Читать книгу Das brennende Meer - Erik Eriksson - Страница 15

Das Schweigen

Оглавление

Eines Tages kam Johannas Mutter ins Posthaus. Sie hatte etwas Wichtiges zu berichten. Von der Kirche war eine Nachricht gekommen, der Pastor wollte etwas über die vier Männer sagen, die seit dem vergangenen Herbst vermisst wurden.

»Am kommenden Sonntag sollen wir zusammen in die Kirche fahren«, sagte Maria. »Ich möchte, dass du rechtzeitig nach Hause kommst.«

Maria kehrte zurück nach Byholma, Johanna ging wieder an ihre Arbeit. Sie fürchtete sich vor dem, was der Pastor zu sagen hatte.

Sie fuhren gegen acht Uhr morgens los, es war der erste Sonntag im Mai. Ruben hatte das Pferd vor den Wagen gespannt, er saß zusammen mit Filip auf dem Kutschbock. Johanna saß mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder hinten, wo etwas Heu ausgelegt worden war. Sie hatte ihren Arm um Lars gelegt, den sie lange nicht gesehen hatte, und versuchte, möglichst weit entfernt von Filip zu sitzen.

Sie fuhren ein Stück, stiegen bei der Steigung, die zu dem Meilenstein hinaufführte und auf dem stand, dass es noch elf Meilen bis Stockholm waren, wieder ab. Dann kamen sie nach Tomta und erblickten die eisfreie Bucht und die Höfe auf der anderen Seite, kamen an der Fähre bei Norrfjäll vorbei, passierten Byle und Edeby. Lars war im Heu eingeschlafen, Johanna beobachtete die Wagen der anderen Kirchgänger, die in dieselbe Richtung unterwegs waren.

Sie ließen Pferd und Wagen bei den anderen Wagen neben dem Glockenturm stehen. Das Pferd erhielt ein wenig Heu in einem Futtersack. Es war halb elf.

Als sie die alte Steinkirche betraten, war diese schon zur Hälfte mit Gemeindemitgliedern gefüllt. Sie fanden auf der schmalen Empore auf der rechten Seite Platz, die gegenüberliegende Empore war schon voll. Das kleine Gebäude fasste vielleicht fünfzig Personen, jetzt füllten sich die Bänke, bevor der Pastor auf die Kanzel stieg.

Nach Psalmen, Bibelsprüchen und Betrachtungen kam der Pastor auf das zu sprechen, worauf die Familie Nygren und drei andere Familien aus Byholma gewartet und wovor sie sich gefürchtet hatten. Nur Johanna dachte, dass der Pastor eigentlich nichts wirklich wusste, er sagte nur das, was er glaubte.

»Vier unserer Gemeindemitglieder haben uns verlassen«, begann der Pastor. »Alle sind achtbare Männer aus Byholma. Sie sind während eines Sturmes auf dem Meer verschwunden, und sie sind zweifellos im Meer versunken und dort umgekommen. Nur der Allmächtige weiß, wo sie jetzt ruhen. Die Verunglückten waren, wie ihr wisst, folgende Nachbarn, Väter und Ehemänner.« Der Pastor zählte die vier Namen auf, Johanna kannte sie gut, es waren ihre Nachbarn in Byholma. Auch der Name ihres Vaters wurde genannt. Aber Johanna wusste, dass sich der Pastor irrte. Ihr Vater würde zurückkehren, er war vielleicht von einem fremden Schiff gerettet worden und wartete nun in einem anderen Land.

Als sie die Kirche verließen, gaben mehrere Leute Johannas Mutter die Hand und murmelten etwas, und sie murmelte ebenfalls etwas. Auch Johanna wurden einige Hände entgegengestreckt, einer der mitfühlenden Kirchgänger war Karl David Larsson vom Hofe Norrgården aus ihrem eigenen Dorf. Er war noch nicht ganz zwanzig Jahre alt, sie kannte ihn als hilfsbereiten jungen Mann, jetzt lächelte er sie freundlich an und drückte ihr lange die Hand.

Johanna teilte die Trauer nicht, sie war sich sicher, aber sie erzählte niemandem, was sie wusste und fühlte. Auf dem Rückweg nach Byholma weinte ihre Mutter leise vor sich hin. Auch sie behielt das, was sie dachte, für sich.

Johanna blieb nach dem Kirchgang noch eine Weile zuhause in Nygården. Ihre Mutter freute sich darüber, sie saßen zusammen und unterhielten sich, meist über die täglichen Arbeiten. Sie sprachen auch über Lars, und Johanna gab zu, dass sie sich Sorgen machte.

Nach der letzten Schweineschlachtung war Lars zwei Tage lang verschwunden gewesen, vor kurzem war er wieder weggelaufen. Er weigerte sich zu sagen, wo er sich aufgehalten hatte. Maria hatte den Jungen gezüchtigt, um ihn zu zwingen, die Wahrheit zu sagen, aber er hatte geschwiegen.

Später am Tag war Johanna eine Weile mit Lars allein. Sie fragte, ob er erzählen wolle, wo er gewesen sei. Sie flüsterte ihre Frage, damit kein anderer sie hören konnte.

»Schreib es auf«, flüsterte sie.

Sie gingen zusammen hinaus, gaben vor, etwas draußen bei den Weiden zu tun zu haben, blieben an einem Holzstapel stehen, der an einem Abhang stand, wo das Schmelzwasser Grus und Sand geglättet hatte; Johanna suchte einen spitzen Zweig, brach ein kurzes Stück ab, schrieb einige Wörter in den Sand: BEI WEM?

Dann gab sie Lars den Zweig, trat beiseite, um ihn ungestört schreiben zu lassen. Er schrieb, ging weg, Johanna kam näher und las: BEIM SCHREI.

Sie tauschten wieder die Plätze, Johanna schrieb: WESSEN SCHREI?

Lars schrieb: LEBEN SCHREI.

Mehr schrieb er nicht, sie gingen schweigend zurück. Johanna glaubte, dass sie verstanden hatte, aber sie war sich nicht sicher. Ehe sie ins Haus gingen, nahm sie die Hand ihres Bruders.

»Komm zu mir, wenn du Hilfe brauchst«, sagte sie. »Du kannst bei mir bleiben, wir müssen zusammenhalten.«

Lars antwortete nicht, aber Johanna wusste, dass er verstanden hatte. Sie gingen ins Haus hinein. Lars setzte sich neben den Kamin, Maria stellte ihm warmen Saft hin.

Das Schweigen hielt weiter an. Lars antwortete nicht mehr, wenn er angesprochen wurde. Man merkte, dass er alles verstand, was gesagt wurde, aber er weigerte sich zu reden, und Johanna nahm an, dass das seine Art war, sich zurückzuziehen, sich unerreichbar zu machen für all das Böse, das ihm widerfahren war.

Im Laufe des Frühjahrs ging Johanna mehrere Male mit Lars in den Wald. Sie schrieben Wörter in den Sand, immer einfache Wörter, schwer zu deuten. Ehe sie zurückgingen, wischten sie die Spuren ihres stummen Zwiegesprächs aus.

Zwischen Maria und Johanna bestand noch immer etwas von der alten Vertrautheit, obwohl Marias Trauer über den verschwundenen Nils Johanna bedrückte. Deshalb sprachen sie lieber über andere Dinge. Bei mehreren Gelegenheiten hatte Maria den Nachbarssohn Karl David erwähnt.

»Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, lässt er dich grüßen«, sagte sie. »Ich glaube, er mag dich.«

Johanna antwortete nicht, und das hatte Maria auch nicht erwartet.

Ende Mai trafen die Schwalben ein. Sie bauten ihre Nester unter den ausladenden Dächern des Posthaus-Stalles, der Sommer näherte sich.

Schiffe legten im Hafen an. Ein Mann aus Signilskär erzählte von dem Unglück mit dem Postboot im vergangenen Herbst, als die vier Männer umgekommen waren. Einige Fischer hatten gesehen, wie die Toten an einer Landzunge vorbeigeschwemmt worden waren, aber die Wellen waren hoch gewesen, und die Dunkelheit war hereingebrochen, sodass niemand die Leichen hatte bergen können. Am nächsten Tag waren sie verschwunden, waren vom Wind hinaus aufs Meer getrieben worden.

Alle in Grisslehamn, die diesen Bericht hörten, hatten es wohl schon gewusst, jetzt aber war es ganz sicher. Alle wussten auch, dass diejenige, die die Hoffnung aufrecht erhalten hatte, das Recht hatte, sie zu behalten, und deshalb drang diese Bestätigung nicht bis zu Johanna durch.

In den folgenden Jahren arbeitete Johanna weiter im Posthaus. Gelegentlich hielt sie sich wie früher ein paar Tage auf dem Hof auf. Die Brüder ihrer Mutter arbeiteten, wenn sie Lust hatten, die Ernte fiel unterschiedlich aus, aber Schnaps gab es immer. Großmutter Magdalena war 1804 gestorben, das Schweigen um Lars hatte sich verdichtet.

Johanna kannte sich immer besser mit dem Telegrafen aus, es kam sogar vor, dass sie sich gegen alle Vorschriften hin und wieder für Albert um die Station kümmerte, wenn die anderen Burschen frei hatten.

Draußen in Europa wütete der Krieg. Wenige Länder nur hielten sich heraus, junge Männer starben zu Tausenden auf den Schlachtfeldern, Städte wurden zerstört, Menschen in die Flucht getrieben. Napoleons Armeen waren zu Land siegreich, England aber beherrschte die Meere. Die Misshelligkeiten zwischen Schweden und England hörten auf und wurden durch Zusammenarbeit ersetzt. Die Abneigung Gustav IV. Adolfs gegenüber Napoleon wurde immer größer, aber es gab viele Schweden, die den französischen Herrscher als den Friedensfürsten einer neuen Zeit der Freiheit betrachteten.

Die Könige und Fürsten Europas ergriffen für und gegen Napoleon Partei. Die Russen wechselten die Seiten und bedrohten Schweden. Das wunderte die Leute an der Küste Roslagens nicht, sie wussten seit Alters her, wo ihr Feind saß.

Eines Tages wurde dann auch Grisslehamn vom großen europäischen Krieg getroffen.

Das brennende Meer

Подняться наверх