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Wie in einem gläsernen Meer

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Johanna meinte, in den Tagen nach dem Besuch der beiden Offiziere eine gewisse Missstimmung im Posthaus zu bemerken, eine zögerliche Vorsicht, die man spüren konnte, als der Postmeister Abschied von seinen beiden Töchtern nahm. Er schien ängstlich und bekümmert zu sein, so als ob die beiden zu einer langen Auslandsreise aufbrechen würden und nicht nur, wie jetzt, zu einer kurzen Fahrt zu Freunden nach Ortala, von wo aus sie am selben Abend zurückkommen würden.

Johanna bildete sich ein, dass es die Stimmung war, die bei dem Abendessen mit den Offizieren aufgekommen war, die immer noch anhielt, das Gespräch über den Krieg, die Bedrohung aus Russland. Der Himmel war immer noch leuchtend blau, die Sonne strahlte, die Tage waren warm. Trotzdem lag eine gedrückte Stimmung über Grisslehamn, in dieser letzten Juliwoche des Jahres 1807.

Eines Tages traf Johanna den Künstler Per Johan Malmgren wieder. Sie kam vom Hafen und trug einen Korb, der zur Hälfte mit Fischen gefüllt war, fünf mittelgroße Dorsche, die sie von einem gerade eingelaufenen Boot geholt hatte. Sie war eben zwischen zwei Schuppen stehen geblieben und hatte den Korb für einen Augenblick abgestellt, als sie aufblickte und Malmgren direkt in die Augen sah. Er stand vor ihr, lächelte über das ganze Gesicht, streckte eine Hand aus.

»Ich möchte Ihnen gerne helfen, mein Fräulein, wenn Sie erlauben«, sagte er und legte die Hand auf den Korbrand.

»Ja, danke«, antwortete Johanna und überließ ihm den Korb.

»Vielleicht könnten sie stattdessen meine Tasche und meine Papiere tragen?«

»Ja, das ist ein guter Tausch, warum nicht.«

Johanna hob die kleine Tasche und die zusammengerollten Papiere auf, die Malmgren abgestellt hatte. Die Tasche erwies sich als eine kleine flache Holzkiste mit einem gebogenen Draht, der als Griff diente. Sie war leicht, Johanna nahm an, dass sie vermutlich Malmgrens Stifte und Pinsel enthielt, vielleicht auch irgendwelche Farben.

Sie gingen die Steigung zum Posthaus hinauf. Johanna konnte Malmgrens Gesicht nicht sehen, da sie nebeneinanderher gingen, aber sie merkte, dass er lächelte. Sie blieb an der Hecke stehen; es war nicht nötig, dass er sie den ganzen Weg begleitete.

»Hier möchte ich mich für die Hilfe bedanken«, sagte sie.

»Wann haben Sie Zeit, mir die Gegend zu zeigen?«, fragte er.

»Heute Abend vielleicht, nach acht Uhr, wenn ich nicht vorher gebeten werde, bei etwas Unvorhergesehenem im Haushalt zu helfen.«

»Lassen Sie uns hoffen, dass so etwas nicht passiert. Ich warte hier gegen acht Uhr.«

Der Nachmittag verging rasch. Johanna säuberte den Fisch, half Laura bei der Vorbereitung des Abendessens, servierte bei Tisch, aß schnell selbst etwas in der Küche, räumte ab, spülte und brachte das Speisezimmer in Ordnung.

Um fünf nach acht ging sie hinaus. Per Johan Malmgren wartete schon. Sie nahmen den Weg um das Posthaus herum, an der Hütte des Postschaffners vorbei, folgten dem Pfad hinunter zum Sandstrand unterhalb des Aussichtsberges. Sie setzten sich auf einen Felsbrocken und blickten über das Meer. Malmgren fragte, ob er Du zu Johanna sagen dürfe. Sie antwortete, das könne er gerne tun. Er bat sie, ihn Per Johan zu nennen.

Dann fragte er, ob er ihr Alter raten dürfe, und als sie antwortete, dass er auch das gerne tun könne, schlug er vierundzwanzig Jahre vor.

»Ich bin am fünfzehnten Januar 1786 geboren«, antwortete Johanna.

»Das macht einundzwanzig Jahre, ich habe mich um ganze drei Jahre geirrt.«

»Ich habe schon oft hören müssen, dass ich alt aussehe.«

»Alt ist nicht der richtige Ausdruck, liebe Johanna, älter vielleicht, aber alt bist du noch lange nicht. Ich bin wahrscheinlich ein alter Mann, obwohl ich mich noch jung fühle.«

Johanna fragte nicht nach Per Johans Alter. Er sah aus, als ob er kurz über vierzig sei. Aber was wollte er von ihr? Dieser Gedanke kam ihr zum ersten Mal. Sie entschied sich für die Annahme, dass er ganz arglos nur eine nette Bekanntschaft machen wollte.

Die Sonne stand im Südwesten, der Strand lag im Schatten der steilen Felswand des Aussichtsberges, die ins Meer hinunterreichte, ein dunkelgrünes Feld direkt am Ufer, ein scharfer Übergang zu dem in der Sonne glitzernden Wasser einige Meter weiter draußen. Der Felsbrocken, auf dem Johanna und Per Johan saßen, lag genau in der Schattenlinie.

»Ich würde dich gerne vor dem Hintergrund des schwarzen Berges zeichnen«, sagte Per Johan. »Wenn du dort sitzen bleiben und den Kopf ein wenig heben würdest.«

Er setzte sich ziemlich dicht neben ihr zurecht, öffnete die kleine Kiste, nahm einen dünnen spitzen Stift heraus und rollte einen Papierbogen auf. Johanna stellte sich auf eine längere Sitzung ein, aber nach einer halben Stunde legte Per Johan den Stift beiseite und reichte ihr die Zeichnung.

Sie sah sich selbst auf dem Blatt Papier und fand, dass es sehr ähnlich war. Es war ein kleines Bild, nicht größer als ein Reichstaler, die Linien waren mit einem schwarzen Stift gezeichnet, außerdem hatte Per Johan noch blasse Farben verwendet. Er hatte viele kleine Details gezeichnet, die hellen Haarsträhnen, die kleinen Falten auf der Oberlippe, die entstanden, wenn sie lächelte, das kleine Muttermal unter dem linken Auge. Es war wirklich erstaunlich, wie gut es ihm gelungen war, ihre Züge einzufangen.

»Das bin ich tatsächlich«, sagte sie.

»Ich kann dich auch in Öl malen, aber das nimmt mehr Zeit in Anspruch.«

»Machst du oft solche kleinen Bilder von Menschen?«

»Ja, meistens fertige ich kleine Portraits an, die man mit auf die Reise nehmen kann, vielleicht steckt ein lieber Freund das Bild auch in ein Medaillon.«

Johanna betrachtete das kleine Portrait noch einmal. Die Augen waren fast lebendig. Per Johan war offenbar ein geschickter Maler.

»Du bekommst das Bild«, sagte er.

»Das ist ein schönes Geschenk, ich danke dir.«

»Hier, wickele ein Papier darum, aber warte noch eine Weile, damit die Farbe richtig trocken werden kann.«

Er reichte ihr einen seiner weißen Papierbögen, und sie faltete ihn in der Mitte, ließ ihn dann jedoch auf dem Stein liegen. Sie legte das kleine Portrait daneben, es war so leicht und zart wie ein Laubblatt. Aber es war ja windstill.

Sie blieben eine Weile nebeneinander sitzen und betrachteten den Horizont im Osten, und in diesem Augenblick fühlte sich Johanna auf eine ganz besondere Art und Weise geschätzt.

Ein Segelschiff lag weit draußen ruhig auf dem Meer. Per Johan sagte etwas über die Schwierigkeiten, die große Schiffe hatten, wenn sie in Landnähe segelten. Man wusste ja nicht immer, wie tief das Wasser war.

»Es ist wohl für die Seeleute genauso wie für uns andere, wenn wir in den Wald gehen«, sagte Johanna. »Man geht dort von Kindheit an, kennt jedes Grasbüschel, und dann findet man sich auch im Dunkeln zurecht.«

»Ich möchte gerne etwas über die Strände und alle Untiefen da draußen erfahren.«

»Ja, dann musst du wohl herumgehen und es dir ansehen oder jemanden fragen, der Bescheid weiß.«

»Kannst du mir helfen?«

»Etwas kann ich sicher erzählen, aber die Fischer und Bootsleute wissen das am besten, du kannst sie wohl fragen.«

»Ich möchte nicht neugierig wirken. Vielleicht kannst du für mich fragen?«

»Bist du an irgendeiner Stelle besonders interessiert?«

»Ja, das bin ich tatsächlich. Wie tief ist das Wasser zwischen Loskäret und der Küste, das möchte ich gerne wissen. Und wie verhält es sich mit den kleinen Inseln vor Skatudden, kann man zwischen ihnen und dem Festland segeln?«

»Darüber weiß ich nichts.«

»Kannst du das für mich in Erfahrung bringen? Aber sag nicht, dass ich es wissen möchte. Das bleibt unter uns.«

»Selbstverständlich, wenn du das so willst.«

»Ja, du weißt ja, die Leute bilden sich oft so viel ein.«

So waren sie sich einig geworden, saßen noch eine Weile schweigend da, begannen dann, über Stockholm zu reden. Diejenige, die fragte, war Johanna. Per Johan verglich die Hauptstadt mit anderen Großstädten, er war sowohl in Petersburg als auch in Riga gewesen.

Anfang August wurde es etwas kühler; der Wind kam aus Südwesten, trockener Landwind, der den Duft von Äckern und Wiesen mit sich führte. Im Windschutz der Wälder und Felsen lag das Wasser in Strandnähe fast unbewegt da, weiter draußen auf dem Åländischen Meer konnte man sehen, wie die Wellen sich auftürmten und weiße Kronen bekamen. Gegen Abend legte sich der Wind, um dann am nächsten Morgen wieder an Stärke zuzunehmen.

Johanna hatte Per Johan noch ein paar Mal kurz getroffen, er war mit seinen Zeichnungen beschäftigt. Er zeichnete die Strände, den Hafen und die Schären. Johanna bat ihn, ihr etwas zu zeigen, er wirkte recht ablehnend, zeigte ihr aber doch einige Bilder. Sie enthielten viele Einzelheiten. Johanna hatte den Eindruck, er sei oben in der Luft gewesen und habe auf die Erde hinuntergeblickt. Das jedoch war ja unmöglich. Es war wohl nur so, dass es auf dem Papier so wirkte. Das sagte sie ihm.

»Es sieht ja fast wie eine Landkarte aus«, sagte sie. »Oder es ist so, als ob man vom Aussichtsberg herabschauen würde, wenn du verstehst, was ich meine. Man hat das Gefühl, man stehe hoch oben.«

»Ja, vielleicht«, antwortete er. »Es sieht jedoch nur so aus, es sind die alten Felsen und Inseln, nichts anderes. Ich finde sie schön, deshalb zeichne ich sie.«

Dann fragte er, ob Johanna schon nach den Dingen gefragt habe, um die er sie gebeten hatte. Ja, sie hatte einen der Männer gefragt, die mit dem Postboot hinausfuhren. Er hatte gesagt, dass das Wasser zwischen Loskäret und dem Festland befahrbar sei, sogar zwischen dem Festland und den äußeren Schären gab es eine Fahrrinne, hatte er gesagt.

Per Johan hatte sich für die Hilfe bedankt. Er wollte nicht mehr lange in Grisslehamn bleiben, er hatte die Zeichnungen gemacht, die er brauchte, andere Pflichten riefen ihn jetzt. Er wollte jedoch Johanna gerne noch einmal treffen, vielleicht konnten sie einen Spaziergang machen, ehe er abreiste?

Sie verabredeten sich für denselben Abend.

Sie gingen hinaus bis Skatudden. Er hatte ihre Hand ergriffen, und sie fühlte sich sicher, es kam ihr vor, als ob sie wieder mit ihrem Vater im Dunkeln durch den Wald ging, und er sie an der Hand hielt.

In der darauf folgenden Woche regnete es zum ersten Mal richtig kräftig. Johanna befand sich auf dem Weg nach Hause, zum Hof Nygården, und sie war aufgebrochen, als der Regen eine kurze Pause eingelegt hatte; aber bald begann es wieder zu regnen, und sie war nass, ehe sie zuhause angekommen war.

Sie ging in Gedanken versunken. In letzter Zeit war viel geschehen. Zwei Männer hatten sie treffen wollen, beide waren älter als sie, Karl David würde in wenigen Jahren dreißig, Per Johan war noch älter, aber dagegen hatte sie nichts. Beide hatten sich ihr gegenüber freundlich und aufmerksam verhalten. Plötzlich sah sie sich selbst mit einem eigenen Kind. Aber als sie darüber nachdachte, wünschte sie sich keinen der beiden Männer als Vater für ihr Kind. Beide waren freundlich und zuvorkommend, aber sie wusste, dass sie für keinen von beiden Liebe empfand.

Die Vorstellung von einem Kind wurde beiseite geschoben von dem Gedanken an den drohenden Krieg. Bis jetzt hatte noch niemand deutlich ausgesprochen, Schweden würde in den großen Krieg mit hineingezogen werden, aber man hatte trotzdem inzwischen den Eindruck, dass die Gefahr eines Krieges immer näher rückte.

Ein schwedischer Kurier aus Petersburg war auf dem Weg nach Stockholm vorbeigekommen und hatte auf Pferd und Wagen gewartet. Johanna hatte den müden Mann, der in Gesellschaft des Postmeisters aß, bei Tisch bedient. Sie hatte Teile des Gesprächs gehört. Der Kurier hatte nicht viel erzählt, aber sie begriff trotzdem, dass er schlechte Nachrichten mitbrachte.

Spät am Abend hörte sie, wie der Postmeister und Magister Lindman über den Krieg sprachen. Johanna hatte erfahren, dass sich Frankreich und Russland geeinigt hatten, sie forderten, dass Schweden alle Häfen für englische Schiffe sperren und England den Krieg erklären sollte. Falls König Gustav IV. Adolf sich weigern sollte, würde man Schweden als Feind betrachten.

Lindman hatte gesagt: »Der König will nicht einsehen, was das Beste für das Land ist.« Darauf hatte der Postmeister geantwortet: »Wir dürfen in diesem Haus solche Äußerungen nicht erlauben, lieber Lindman.«

Johanna hatte zugehört und sich die Worte gemerkt, jetzt dachte sie wieder daran, überlegte und fühlte sich beunruhigt, ging im Regen nach Hause und kümmerte sich nicht darum, dass sie nass wurde.

Sie ging nach Hause, um ihre Familie zu besuchen, nicht um über Nacht zu bleiben. Sie übernachtete jetzt nur noch sehr selten dort. Während der ersten Jahre im Posthaus war sie bisweilen mehrere Tage zuhause gewesen, das war mit Laura und der Frau des Postmeisters so vereinbart worden. Als Birgitta jedoch ihre Stelle aufgab, wurden die Anforderungen, die an Johanna gestellt wurden, größer. Sie war nicht durch eine Kleinmagd ersetzt worden, obwohl Laura das so gewollt hatte. Es war jedoch die Frau des Postmeisters, die über das Haushaltsgeld bestimmte.

Als sich Johanna jetzt dem Hof näherte, stürmte eine Flut von Gedanken auf sie ein: Männer, Kinder, Kriegsdrohung, Unruhe, Zukunft, Dinge, die sie in der Zeitung gelesen hatte, und dann der verschwundene Vater, der sich immer noch irgendwo in ihren Gedanken befand. Kurze Erinnerungsbilder, die Kindheit, das Warten, wenn er auf See war, die Sorge der Mutter, das Nachhausekommen, seine warme Hand, das Schlafen in der Kammer der Eltern, seine ruhigen Atemzüge.

Immer war der Vater zugegen, als Erinnerung, als Sehnsucht und nagende Ungewissheit, trotz all der Jahre, die vergangen waren. Noch hatte niemand Johanna von den genaueren Umständen des Schiffbruchs erzählt, und sie ließ niemanden hinein in ihren Traum, in dem der Vater immer noch lebte. Zwischen ihr und dem Vater bildeten die Gedanken eine Brücke in die Vergangenheit, eine Hoffnung, die manchmal durch plötzliche Zweifel und Einsicht aus ihrer Verankerung gerissen wurde.

Dann jedoch drehte sie die Erinnerung zurück, stellte sich wieder dieselben Bilder vor, fand bald zurück auf sicheren Grund. Es war eine gute Angewohnheit, verknüpft mit anderen Gedanken, verwoben mit dem Alltäglichen. Der Vater lebte für immer in Johannas Bewusstsein, unter allem anderen, wie das rieselnde Schmelzwasser im Frühjahr unter der dünnen Eisschicht, die sich des Nachts zwischen den Grasbüscheln vor dem Haus gebildet hatte, ehe sie den Fuß darauf gesetzt hatte und durchgestiegen war, ehe das leichte, krachende Geräusch kam, einen unbedeutenden Augenblick, den sie verlängerte und an den sie sich zu erinnern suchte, wenn sie alles andere von sich weggeschoben hatte.

Sie ging über den Hofplatz, sah das Haus, die Hopfenranken, die Johannisbeerbüsche, sie war zuhause, und jetzt dachte sie nur noch an das, was sie sah.

Ihre Mutter Maria saß am Küchentisch, vor sich hatte sie Dill und frische Kartoffeln, Felchenfilet und Zwiebeln, sie schnitt und hackte. Johanna setzte sich ihr gegenüber, ergriff ein Messer und begann, eine der gelben Zwiebeln zu schälen.

»Ist Lars zuhause?«, fragte sie.

»Ich wünsche, ich wüsste es«, antwortete Maria.

»Ist er häufig nicht da?«

»Er war den ganzen Sommer über viel zuhause, aber in der letzten Zeit ist wieder irgendetwas vorgefallen.«

»Etwas mit Filip?«

»Ja.«

»Hat Lars erfahren, dass ich kommen wollte?«

»Nein, aber trotzdem weiß er es auf irgendeine seltsame Weise.«

Johanna nahm sich die nächste Zwiebel. Ihre Mutter schichtete Felchenscheiben und Zwiebelringe mit dem Dill und den Kartoffelscheiben in einem Tongefäß übereinander. Johanna hatte gefragt, was sie wissen wollte. Maria hätte fragen können, wie es im Posthaus stand, aber sie tat es nicht.

Lars kam am späten Nachmittag. Er setzte sich an den Tisch, begrüßte Johanna nicht, sah sie an, lächelte vielleicht, ein schwaches, unruhiges Lächeln.

Sie grüßte, fragte, wie es ihm ging, ob er etwas Nettes unternommen habe. Sie erwartete keine Antwort, merkte trotzdem, dass er etwas sagen wollte.

Er trank ein Glas Milch, holte dann die Bibel heraus, schlug sie auf und las darin. Er las recht schnell, wie man der Geschwindigkeit entnehmen konnte, mit der er die Seiten umblätterte.

Johanna setzte sich neben ihn, beugte sich vor, es war die Offenbarung des Johannes. Lars hielt den Zeigefinger unter die Zeile, die er las. Johanna folgte ihm. Es handelte von den sieben Engeln und den sieben Plagen. Und jetzt hörte Johanna, wie Lars leise vor sich hin murmelte, während er las. Sie neigte sich noch näher zu ihm hin und konnte seine Worte hören:

»Und ich sah etwas wie ein gläsernes Meer, gemischt mit Feuer, und die Sieger im Kampf gegen das Tier und sein Bild und gegen die Zahl seines Namens standen auf dem gläsernen Meer und trugen Harfen Gottes. Sie sangen das Lied des Moses, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes mit den Worten: ›Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, Gott, Allherrscher; gerecht und wahrhaft sind deine Wege, König der Völker.‹ (15,2-3).«

Johanna rutschte ein Stück von ihm weg. Er saß immer noch über die Bibel gebeugt da.

»Ich finde, man soll sich um das kümmern, was Jesus uns lehrt«, sagte sie. »Wer ist dieser Johannes, vielleicht ist er nur ein ganz gewöhnlicher Mensch, er ist nicht Jesus. Wilde Tiere und furchtbare Strafen, über so etwas spricht Jesus nicht.«

Lars sah Johanna an, hörte zu, saß schweigend da wie immer.

Als Johanna aufbrechen wollte, hörte sie, dass die Brüder ihrer Mutter vom Strand zurückgekommen waren. Sie hätte es gerne vermieden, Filip zu treffen, aber jetzt war es wohl besser, noch eine Weile sitzen zu bleiben, sie wollte niemanden verletzen, außerdem hatte Maria die Folgen zu tragen, wenn ihre Brüder wütend wurden. Dem wollte sie ihre Mutter nicht aussetzen.

»Feiner Besuch«, murmelte Filip.

Er ging an den Schrank, goss sich einen Schnaps ein, trank ihn im Stehen aus, goss nach.

»Ich bin gerade dabei zu gehen«, sagte Johanna.

»Ist alles in Ordnung draußen in der großen, weiten Welt?«, fragte Ruben, der jetzt ebenfalls in die Küche gekommen war.

»Ja, es ist alles wie immer«, antwortete Johanna.

»Und du hast Zeit, uns zu besuchen?«, sagte Filip.

Er setzte sich Johanna direkt gegenüber, stellte den Schnapsbecher vor sich auf den Tisch und betrachtete sie. Er lächelte, und sie wusste nicht, ob er nun Spaß machte, oder ob es höhnisch gemeint war. Sein Mundgeruch schlug ihr entgegen. Es hatte einen Augenblick gedauert, ehe der faulige Gestank sie erreicht hatte, doch jetzt wurde sie plötzlich davon getroffen, und sie konnte ihren Ekel nicht unterdrücken.

»Man kommt, wenn es gerade passt«, grinste Filip.

Johanna erhob sich, nickte den Brüdern ihrer Mutter zu, gab ihrer Mutter die Hand und strich Lars über die Wange. Dann ging sie zur Tür und fühlte einen merkwürdigen kalten Zorn in sich aufsteigen. Während einiger Augenblicke erfüllte sie ein grenzenloser Hass auf Filip. Dann ergriff sie die Klinke, und das verheerende Gefühl war verschwunden.

Das brennende Meer

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