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Sie sind wie wir

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Als Johanna das Posthaus verließ, hatte es sich eingetrübt, und der Wind wehte vom Meer her. Sie steckte die Hände in die Ärmel ihrer Jacke, ballte die Fäuste zusammen, ging mit gesenktem Kopf und hatte das Umschlagtuch bis unter das Kinn gezogen. Sie ging zum Hafen hinunter.

Ein Stück vom Strand entfernt standen drei Männer um ein umgedrehtes Boot herum. Sie bearbeiteten den Kiel, hämmerten und schlugen. Johanna blieb in einiger Entfernung stehen und sah zu. Einer der Männer nickte, sie kannte ihn, es war Magnus Eriksson vom Hof Södergården in Byholma. Die anderen waren ihr unbekannt, sie nahm an, dass es die Postzusteller aus Tomta, dem nächsten Dorf südlich von Grisslehamn, waren.

Der Bootskiel bestand aus einer langen, breiten Planke, die mit einer Eisenschiene beschlagen war. Johanna hatte solche Boote schon gesehen, sie wusste, dass es ein Eisboot war. Sie brachten es wohl für den Winter in Ordnung.

»Habt ihr etwas gehört?«, fragte Johanna.

»Nein, nichts Neues«, antwortete Magnus vom Hof Södergården.

»Ja, das war ja dein Vater«, murmelte einer der Männer aus Tomta.

»Er war ein tüchtiger Mann«, sagte der andere.

Sie drehten das Boot um. Es hatte niedrige Freiborde, der Steven war mit Blech verstärkt.

Er war ein tüchtiger Mann, hatte der eine gesagt, aber Johanna machte sich nicht die Mühe, ihm zu widersprechen. Die Schweine befanden sich noch draußen in einem Pferch, die alte Sau und drei Ferkel. Es war Johannas Aufgabe, sie bis zur Schlachtung zu versorgen, zuzusehen, dass sie zu fressen hatten; das bedeutete, Wasser in den Trog zu schütten, wenn es nicht regnete, und Futter im Spätherbst, wenn sie sich nicht mehr selbst von dem ernähren konnten, was sie aus der Erde wühlten.

Jetzt harkte sie unter den Eichen unten an der Heuwiese. Sie sammelte Eicheln und Eichenblätter in Haufen zusammen, füllte sie in einen Spankorb und wenn der Korb halbvoll war, trug sie ihn nach Hause. Der Boden war lehmig, ihre Schuhe wurden nass, die langen braunen Strickstrümpfe wärmten kaum, wenn sie feucht waren.

Sie leerte den Korb in der Scheune aus; dort gab es eine Bütte mit einem Holzdeckel für das Schweinefutter: Laub, Kartoffelschalen, Erbsenschoten, Dinge, die übrig blieben und die trotzdem verwendet werden mussten.

Als der letzte Korb ausgeleert war, legte sie den Deckel auf und blieb einen Augenblick stehen, um sich auszuruhen. Da hörte sie, wie sich jemand hinter ihr in der Dunkelheit bewegte. Sie wandte sich um, erkannte den Geruch und wusste, dass es Filip war. Sie trat einen Schritt zurück, er kam auf sie zu und packte sie am Handgelenk, war ganz nahe, er roch ungewaschen, und der Branntweingestank schlug ihr entgegen.

Sie zog und zerrte, und es gelang ihr, sich loszureißen. Sie machte schnell ein paar Schritte rückwärts zur Tür hin, drehte sich um, lief über den Hofplatz und machte nicht eher Halt, als bis sie die Haustür erreicht hatte.

Den Rest des Tages versuchte sie, ihm auszuweichen.

Abends gab es gebratenen Salzhering und Roggenbrot, Johanna und ihr Bruder tranken Milch, die Älteren tranken Wasser, die Brüder ihrer Mutter einige Schnäpse, und sogar die Großmutter nippte etwas am Branntwein. Johanna spürte wieder den ekelhaften Geruch, den Filip, der ihr gegenübersaß, verbreitete. Der Tisch war schmal und lang, und sie waren nur einen guten Meter voneinander getrennt. Er sah sie an, glotzte, und obwohl sie den Blick auf den Tisch geheftet hatte, wusste sie, wie seine dunkelbraunen, schadhaften Zähne aussahen, wenn er damit die Essensreste einsaugte, diesem Geräusch konnte sie nicht entgehen, auch wenn sie nicht hinsah.

Ruben saß auf derselben Seite des Tisches wie Johanna. Der Platz rechts am Kopfende war leer, das war Vaters Platz. Johanna blickte mehrere Male zum Platz des Vaters hin, und Filip beobachtete sie dabei.

»Er kommt nicht mehr«, sagte er.

»Das weißt du doch nicht.«

Johannas Antwort kam schnell, sie sprach mit lauter, scharfer Stimme, betonte jedes Wort.

»Einbildung«, murmelte Filip.

Mehr wurde diesmal nicht gesagt. Johanna fühlte einen Hass in sich aufsteigen, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte. Sie blickte hinunter auf ihren Teller und wusste, dass Filip grinste. Alle saßen stumm da. Nach einer Weile brach Ruben das Schweigen.

»Wir werden eines der Ferkel schon jetzt schlachten«, sagte er.

Johanna warf einen verstohlenen Blick auf Lars. Sie wusste, dass ihr kleiner Bruder das Schlachten nicht mochte. Im letzten Jahr hatte er sich gedrückt, aber das hatte nur Johanna bemerkt, er war noch so klein gewesen, dass niemand seine Hilfe verlangt hatte. Jetzt sah Johanna, dass Lars dem Gespräch am Tisch nicht weiter zuhören wollte, er sank ein wenig in sich zusammen, wand sich so, als ob er aufstehen und gehen wollte, aber das hätte sich nicht geschickt.

Vielleicht hatten die Onkel auch Lars‘ abweisenden Ausdruck bemerkt. Das war provozierend, der Junge sollte natürlich wie alle anderen bei der Arbeit helfen. Er war noch ein Kind, aber etwas konnte er doch schon tun, und er durfte am Tisch keine Grimassen ziehen, wenn die Erwachsenen über die notwendigen Verrichtungen auf dem Hof sprachen, die Alltagsarbeiten, die Essen auf den Tisch brachten.

»Es wird Zeit, dass Lars mithilft«, sagte Filip. »Er kann sich um das Blut kümmern. Dafür braucht man nur eine sichere Hand, das ist nicht schwer.«

»Ja, gut«, sagte Ruben. »Morgen Vormittag geht es los, nicht wahr, Lars?«

Er blickte Lars an, der nicht antwortete, sondern niedergeschlagen und etwas verwirrt aussah.

»Antworte deinem Onkel«, sagte Maria.

»Morgen Vormittag«, wiederholte Ruben.

Der Morgen war grau und diesig, aber es war windstill, so wie es oft im November ist, wenn der Nebel vom Meer kam.

Johanna war diesmal nicht als Erste aufgestanden. Als sie hinausging, sah sie, dass Lars schon draußen auf dem Hofplatz war. Er kniete dort und war mit irgendetwas beschäftigt; als Johanna kam, hörte er auf, erhob sich und verschwand im Haus.

Sie warteten, bis es hell wurde, gaben dem Pferd Heu, reparierten Geräte, Johanna melkte die beiden Kühe, sie frühstückten. Dann gingen die beiden Brüder ihrer Mutter zusammen mit Lars hinunter zum Schweinepferch. Der Junge bat, eine andere Arbeit verrichten zu dürfen, aber niemand hörte auf ihn, warum sollte er nicht die Arbeit ausführen, die ihm zugeteilt worden war?

Sie wählten das größte Ferkel aus, jagten es in eine Ecke des Pferches, was eine ganze Weile dauerte, Filip fiel hin, schlug sich den Ellbogen auf, wurde wütend, schrie Lars an zuzupacken. Als sie das Ferkel gefangen hatten, schleiften sie es nach vorne, hielten es am Schwanz und an den Ohren fest.

Die Schlachtbank war im Pferch aufgestellt. Ruben drückte den Kopf des Ferkels hinunter, Filip reichte Lars den Eimer, hob die Axt und schlug sie dem Ferkel hart auf den Kopf. Das Tier zuckte, zitterte, blieb still liegen. Filip schnitt ihm die Kehle durch, befahl Lars, die Schüssel darunter zu halten.

Lars stand wie versteinert da, das Blut floss auf die Erde. Filip schrie Lars an, er fluchte und brüllte. Lars weinte, aber er rührte sich nicht. Da schlug Filip ihm mit der Hand ins Gesicht. Der Junge fiel um, Filip nahm die Holzschale, drückte sie unter den Kopf des Ferkels und ließ das Blut, das noch übrig war, hineinfließen, rührte gleichzeitig mit einem Holzstück darin herum. Der Boden war klebrig und dunkelrot, es war viel verloren gegangen.

Lars lag noch auf dem Boden und schluchzte, die Onkel kümmerten sich nicht um ihn. Als das Blut versiegt war, standen sie noch da, Filip rührte die ganze Zeit über, ließ die letzten Tropfen in die Schale tropfen.

Dann hoben sie das Ferkel auf einen Karren und zogen ihn in die Scheune, wo das erhitzte Wasser wartete. Jetzt sollte das Ferkel abgebrüht werden. Das Zerlegen konnte dann bis zum nächsten Tag warten.

Sie arbeiteten schweigend und schnell mit dem kochend heißen Wasser, gossen es über das behaarte Ferkel, schabten es mit scharfen Holzstücken ab, entfernten die Haare und die äußere Haut, legten die glatte Schwarte frei. Es kümmerte sie nicht, dass Lars verschwunden war.

Nach einer guten Stunde spülten sich die beiden Männer in der Wassertonne an der Hausecke ab. Dann gönnten sie sich einen Schluck, den zweiten an diesem Tag. Sie unterhielten sich über das Ferkel, darüber, was man davon behalten wollte und was sofort frisch an das Posthaus verkauft werden sollte.

Johanna war bereit, ihrer Mutter zu helfen. Sie hatte schon öfters Tiere ausgeweidet, im letzten Jahr hatte sie sich dabei in den Finger geschnitten, die Wunde war nur langsam verheilt. Sie hatte noch eine Narbe am Zeigefinger der linken Hand.

Als sie um die Mittagszeit auf den Hofplatz hinausging, blieb sie bei den Büschen stehen, wo Lars runde Steine vom Strand nebeneinander gelegt hatte. Johanna sah, dass er etwas geschrieben hatte. Sie beugte sich nieder, las Buchstaben und Wörter: »SIE SIND WIE WIR«, stand dort.

Vier kurze Wörter, mit Kohle auf die abgeschliffenen Steinflächen geschrieben, eine unregelmäßige Reihe, eine Botschaft.

Johanna überlegte, wo Lars sein könnte, sie wollte ihn fragen, was er mit diesen Wörtern meinte. Sie suchte ihn drinnen im Haus, fragte Maria, aber auch sie wusste nicht, wo der Junge war.

Spät am Abend, als es dunkel war, kam Lars nach Hause. Sie hatten ihn im Wald und am Strand gesucht. Sie hatten sogar in der Nachbarschaft gefragt.

Als er kam, sagte er nichts. Johanna fragte, aber er wollte nicht antworten. Unter Schweigen aßen sie eine verspätete Abendmahlzeit. Ehe sie schlafen gingen, trat Johanna wie immer noch einmal auf den Hof hinaus; sie wartete dort auf Lars, und als er kam, fragte sie ihn, was die Wörter bedeuteten.

»Sie sind doch genau wie wir«, flüsterte er.

Jetzt verstand Johanna, was er meinte. Die Art, wie er flüsternd die Wörter betonte, führte dazu, dass sie verstand.

Das brennende Meer

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