Читать книгу Das brennende Meer - Erik Eriksson - Страница 9
Wörter über das Meer
ОглавлениеDer Morgen war kalt. Johanna erwachte, ehe es richtig hell geworden war, sie stand auf und fachte das Herdfeuer an, begann die Dinge hervorzuholen, die zum Frühstück gehörten, die Schalen für die Milchsuppe, Brot und Salz.
Als sie nach Grisslehamn zum Posthaus aufbrach, wurde es endlich hell. Sie hatte ihre Mutter gefragt, und sie waren sich einig: Es war am besten, wenn Johanna allein ging, sie hatte Birgitta kennengelernt und war gut behandelt worden. Jetzt galt es, mehr in Erfahrung zu bringen.
Im Waschhaus war niemand zu sehen. Johanna klopfte; als sie keine Antwort erhielt, öffnete sie die Tür, aber es war niemand dort.
Dann ging sie zu dem großen Haus hinüber; vielleicht gab es dort einen kleinen Seiteneingang. Sie suchte, fand jedoch keine Tür. Sie kehrte um, zögerte, sollte sie es wagen, am Haupteingang zu klopfen?
Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis geöffnet wurde. Birgitta stand da, lächelte und bedeutete Johanna hereinzukommen.
»Komm nur, hab keine Angst«, rief sie, »hier den Weg in die Küche, du bist eingeladen, komm nur.«
Johanna trat ein, Birgitta gab ihr einen leichten Klaps auf die Wange, das war ungewohnt für Johanna, denn zuhause berührte man einander nicht auf diese Art.
Sie gingen durch eine weitere Tür nach links und gelangten in die Küche. Doch dies war eine andere Art von Küche als die, die Johanna von den alten Höfen in Byholma her kannte. Dort aß man in der Küche, kam zusammen, arbeitete und schlief, weil es dort warm war. Diese Küche jedoch diente nur der Zubereitung von Speisen. Das Posthaus verfügte über ein besonderes Speisezimmer, oft übernachteten auch Reisende im Haus. Viele Leute wurden hier verköstigt; dafür sorgten die beiden Hausmägde. Johanna hatte Birgitta ja schon kennen gelernt, jetzt traf sie auch Laura Persdotter, die ältere der beiden Mägde.
»Ich habe schon von dir gehört«, sagte Laura, während sie Johanna die Hand hinstreckte.
Johanna knickste und wusste nicht, was sie sagen sollte. Laura war im selben Alter wie Johannas Mutter, sie trug eine hellblaue Bluse und eine dunkelblaue Schürze über dem langen grauen Rock. Sie lächelte nicht, als sie Johanna begrüßte, sah ihr jedoch in die Augen, hielt ihre Hand einen Augenblick fest.
»Herzlich willkommen«, sagte sie und klang jetzt etwas freundlicher.
»Danke«, war alles, was Johanna herausbrachte.
»Wie alt bist du?«, fragte Laura.
»Nach Neujahr werde ich vierzehn«, antwortete Johanna.
»Für dein Alter bist du recht groß.«
Johanna lächelte, knickste etwas, sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
»Du kannst mit mir hinauf zur Telegrafenstation gehen«, sagte Birgitta, »ich muss nachher mit dem Essen für die beiden Telegrafisten dorthin, dann kannst du fragen, ob weitere Nachrichten über das Postboot, die Männer und deinen Vater eingetroffen sind.«
»Irgendetwas haben sie bestimmt erfahren«, sagte Laura.
»Es ist ein klarer Morgen, die Sicht scheint gut zu sein«, sagte Birgitta.
»Schaut nach den Kachelöfen, ehe ihr geht«, sagte Laura. Johanna begleitete Birgitta hinaus zum Holzschuppen, der unterhalb des Waschhauses lag. Das zersägte Birkenholz war schon gespalten und geschichtet, sie nahmen jeder eine Last Holz und gingen in das große Haus zurück. Sie begannen im Kontorraum. Der Postmeister saß hinter seinem Schreibtisch, ein anderer Mann saß ihm gegenüber auf einem herangezogenen Stuhl, sie unterhielten sich über irgendetwas und beachteten die Holz bringenden Dienerinnen nicht; später erfuhr Johanna, dass der Besucher der Postschaffner Anders Nyström war.
Johanna stand ganz still da. Sie betrachtete den Kachelofen, die merkwürdigen grün schimmernden Fliesen, die in allen Farben schillernde Spiegelfläche, die ihr eigenes Gesicht verzerrt wiedergab, die Möbel im Raum, das Fenster. Sie berührte die glatte Fläche mit den Fingerspitzen, es fühlte sich an wie Eis oder Glas, jedoch glatter und gleichzeitig etwas unwirklich.
Der Postmeister hob den Blick und bemerkte die Frauen. Er lächelte Johanna zu, nickte, ohne etwas zu sagen, und setzte seine Unterhaltung mit dem Mann am Schreibtisch fort.
Sie holten noch mehr Holz, trugen es hinein zu den übrigen Kachelöfen im Haus, in den Schlafzimmern, im Esszimmer, im Raum, in dem die drei Kinder des Hauses mit ihrer Lehrerin saßen. Die Kinder betrachteten Johanna neugierig, die sowohl vor der Lehrerin als auch vor den Kindern einen Knicks gemacht hatte. Es waren zwei Mädchen von vielleicht neun oder zehn Jahren und ein Junge von etwa sieben. Er lachte auf, als Johanna knickste, und sie merkte, dass sie etwas falsch gemacht hatte.
»Kinder, wir machen jetzt weiter«, sagte die Lehrerin.
Ihre Schüler gehorchten sofort; sie widmeten sich wieder ihren Aufgaben. Johanna konnte weißes Papier und Tintenfässer erkennen, sie hörte das kratzende Geräusch, als drei Gänsefedern langsam schwere Buchstaben formten, Schnörkel und Grundstriche. Sie meinte, den Geruch von Tinte, Kenntnissen und Einsichten spüren zu können, es war eine andere Welt als ihre eigene.
Hinter der Gartentür bogen sie nach links ab, folgten dem Pfad zwischen den Ahornbäumen nach oben in den Wald, erhaschten einen Blick auf das Meer, gingen den kurzen Sandstrand entlang, ehe die Steigung zum Aussichtsberg begann.
Das letzte Stück war richtig steil. Und dort oben auf einem kleinen Felsen lag die Telegrafenstation. Johanna erblickte ein seltsames Gebäude. Eine kleine Hütte mit vier groben Masten, die aus dem Dach ragten; sie waren hoch, mit Seilen nach allen Richtungen hin befestigt. Oben zwischen den Masten befanden sich Reihen aus großen viereckigen Platten, und von diesen Platten aus verliefen dünne Drähte durch Löcher im Dach der Hütte nach unten.
Drinnen gab es ein sehr kleines Fenster, der Raum war nur notdürftig erhellt. Johanna sah, dass dort ein Mann auf einem Stuhl saß. Er hatte sein Gesicht gegen etwas gepresst, das aus der Wand ragte, gegen ein blankes Rohr, und er hielt ein Auge gegen einen Ring gedrückt, der sich am Ende des Rohrs befand.
»Willkommen«, murmelte der Mann, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.
»Ich habe Johanna Nygren mitgebracht«, sagte Birgitta. »Sie ist bei uns zu Besuch.«
»Willkommen, Johanna«, sagte der Mann.
»Danke.«
»Ich heiße Sven Niklasson.«
»Kannst du etwas erkennen?«, fragte Birgitta.
»Die Sicht ist ausgezeichnet«, antwortete Sven. »Ich habe heute schon einige Mitteilungen empfangen, und es kommen sicher noch mehr.«
»Johannas Vater war mit auf dem Postboot, das in den Sturm geraten ist«, sagte Birgitta.
»Hmm«, murmelte Sven.
Birgitta begann, die mitgebrachten Speisen aus dem Korb zu nehmen. Sie stellte sie auf einen kleinen Wandtisch im Raum.
»Möchtest du einmal gucken?«, fragte Sven.
Johanna antwortete nicht, da sie glaubte, Sven spreche mit Birgitta. Als Birgitta nicht reagierte, war sie zunächst erstaunt und dann etwas unschlüssig.
»Komm«, sagte Sven und winkte mit der Hand in Johannas Richtung. Sie ging zu Sven. Er fasste sie an der Schulter, rutschte etwas von dem Rohr weg, das aus der Wand ragte, schob sie näher heran und zeigte darauf.
»Schau in das Fernrohr«, sagte er.
Johanna setzte sich auf den Stuhl, streckte sich etwas, um auf gleicher Höhe mit dem Fernrohr zu sein, drückte ihr Auge vorsichtig gegen den Ring, sah etwas Verschwommenes, Flimmerndes, Unverständliches.
»Was siehst du?«, fragte Sven.
»Ich weiß nicht.«
»Warte einen Augenblick, es wird langsam deutlicher, es dauert immer eine Weile, wenn man nicht daran gewöhnt ist.«
Johanna wartete, sah das, was undeutlich gewesen war, jetzt etwas weniger verschwommen. Die Konturen wurden deutlicher, ein Bild trat hervor, kleine Vierecke in Reihen übereinander, verschwommen, um sie herum zitterte es, aber sie sah auf jeden Fall etwas.
»Wie viele Vierecke kannst du erkennen?«, fragte Sven.
Johanna zählte langsam, zählte noch einmal.
»Fünf Stück«, sagte sie.
»Und wie sind sie zueinander angeordnet?«
»Rechts stehen zwei übereinander, unten in der Mitte ist eines, und zwei mit einem kleinen Loch in der Mitte befinden sich auf der linken Seite.«
»Ausgezeichnet«, sagte Sven. »Du hast deine erste Beobachtung gemacht, mein Mädchen, du kannst dich jetzt Signalistin nennen, wenn du willst.«
Er schob Johanna beiseite, nahm ihren Platz ein und saß eine Weile schweigend da.
»Ja, es stimmt, was du gesagt hast«, sagte er dann, »jetzt werde ich denen auf Signilskär mitteilen, dass wir ihre Nachricht erhalten haben.«
Sven verließ seinen Platz am Fernrohr, ging quer durch den Raum zu einer Stelle, an der ein ganzes Bündel Drähte aus den kleinen Löchern im Dach kam. Die Drähte waren an Tasten befestigt, Holzklappen und Rahmen, ganz hinten befand sich ein großer eiserner Griff.
Sven drückte langsam einige der Tasten nach unten, dann noch ein paar. Als er die Einstellungen beendet hatte, drückte er den Griff mit dem Fuß hinunter. Die Tasten wurden alle gleichzeitig gestreckt, von oben kamen Geräusche, die sich anhörten, als ob ein Bündel Holzstücke gegeneinander geschlagen wurde, schnell, dann war es wieder still.
»Jetzt wissen sie, dass wir ihre Nachricht erhalten haben«, sagte Sven, »ich habe dieselbe Botschaft zurückgesendet, das macht man so. Jetzt werden wir sehen, ob noch mehr kommt.«
Er ging wieder zurück zu seinem Fernrohr, drückte das Auge gegen den Ring, atmete durch die Nase. Johanna konnte seine langsamen, zischenden Atemzüge hören.
»Das kann dauern,« murmelte Sven. »Die Signalarbeit besteht hauptsächlich aus Warten, Stunde um Stunde.«
»Wie lange kannst du denn hier sitzen, ohne dass dir die Augen weh tun?«, wollte Johanna wissen.
»Wir sind hier zwei Leute, die einander abwechseln. Harald kommt jeden Augenblick zurück, er ist nur für einen Moment nach draußen gegangen.«
»Weißt du etwas über das Postboot?«, fragte Johanna. »Sie haben es geborgen, aber Menschen waren nicht an Bord, das ist alles, was ich weiß. Die Tasche war noch da, die Post war feucht, aber unbeschädigt.«
»Vater hat sich in Sicherheit gebracht«, sagte Johanna voller Überzeugung.
»Lass es uns hoffen.«
Sven sah müde aus oder eher betrübt.
Als sie zurückgingen, war es windig, die niedrigen Wipfel der Kiefern schwankten hin und her.
Johanna wandte sich um und betrachtete das Telegrafenhäuschen. Jetzt sah sie auch das Fernrohr, das herausragte und in eine Holzverkleidung eingebaut war. Es war erstaunlich, wie weit man mit dem Fernrohr sehen konnte. Die Telegrafenstation auf Signilskär war von hier aus mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen, aber mit Hilfe des Fernrohrs konnte man die Zeichen auf der Signaltafel dort deuten.
Sie gingen schweigend nebeneinander her. Johanna hatte noch die kleinen, zitternden Vierecke vor Augen, die sie durch das Fernrohr gesehen hatte.
Es waren Zeichen, und sie erzählten etwas, was nur der Eingeweihte verstehen konnte; es erinnerte an Wörter in einem Brief, allerdings auf eine andere Weise, diese Wörter flogen über das Meer wie nichts, so als ob es keine Entfernung gäbe. Es war schwindelerregend, es war kaum zu verstehen, obwohl sie es mit eigenen Augen gesehen hatte.
Als sie ins Posthaus zurückgekommen waren, setzten sie sich wieder in die Küche.
»Du hast gesagt, dass du bald vierzehn wirst«, sagte Laura.
»Ja, zwei Wochen nach Neujahr«, antwortete Johanna.
»Wir brauchen im Posthaus eine Kleinmagd, wäre das etwas für dich?«
Johanna wusste nicht, was sie antworten sollte, Arbeit, richtige Arbeit, vielleicht bezahlte, eigenes Geld. Es kam viel auf einmal auf sie eingestürmt.