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10. Abseilen

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Atsche und Seppel hatten zur Abiturzeit im Internat ein Zimmer geteilt. Seppel war von Beginn an ein ganz außergewöhnlicher Junge. Er wechselte täglich Unterwäsche und Oberhemd: ein absolut unüblicher, überflüssiger und daher verpönter Brauch. Zog er sein Hemd aus, knöpfte er es vorher vollständig von oben nach unten auf, während Atsche sich das Hemd über den Kopf zog, ohne einen Knopf mehr, als nötig zu öffnen. Seppel berührte eine Scheibe Brot nur ein einziges Mal mit seinen Händen, wenn er sie sich auf das Frühstückbrett legte. Von da an kamen ausschließlich Messer und Gabel für das Bestreichen, Belegen und Essen des Brotes zum Einsatz. Atsche hegte insgeheim sogar den Verdacht, dass Seppel sich der täglichen Ganzkörperwäsche unterzog. Dafür sprach, dass er sich nach dem Wasserlassen nie die Hände wusch. Das schien im Widerspruch zu seiner pedantischen Grundhaltung zu stehen, und ist nur damit erklärbar, dass er den eigenen Körper für derart steril sauber hielt, dass jede Berührung, wo auch immer, in seinen Augen hygienisch unbedenklich war. Doch damit nicht genug. Während in Atsches Elternhaus einmal in der Woche beim Abendbrot, und nur zum Abendbrot, eine Büchse Fisch redlich unter den Familienangehörigen aufgeteilt wurde ("redlich" bedeutet hier: der Vater mindestens die Hälfte), aß Seppel ohne die geringste Spur eines schlechten Gewissens eine ganze Büchse Fisch ganz allein zum Frühstück auf - eine ganze Büchse Fisch, ganz allein! Nach dem Händewaschen wischte er immer fein säuberlich die Wassertropfen von der Armatur, dachte jetzt schon über eine Rentenzusatzversicherung nach, spielte weder Fußball noch Skat.

Aber vor allem eins konnte Seppel: Organisieren. Es gab nichts, was er nicht besorgen konnte; nichts, was er sich nicht selbst beibrachte, für den seltenen Fall, dass er keine Hilfe von anderer Hand fand. Bat man ihn um ein Gaff zum Hechtangeln, schmiedete er es nicht nur selbst und schweißte den Griff an, sondern empfand es darüber hinaus als seine gebotene Pflicht, es zum Schutz gegen Rost vernickeln zu lassen - VERNICKELN! ... in einem Land, in dem man schon Kopfstände machen musste, um einen Sack Zement oder ein paar rostige Moniereisen zu ergattern.

Seppel wusste Dinge aus völlig nebensächlichen Bereichen, die weiter niemanden juckten, und hielt dies für das Selbstverständlichste der Welt. Ja, Seppel war ein Kopfmensch und das durch und durch. Bei einem Brand in einer Straßenbahn reagierte er vollkommen logisch. Er riss den Nothammer aus der Wand, zertrümmerte damit die Scheibe, zog die Notbremse und half den Insassen hinaus, während alle anderen kopflos Purzelbäume schlugen.

Sie hatten es geschafft: Nach mühsamer Kletterei an der Steilwand standen Seppel, Atsche und Rosana auf dem Gipfel des Falkensteins und genossen den Ausblick. Sie teilten sich ein Stück Schokolade, dass Seppel aus der Tasche zog. Ebenso gut hätte man auf einem gemütlichen Wanderweg hierher gelangen können, aber das war nicht der Sinn ihrer Reise. Weder Rosana noch Atsche waren je geklettert und es gab keinen besseren Kletterführer als Seppel. Er hatte sie in jedem Handgriff, jeder Körperhaltung, in der mentalen Einstellung, in grundlegenden Prinzipien vorab und während des Aufstieges ständig und geduldig unterwiesen. Er war ein Pedant im positiven Sinne und allen voran ein Sicherheitsfanatiker. Seine Gerätschaften waren gepflegt, gut sortiert und auf dem Stand der neuesten Technik. Fiel er beim Klettern einmal ins Seil, wurde es sofort gegen ein neues ausgetauscht. Heute war keiner von ihnen ins Seil gefallen. Man hatte den Eindruck, Seppel könnte sogar einen Rentner in der Wand sicher nach oben bringen. Selbst in einem Kamin, in dem man sich ohne Sicherung nur mit dem Rücken an die eine und den Füßen an die gegenüberliegende Wand gedrückt, zentimeterweise nach oben stemmen musste, verspürte man in seinem Beisein keinerlei Beklemmungen. Bis jetzt.

"So Kinder, nun geht es wieder zurück."

"Den Wanderweg?"

"Wir seilen uns ab."

"Was, da runter?"

"Sonst wäre es kein Abseilen. Rosa, du gehst zuerst.", in aller Ruhe knotete er an Rosanas Körper aus dem Seil eine Art Tragegestell und legte ihr die beiden Enden in die Hand. Sie erhielt eine lange Unterweisung in der Handhabung. Obwohl Atsche wusste, dass er exakt die gleichen Instruktionen selbst bekommen würde, hörte er konzentriert hin, als hinge sein Leben von dem zweimal gesagten ab.

"Rosa, es kann überhaupt nichts passieren. Wenn du eine Pause brauchst, halt einfach beide Seile in der Hand zusammen und wenn du denkst, es kann weiter gehen, gibst du wieder etwas Seil. Du hast alle Zeit der Welt. Alles klar?"

"Ja, ist klar.", sie traten an den Überhang, dahinter war nichts, dreißig Meter freier Fall.

"Ich sichere dich von hier und du gehst langsam rückwärts.", Rosana ging wie ihr befohlen rückwärts in eine Leere, die sie nicht sehen konnte. Zu Atsches Erschrecken ließ sie dabei eine Hand los und winkte ihnen lächelnd zu.

"Bis gleich.", dann ging sie Schritt für Schritt, den Abgrund im Rücken, nach hinten - und hing frei, so wenigstens vermutete Atsche, da er sie nicht mehr sehen konnte. Nach einigen Minuten lockerte sich das Seil in Seppels Hand wieder: das Zeichen, dass Rosana unten angekommen war. Nun war Atsche an der Reihe. Offensichtlich war die Sache doch nicht weiter kompliziert. Er wurde eingeknotet, von Seppel gesichert und bewegte sich rücklings in Richtung des Nichts. Nachdem er die überstehende Felsnase passiert hatte, fanden seine Füße keinen Halt mehr, er rutschte ab und pendelte gegen den Felsen. Keine Panik, Atsche! Du hängst an einem sicheren Seil, sagte er sich. Ja, aber das sichere Seil hielt er in seiner unsicheren Hand. Nur mit dieser Hand regulierte er, ob es weiter ging oder nicht. Etwas lockerlassen, hieß weiter hinab, festhalten hieß Stopp. Würde er die Hand nur ein Stück zu weit aufmachen, würde er im Hinabrauschen die beiden Seile nicht mehr zusammengepresst bekommen, und sich die Innenflächen der Hände verbrennen. Er klammerte sich an der Takelage fest. Nur die Scham vor Rosana gebot es ihn, sich anfangs nur mikrometerweise herabzulassen und erst, als das zu keiner Katastrophe führte, etwas mutiger in einer Geschwindigkeit, die ihn nicht mehr wie ein Hasenfuß dastehen ließ.

Am Abend machten die drei Ausflügler Zwischenstation bei Seppels Eltern. Seppel hatte ihnen seinen Vater als äußert penibel beschrieben, was Atsche mit humorlos übersetzte, dieser aber durchaus nicht war. Ein gesetzter, eloquenter Herr - seine weichen Züge standen im Gegensatz zu Seppels drahtiger Erscheinung. Man hätte ihn für einen Buchhalter oder Uhrmacher gehalten, er war aber Ingenieur, Techniker.

Sie saßen im Wohnzimmer beisammen. Seppels Vaters bot ihnen Cognac an, ein verdammt gutes Zeug, das definitiv nicht auf dieser Seite der Mauer produziert worden war. Er war an Details aus ihrem Leben, an ihren Ansichten und Plänen interessiert. Aus naheliegenden Gründen fragte Seppels Vater vor allem Rosana aus: über die derzeitige Situation in Kolumbien, nach ihrer Meinung zum dort und hier, wie sie sich hier fühlte, was sie über dieses Land dachte, wie sie sich ihre Zukunft vorstellte. Ob aus Höflichkeit oder aus echtem Interesse richtete er immer wieder einmal das Wort an Atsche.

"Atsche. Klaus hat mir erzählt, dass du Jäger bist.", Seppel, mit bürgerlichem Vornamen Klaus, hatte seinen bayrischen Spitznamen wegen seiner Begeisterung für die Bergsteigerei erhalten.

"Ja, aber erst seit zwei Jahren. So viel Erfahrung habe ich noch nicht."

"Weißt du, dass ich auch einmal Jäger war?"

"Nee, das is' ja'n Ding. Davon hat Klaus nie gesprochen."

"Na ja, es war nur kurze Zeit und es ist schon lange her."

"Warum haben Sie aufgehört?"

"Ich konnte toten Rehen nicht in die Augen sehen."

"Ja, die Augen - das ist so eine Sache. Kann ich gut verstehen."

"Soll ich dir von meinem größten Jagderfolg erzählen?"

"Aber unbedingt! Geschichten von älteren Jägern höre ich einfach zu gern. Und man kann auch immer etwas dabei lernen", Atsche rutsche auf seinem Sessel nach vorn und mit dem Cognac-Glas in der Hand lauschte er gespannt wie ein Flitzbogen. Seppels Vater lehnte sich gemütlich zurück und begann:

"Es war ein frostiger Winterabend im Dezember, es lag hoher Schnee, sternenklar und keine Wolke war am Himmel. Am Tag vorher hatte ich mir eine übersichtliche Stelle an einem Berghang ausgesucht und vor einem Baum einen Strohballen positioniert, auf den ich mich am Abend setzen wollte. Erst abends so gegen acht bin ich los. Es war Vollmond und draußen so hell, dass man mitten in der Nacht hätte Zeitung lesen können. Darum dachte ich, es wäre wohl besser, nicht so früh da zu sein. Denn bei der Helligkeit würde sich das Wild unsicher fühlen und erst spät den Schutz des Waldes verlassen. Aber auch das war noch viel zu früh. Um Mitternacht hatte ich immer noch kein einziges Stück Wild gesehen. Und es war bitterkalt. Immer wieder habe ich mit dem Feldstecher die Waldkante abgeglast - nichts, keine Bewegung! Ich dachte mir: Was soll's, man kann nicht immer Glück haben, das ist eben Jagd. Ich also meine Sachen zusammengepackt, bin von meinem Strohballen aufgestanden, habe den Rucksack aufgesetzt und wie zum Abschied nochmal das Glas an die Augen genommen. Und, du ahnst es schon: Am Waldrand im Gegenhang, im Schatten der Randbäume war eine Bewegung gewesen, nur ganz kurz und dann war sie wieder weg. Ich sofort meinen Rucksack runtergeschmissen, mich wieder auf den Strohballen gesetzt und weiter gespannt den Waldrand beobachtet. Und mit einem Mal löst sich ein Schatten vom Waldrand. Ich konnte im Mondschein alles genau erkennen. Es war so viel Platz im ganzen Tal und er hätte sonst wohin laufen können. Und was macht er? Er kommt geradewegs auf mich zu, auf der einen Talseite runter und auf meiner wieder hinauf, genau auf mich zu, in aller Ruhe. Ich also den Drilling in Anschlag gebracht und gewartet, bis er nah genug ist. Ich war total aufgeregt. Jetzt war er schon auf fünfzig Meter ran - und da stoppt er! Er konnte mich nicht gesehen haben: Ich hatte mein Schneehemd an und war perfekt getarnt, eins mit der Natur. Ich behielt den Drilling die ganze Zeit im Anschlag, der Zielstachel stand genau auf Blatt. Aber ich wollte ganz sicher gehen, ich dachte mir: 'Komm Junge, ein paar Schritte noch.', und dann hat er mir auch noch diesen Gefallen getan. Ich drücke ab, BAAUUTZ knallt es - und ich bin vom Rückstoß der Waffe hintenüber vom Strohballen gefallen.", Seppels Vater genehmigte sich genüsslich einen kleinen Schluck Cognac.

"Ja und weiter?", Atsche saß jetzt mit offenem Mund vorn auf der äußersten Kante seines Sessels.

"Ja, ich lag da auf dem Rücken mitten im hohen Schnee. Ich konnte nicht sehen, was passiert war. Ich mich also mühsam wieder aufgerappelt und wie ich aufstehe, sehe ich, was los ist."

"Ja was?"

"Dreißig Meter vor mir im Schnee, da lag er, ... der Hase.", Atsche glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Er hatte einen dicken Hirsch erwartet oder einen alten Keiler, hinter dem Seppels Vater schon lange hinterher war. Atsche wischte sich verwirrt über die Stirn und räusperte sich, um etwas Zeit zu gewinnen.

"Mann, das war eine klasse Geschichte! Herr Stettig, da kann man wirklich nur sagen: Weidmannsheil!", beide nahmen nach Jägersitte ihr Glas von der rechten in die linke Hand und stießen miteinander an.

"Weidmannsdank, Atsche."

Seppels Mutter hatte für Rosana auf der Wohnzimmercouch eine Bettstatt für die Nacht hergerichtet. Atsche schlief auf dem Fußboden. Er hatte das mit der Ausrede, sich schon auf das Biwak vorbereiten zu wollen, zur Bedingung gemacht. Er wollte keine Umstände machen. Überall, wo er zu Besuch war, schlief er auf dem Fußboden, den Schlafsack hatte er immer dabei. Jemand, der keine Umstände machte, war als Gast immer wieder gern gesehen. Er krabbelte in seinen Schlafsack, zog den Reißverschluss hoch und sinnierte ein wenig über den heutigen Tag.

"Rosa?"

"Ja?"

"Warum bist du dieses Mal mitgekommen? Ich habe dich schon oft gefragt, ob du nicht Lust hast, mit mir auf einen Ausflug zu kommen. Immer hattest du etwas Anderes vor, und jedes Mal klang es wie eine Ausrede. Ist es wegen Ricardo?"

"Ich weiß es nicht, nicht genau. Es hat nichts mit dir zu tun. Aber nein, wegen Ricardo ist es nicht. Ich habe mir immer eingebildet, ich hätte noch so viel für das Studium zu tun, denn dafür bin ich hier. Und du weißt, es fällt mir wegen der Sprache nicht ganz so leicht wie euch. Aber dieses Mal? Ja, ich mag die Berge. Wir haben nicht immer an der Küste gewohnt. Wir sind erst vor ein paar Jahren nach Cartagena gezogen. Vorher haben wir in einem kleinen Städtchen hoch in den Bergen gewohnt, das vermisse ich ein wenig."

"Warst du dort auch mal Klettern?"

"Nein, die Berge bei uns sind zwar viel höher als hier, aber sie sind alle rund, also, du weißt, was ich meine, nicht solche Spitzen zum Klettern."

"Würdest du gern wieder in den Bergen wohnen?"

"Wenn man Chemie studiert hat, ist das wohl fast unmöglich. Aber ja, das wäre mein Traum."

"Sag mal, hast du heute beim Klettern keine Angst gehabt?"

"Wieso? Seppel war doch dabei. Was soll mit Seppel passieren?"

"Also, ich meine eher beim Abseilen. Wenn man das Seil loslässt, ist es vorbei."

"Oye flaco, wenn du mit deinem Motorrad auf der Straße fährst, und ein LKW kommt dir entgegen - dann musst du das Lenkrad nur ein paar Zentimeter nach links drehen und du bist tot."

"Warum sollte ich das tun?"

"Warum sollte ich das Seil loslassen?"

"Ja! Warum eigentlich?", manche Sachen können so einfach sein.

"Seppel hat wirklich sehr nette Eltern.", resümierte Rosana.

"Naja, normal."

"Feo, ich kann es nicht mehr hören: normal, normal. Du bist so ein Stoffel! Kannst du denn nicht einmal zugeben, wenn etwas gut war, wenn andere Leute etwas gut gemacht haben?"

"Na okay. Du hast ja recht. Seine Mutter ist wirklich sehr agil und sein Vater - ja, das ist ein echt witziger Vertreter, das hätte ich nicht erwartet."

"Na siehst du, es geht doch, wenn man nur will."

"Na ja, du hast wie immer Recht und ich meine Ruhe. Also dann. Gute Nacht, Mädel.", den Bauch vom exzellenten französischen Cognac wohlig angewärmt, drehte sich Atsche auf die Seite.

"Atchecito."

"Ja?"

"Du hast vorhin so komisch geguckt, als Seppels Vater sein Jagderlebnis erzählt hat. War das eine gute Geschichte?"

"Ha! Ob die gut war? Das ist jetzt keine ernsthafte Frage, oder? Das war die beste Jagdgeschichte, die ich je gehört habe - mit Abstand."

"Ich verstehe nichts davon, aber Hasen sind doch nicht selten, oder?"

"Das ist ja der Knalleffekt. Erst musste ich innerlich über Seppels Vater schmunzeln. Aber ich habe mir das eben nochmal überlegt: Das war nicht nur so dahergeredet. Dieses Schlitzohr hat alles mit Bedacht erzählt und dabei kein Detail dem Zufall überlassen. Ich sage dir: Herr Stettig ist ein ganz ausgekochter Hund. Der wollte mich testen. Und fast hätte er mich auch erwischt."

Der Säbeltänzer

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