragte Hecki.
"Merkst du noch was? Die war doch völlig verstrahlt, redet ohne Unterbrechung."
"Aber die hatte keinen BH an und der Pudding, der darunter gewackelt hat, mein lieber Mann! Wer will da nicht Masseur spielen?"
"Ach was, die labert noch beim Baumstammschieben, und was noch schlimmer wäre: sicher auch noch danach. Nee, mein Lieber, ich erwarte ein gewisses intellektuelles Minimum."
"Intellektuelles Minimum? Du hast echt nicht alle Latten am Rost. So ein Püppchen sollte man nicht unbenutzt in der Ecke stehen lassen."
"Tja Meiner, ich bin eben ein Genießer. Außerdem sollte das nicht dein Problem sein. Du bist doch fein raus: Du hast ja deine Stoßburg, zu der du gehen kannst, wann du willst."
"Wenn du Ivonne meinst: Nee, die lässt mich nicht mehr ran."
"Was? Wieso das denn? Die stand dir praktisch zur freien Verfügung – exklusiv, jederzeit."
"Das ist vorbei. Am Montag gleich nach dem Labor bin ich mit Zero und den anderen in die Pickelhaube zum Doppelkopf. Aber um acht war ich mit Ivonne verabredet. Also habe ich den Jungs gesagt, sie sollen mit dem nächsten Spiel auf mich warten, und bin im Laufschritt zu Ivonne rüber. Die wollte es sich mit mir 'schön gemütlich' machen. Aber wie denn? Ich hatte doch keine Zeit, einfach keine Zeit."
"Also war nichts?"
"Na doch, ich schnell rauf auf die Mutti und mir in Windeseile einen abgerammelt, wie ein Karnickelbock: rauf und wieder runter und weg. Ich konnte doch nicht länger bleiben, ich wollte zurück zu meinen Freunden, Bier trinken und Karten spielen."
"Na dann hat ja das Aus- und Wiederanziehen länger gedauert als das Porkeln."
"Ach was. Wie schon gesagt, ich hatte keine Zeit. Ich hatte noch alles an, sogar meinen fleckigen Laborkittel, ... huh, huh, huh."
"Und das hat sie dir übelgenommen?"
"Ja, versteh' einer die Frauen."
Die Hälfte der Strecke war geschafft, hier gabelte sich der Weg: geradeaus Richtung Campus, nach links durch einen schlichten Tierpark. Das wohldurchdachte Bombenteppichmuster, das die alliierte Luftwaffe vor gut dreißig Jahren auf Neustadt gelegt hatte, war fast lückenlos gewesen. Nach dem Krieg säumte man die Hauptstraßen mit Bauten im stalinistischen Zuckerbäckerstil, dessen niedlicher Name nichts von seiner Klobigkeit erahnen lässt. Später die Randgebiete mit sterilen Plattenbauten aufgefüllt – architektonische Leckerbissen sehen anders aus. Bei Südwind kroch der süßliche Geruch der Erdölraffinerie in jeden Winkel. Bei Nordwind würde hier niemand Wäsche im Freien aufhängen. Dann legte sich der feine, ungefilterte Kalkstaub aus den riesigen Schloten des nahen Karbidwerks wie Vulkanasche auf die ohnehin schon graue Stadt, eingezwängt zwischen Industriebetrieben und umgeben von einer baumlosen Agrarsteppe. Nein, Neustadt an der Plage war kein Ort, den man ohne stichhaltigen Grund freiwillig aufsuchen würde.
"Komm Hecki, gehen wir links. Da sind wenigstens keine Häuser."
"Ach Mann, dann dauert es ja noch länger. Warum nicht wie immer? Hast Du deinen Dietrich dabei?"
"Siehst du, genau das will ich vermeiden. Wir können nicht schon wieder die Kaufhalle knacken."
"Ich könnte etwas Milch gebrauchen. Und Einbrechen kann man das wohl kaum nennen. Du hast sauber wieder abgeschlossen. Außerdem haben wir eine genial falsche Spur gelegt. Das war perfekt. Huh, huh, huh.", Hecki schüttelte sich vor Lachen.
"Ach hör auf. In dem Rotzladen war doch nix drin, nicht mal Bier."
"Und außerdem hast du gesagt, dass das eine gute Tat war: Wir würden damit nur auf einen Fehler im System hinweisen, eine Sicherheitslücke aufdecken."
"Von Milch kriege ich das Brechen. Nee, komm, wir gehen links lang."
"Willst du noch eine Phenol-Ente mitnehmen?"
"Ach, wir haben genug zu essen. Das mache ich nur in Notfällen."
"In häufigen Notfällen."
Die Stadtverwaltung hatte sich redlich Mühe gegeben, in dieser tristen Ansiedlung mit ihrem wenigen Grün durch einige Tiergehege für etwas Abwechslung zu sorgen. Im ersten Abteil waren ein paar Kaninchen und Meerschweinchen - aber nur, wenn man davon wusste. Heute war keines von den Biestern zu sehen. Die faulen Mickerlinge schlummerten schon. Dahinter kam ein winziger Pferch mit einem Esel, der im Stehen schlief. Schließlich ein Verlies mit vier Lamas, die von einer Ecke ihres Gefängnisses zur anderen wanderten. Davor blieb Atsche stehen.
"Hecki, warum schlafen die Idioten nicht?"
"Wegen der Zeitdifferenz zwischen Südamerika und Europa."
"Knallbeutel, die sind schon Jahre hier."
"Warum interessieren dich diese stockdoofen Kamele?"
"Weißt du eigentlich, dass in Peru auf Sodomie mit Lamas die Todesstrafe steht?"
"Ui, da wird die Bibel aber hart ausgelegt. Wolltest du jetzt ein Lama bespringen?"
"Um Himmels willen, nein! Die stinken wie Hupatz."
"Und wenn sie nicht stinken würden?"
"Ich weiß nicht. Ist vielleicht auch nicht so viel anders als mit einer Frau."
"Nur kann man nicht mit den Titten spielen."
"Hm, das ist ein Argument.", wurde Atsche nachdenklich.
"Andererseits: Ein Alpaka würde sich nicht beschweren, wenn man dabei noch die Strümpfe anhat, oder den keimigen Laborkittel, huh, huh, huh.", kicherte Hecki in sich hinein. Atsche wischte diese Gedanken mit einer ungehaltenen Handbewegung beiseite.
"Ach Mensch, Heckenbauer, du bringst mich völlig aus dem Konzept. Ich meine, was sagt dir das mit der Todesstrafe?"
"Dass man in den Anden besser eine Frau vergewaltigen sollte, als ein Maultier zu bespringen."
"Nein, das nicht."
"Dass jeder Hochlandindio sein Lieblings-Lama hat?"
"Ich meine, welcher Gesetzgeber beschäftigt sich damit, wenn solche Sachen nicht häufiger vorkommen würden, als wir uns das mit unserer beschränkten Weltsicht vorstellen können."
"Ach Junge, komm weiter. Das ist langweilig, die rennen nur im Kreis. Das Einzige, was die stinkenden Untiere können, ist spucken. Was will man damit? Die können keinen Wagen ziehen, man kann nicht darauf reiten. Kein Wunder, dass die Inkas gegen Pizarro haushoch verloren haben."
"Aber die Wolle."
"Die Wolle, ja? Dein persönlicher Hochlandsklave hat eine Decke aus dem Zeug, das juckt wie Sau. Das ist keine Wolle, das ist Draht."
"Die armen Geschöpfe tun mir leid. In einem entlegenen Teil der Welt sind sie einen Weg der Evolution gegangen, den heute keiner gebrauchen kann. Die können nichts dafür. Und die Verwaltung dieser Affenstadt, sperrt sie in ein winziges Viereck. Da drin muss man ja verrückt werden."
"Mann, diese importierten Kreaturen sind so blöd, die merken das nicht einmal. Die sind genauso behämmert wie Kängurus."
"Was weißt DU denn von Kängurus?"
"Bei Brehm steht, Kängurus sind die dümmsten Tiere der Welt."
"Das stimmt nun überhaupt nicht, Hühner sind dümmer. Hecki, sind wir schon einmal vom Fettbach zurückgekehrt, ohne eine gute Tat zu vollbringen?"
"Ja, einmal."
"Einmal? Wann soll das gewesen sein? Was haben wir da gemacht?"
"Gar nichts."
"Siehst Du. Das darf sich nicht wiederholen. Heckenbauer, du hast mich noch nie enttäuscht. Und wenn es drauf ankam, habe auch ich immer zu dir gehalten. Wir müssen den armen Teufeln helfen."
"Wie denn? Willst du die Viecher zurück nach Südamerika bringen? Wir kommen selbst aus diesem Land nicht raus."
"Nein, ich meine zum Einstieg etwas ganz Einfaches. Eine kleine gute Tat. Wir geben ihnen nur ein wenig Auslauf."
"Das Gehege ist verriegelt und verrammelt."
"Wir heben sie über den Zaun. Das ist dann wie Freigang für einen Knastbruder."
"Die Dinger sind sauschwer."
"Wir sind zu zweit und du sagst selbst immer: was man nicht probiert hat, kann man nicht wissen."
"Mann, die stinken wie Hölle, schon von Weitem.", Hecki konnte Atsche wie immer nichts abschlagen. Beide kletterten über den Zaun in das Lama-Gehege.
"Wie ist der Plan?"
"Wir fangen eins.", sie liefen den Lamas hinterher, immer im Kreis. Womit sie nicht gerechnet hatten: Die nüchternen Tiere waren flinker als ihre zweibeinigen Verfolger. Und wenn man zu zweit läuft, wird man dadurch nicht doppelt so schnell. War ihnen das Gehege von außen noch winzig erschienen, bot es doch hinlänglich Platz zum Entweichen ihrer Schützlinge, die nicht ahnen konnten, dass man ihnen nur Gutes wollte. Den beiden Rettern ging die Puste aus.
"Atsche, das wird nix. Die Kamele sind schneller als wir."
"Neuer Plan. Da hinter der Hütte ist ein schmaler Durchlass. Ich treibe die Viecher hinter der Bude durch, du stehst an der anderen Seite und fängst eins. Durch diese hohle Gasse müssen sie kommen. Los!", neue Aufstellung, neuer Versuch. Atsche trieb die vier Lamas in den Durchlass - hinter der Hütte kamen alle vier Lamas wieder hervor.
"Hecki, was ist los? Die kamen genau auf dich zu!"
"Ich habe keins zu fassen gekriegt.", in Wahrheit hatte Hecki Panik erfasst, als er die kleine Herde auf sich zukommen sah, und ist zur Seite gesprungen. Neue Aufstellung, nächster Versuch. Wieder kamen hinter der Hütte alle vier Lamas vollzählig zu Vorschein.
"Hecki, und was war nun wieder?"
"Die sind alle, husch, an mir vorbei."
"Wenn du eine Schnecke fangen solltest, würdest du jetzt das Gleiche sagen."
"Nicht unbedingt, eine Schnecke stinkt nicht so grottig."
"Okay, dir fehlt es an Motivation. So kommen wir hier nicht weiter.", unverrichteter Dinge kletterten sie aus dem Gehege, die Schuhe voller Lamascheiße und setzten ihren Heimweg fort.
"Schade, ich hatte mich schon drauf gefreut, wenn morgen im 'Neustädter Anzeiger' steht: 'Passanten von einem freilaufenden Lama bespuckt'. Das nächste Mal machen wir vorher einen Plan."
"Oder wir nehmen einen dritten Mann mit."
"Aber nicht Zero, die Weichzeichnung.", sie kamen am Ziegengehege vorbei.
"Hecki, das ist es! Als Training für unseren nächsten Coup mit den Lamas lassen wir eine Ziege frei."
"Die stinken ja noch bestialischer."
"Sind aber nicht so schwer. Und überhaupt, es ist kein Bock dabei, dann geht das. Wir müssen uns nur eine Zicke ohne Euter greifen, die hat dann noch kein Lamm. Wir wollen doch keine Familienbande zerreißen.", sie kletterten in das Ziegengehege, um die Lamakacke an ihren Schuhen mit Ziegenmist zu strecken. Gegen die Lamas war das hier ein Kinderspiel. Bald hatten sie eine Jungziege und hoben sie umständlich über den Gehegezaun. Das Gehege war von einem weiteren kleineren Zaun umgeben, der Besucher vom Füttern der Gefangenen abhalten sollte. Sie setzten das verstörte Tier genau in diesen etwa zwei Meter breiten Streifen zwischen Gehege und Vorzaun und ließen es laufen. Dann stiegen sie ins Freie und betrachteten befriedigt ihr Werk. Zur Untermalung dieses Augenblicks zündete sich Hecki eine Zigarette an und sog genüsslich daran. Atsche stellte sich wie ein Arbeiterdenkmal mit beiden Händen in den Hosentaschen neben ihn.
"Siehst du Atsche, haben wir doch noch etwas Gutes getan."
"Ja, ich bin sehr zufrieden mit uns.", die Ziege schien weniger zufrieden. Sie lief in ihrem schmalen Korridor hin und her und mähte und meckerte.
"Warum meckert das Vieh so? Will die wieder rein oder will sie ganz raus?"
"Ich glaube, sie will raus. Aber nichts überstürzen, sie soll sich erstmal an ein bisschen mehr Freiheit gewöhnen. Vielleicht lassen wir sie das nächste Mal ganz raus."
"Ich weiß nicht. Stell dir vor, man würde uns an der Grenze über den ersten Zaun heben und dann im Todesstreifen frei laufen lassen. Das hört sich nicht nach ein 'bisschen mehr Freiheit' an."
"Das hier ist was Anderes. In dem Zaun ist kein Strom und hier wird auch nicht geschossen - und politisch verfolgte Ziegen gibt es schon gar nicht. Das Biest fühlt sich da sauwohl: ein bisschen freier eben.", die beiden einigten sich darauf, mit diesem Abend ihren Frieden zu schließen, und schlenderten weiter.
"Sag mal Hecki. War das jetzt etwas Unerlaubtes?"
"Atsche, erst schlägst du solchen Bockmist vor und dann ..."
"Das war kein Bock."
"... und dann wirst du weich und kommst mir mit dämlichen Gewissensbissen. Wir haben nur das Beste gewollt und getan. Wir haben nichts gestohlen und dieses Zickentier sieht sein Leben jetzt mal aus einer anderen Perspektive."
"Ja genau. Maääh."
"Mäh, ä, ä, ä, mäh."
"Mäh, äääh."
Und die Ziege antwortete aus der Ferne - "Mä,ä,ä,äh."