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Der Signalist

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In der ersten Dezemberwoche kam die Kälte. Früh morgens lag der Frost weiß und streng um den Hof Nygården herum, der Herbst war vorbei, das verschrumpelte Birkenlaub lag wie Fischschuppen zwischen den harten Erdklumpen und den mit Eis überzogenen, gefrorenen Steinen.

Auf einigen der Steine konnte man unter dem dünnen Film schwarze Striche, verwischte Buchstaben, einzelne Wörter erkennen. Es waren Lars‘ Schreibübungen, seine kleinen Botschaften, die er jeden Tag aufs Neue verfasste. Er schrieb sie, wenn niemand zusah, und nur Johanna las sie und versuchte, sie zu verstehen. Sie fragte Lars jedoch fast nie, was er damit meinte, sie deutete alles selbst, erkannte neue Steine und neue Wörter, die Lars mit Kohle dort aufgeschrieben hatte, vergaß das, was er wieder weggewischt hatte.

Als die Kälte und das Eis kamen, nahm Johanna zunächst an, dass er fürs Erste mit dem Schreiben aufhören würde. Aber sie irrte sich. Lars brachte kleinere Steine vom Strand mit, schrieb drinnen in der warmen Stube, legte die Steine draußen hin und ließ sie über Nacht dort liegen, sodass sie mit einer Eis- oder Frostschicht überzogen wurden.

Eines Morgens wachte Johanna wie schon so oft früh davon auf, dass Filip ächzend und schniefend aus dem Bett kroch. Als sie selbst kurze Zeit später nach draußen ging, sah sie, dass die Stelle, auf die Lars seine Steine gelegt hatte, gewissermaßen sauber gespült war, ein Stück Boden war frei vom Frost. Sie trat näher und sah, dass die Steine bepinkelt waren; da begriff sie, dass es Filip war, der das, was Lars geschrieben hatte, ausradiert hatte.

Das ging so weiter, solange sich in der feuchten Nachtluft Eiskristalle bildeten und solange noch kein Schnee lag. Lars schrieb, und sein des Lesens unkundiger Onkel pinkelte es weg. Jetzt begann Johanna, Lars zu ermuntern. Sie selbst las es, wie sonst auch, aber sie erzählte ihrem Bruder jetzt, dass sie es gesehen hatte, und sie fragte und wollte es genau wissen, sagte, wie sie es verstanden hatte, hatte oft recht, manchmal jedoch irrte sie sich auch.

Eines Tages schrieb sie selbst einige Wörter: DU WIRST GROSS.

Sie suchte drei trockene Steine aus, ordnete sie in einer Reihe an, wartete bis zum nächsten Tag, ob Lars antworten würde. Gerade an diesem Morgen war die Eisschicht etwas dicker. Filip hatte nicht alles löschen können. Sie erkannte die Linien, sie waren undeutlich, aber sie konnte die Antwort lesen, drei Wörter auf drei Steinen: NICHT WIE SIE.

Sie suchte zwei saubere Steine, nahm sie mit hinein, ließ sie trocknen und schrieb: ICH WEISS.

Mit dieser Nachricht an Lars endete der Austausch von Wörtern, Johanna wusste nicht, ob Lars ihre Antwort hatte lesen können. Filip war zuerst da gewesen, vielleicht war die Eisschicht dünner, oder er zielte besser, er hatte die Wörter verwischt, sie waren unleserlich geworden. Die Buchstaben flossen auseinander, hinterließen graue ausgefranste Schatten und gelbliche Ränder, Reste des verstummten Steingesprächs.

Filip schien gewonnen zu haben, Lars hatte aufgehört zu schreiben, Johanna hatte aufgegeben. Dann kam der Schnee und deckte eine dünne Schicht über die Steine, es wurde wärmer und dann wieder kälter, der Schnee verharschte.

Die Schlachtung des zweiten Ferkels wurde vorbereitet. Jetzt sollte Lars keine Gelegenheit mehr haben, dem zu entgehen. Filip nahm den Jungen mit zum Schweinepferch, wo sich die Sau mit ihren beiden noch lebenden Ferkeln aufhielt. Wenn der Frost den Boden richtig hart gemacht hatte, sollten alle Schweine in den Stall kommen, vorher nicht. Eine Zeitlang konnten sie jetzt noch die dünne Schneeschicht aufwühlen.

Das ausgewählte Ferkel lief schnell. Sie verloren es mehrere Male aus dem Griff, Filip schrie Lars an, er solle sich beeilen, nicht herumstehen wie eine alte Frau, er fluchte und krakeelte, schlug Lars mit der flachen Hand in den Nacken und stieß ihn um.

Filip musste das meiste selbst verrichten. Lars wollte das Ferkel nicht bei den Ohren packen, das Tier schrie vor Schmerz oder aus Wut. Plötzlich ließ Lars das Ferkel los, erhob sich und rannte schräg über die Weide in den gegenüberliegenden Wald. Filip blieb stehen.

»Verdammtes altes Weib«, schrie er Lars hinterher. »Aus dir wird nie ein Mann werden.«

Nach einer Weile kam Ruben, und sie schleppten das Ferkel auf die Schlachtbank. Sie schlugen es und ließen das Blut ab wie immer, das war nichts Besonderes. Filip verstand nicht, was mit dem Jungen los war.

Johanna war zuhause, um ihrer Mutter zu helfen. Die Mutter hatte Laura Bescheid gesagt, sie waren übereingekommen, dass Johanna an diesem Tag im Posthaus frei bekommen sollte. Johanna stand mit einem Tranchiermesser in der Hand da, als die Brüder ihrer Mutter in die Küche kamen, um etwas zu essen. Sie begannen mit einem Schnaps, warteten auf etwas Warmes, ein gebratenes Stück Fisch mit Brot vielleicht.

»Der Junge ist in den Wald gelaufen«, sagte Filip.

Maria sagte nichts.

»Aus dem wird niemals ein Mann«, sagte Filip. »Aber ich werde es ihm schon beibringen.«

»Vater hat über Lars zu bestimmen, nicht du«, sagte Johanna.

»Dein Vater ist tot«, antwortete Filip.

»Er kommt wieder.«

»Nein, er kommt nicht mehr, begreifst du das nicht? Er ist ertrunken und kommt nicht wieder, und ich bin jetzt der Älteste auf dem Hof und ich habe hier zu bestimmen. Ist das so schwer zu verstehen?«

»Ich weiß, dass Vater lebt«, schrie Johanna.

»Verdammtes Gör, du begreifst nichts. Nils kommt nicht wieder. Er ist tot, man muss es eben einsehen.«

Johanna warf das Messer weg, rannte zur Tür und war im nächsten Augenblick draußen. Sie lief über den Hofplatz, an der Scheune vorbei und auf den Pfad hinaus. Sie lief immer weiter, wurde erst langsamer, als sie am Nachbarhof vorbeigekommen war. Sie keuchte, hörte auf zu laufen, ging aber immer noch schnell und war bald unten in Grisslehamn angelangt.

Ehe sie zum Posthaus ging, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie war immer noch außer Atem, und der Zorn hatte sich noch nicht richtig gelegt.

Laura war in der Küche. Es war Johanna anzusehen, dass etwas geschehen war, und Laura wurde etwas unruhig, trotzdem bot sie Johanna erst einmal eine Tasse Kaffee an, bevor sie fragte.

»Mein Onkel benimmt sich meinem kleinen Bruder gegenüber so bösartig«, erklärte Johanna.

»Ja, einige Männer sind so, und einige sind schlimmer als andere.«

»Lars ist weggelaufen, und ich glaube, dass er diesmal ziemlich lange wegbleiben wird.«

»Und du, willst du hierbleiben oder nach Hause zurückkehren?«

»Ich würde am liebsten hierbleiben.«

Und so geschah es denn auch. Johanna blieb im Posthaus und arbeitete wie immer den ganzen Tag über. Als es dunkel wurde, sprach sie wieder mit Laura, sagte, dass sie vielleicht doch nach Hause gehen sollte, um nachzusehen, wie es Lars ergangen war.

»Du hattest ja kaum etwas an«, sagte Laura. »Leih dir hier etwas Warmes aus, ich gehe mit dir ins Waschhaus, dort hängen einige Sachen.«

Im Waschhaus gab es einen Abstellraum, den Johanna noch nicht gesehen hatte; eine schmale Tür führte von der Haustür in einen Verschlag hinter der Kammer der Knechte. Dort hingen einige Mäntel, und an der Wand standen mehrere Paare Lederstiefel.

»Nimm diesen Umhang da«, sagte Laura. »Und einige der Stiefel müssten eigentlich passen, obwohl sie groß sind, es gibt genug Fußlappen, nimm mehrere, damit kannst du die Stiefel ausfüllen.«

Der Umhang war ein dunkelgrauer Soldatenmantel aus gröbstem Stoff, mit einer Kapuze. Die Stiefel waren schwer und hart. Als Johanna jedoch die Fußlappen um ihre Füße gewickelt hatte, konnte sie damit laufen, ohne dass sie allzu sehr scheuerten.

Als Johanna in Richtung Byholma aufbrach, war es draußen sternenklar. Sie hatte vor, nicht ganz bis zum Hof Nygården zu gehen, sondern den Pfad hinauf in den Wald zu nehmen bis hin zu den Wirtschaftsgebäuden, um dort nach Lars zu rufen, er kannte ja ihre Stimme. Als sie an der ersten Weide vorbeigekommen war, hörte sie ein Heulen, und sie wusste, dass es ein Wolf war. Sie ging schneller, die Laute waren furchteinflößend. Im Herbst waren auf Singö mehrere Wölfe erlegt worden, und jetzt, wo das Eis trug, konnten die Wölfe über weite Strecken laufen.

Jetzt hörte sie das Heulen wieder, es kam näher und klang, als ob sich der Wolf oben im Wald in der Nähe der Höfe befand. Sie blieb stehen und lauschte. Dann kehrte sie um, ging zurück nach Grisslehamn, beeilte sich. Das letzte Stück des Weges lief sie. Die Stiefel schlappten, aber sie hatte schon herausbekommen, dass die Füße nicht rutschten, wenn sie die Zehen spreizte.

Als sie ins Posthaus zurückgekommen war, saß sie eine ganze Weile allein in der Küche. Sie fand, dass sie ihren Bruder im Stich gelassen hatte, sie wollte ihm so gerne helfen, aber sie konnte es nicht.

Am nächsten Tag war der Hafen zugefroren, das Eis war dünn und spiegelblank. Johanna wurde gebeten, zum Posthafen zu gehen und Sigurd, der oben im Posthaus gebraucht wurde, zu holen. Sie nahm wieder den Umhang, zog für das kurze Stück jedoch diesmal ihre eigenen Schuhe an.

Einige Männer ließen gerade das Eisboot zu Wasser. Die dünne Eisschicht brach unter der Last des Bootes, aber das Eis behinderte doch die Bewegungen des Bootsrumpfes, das Boot war von zerborstenem Eis umgeben. Die Männer schafften Spankörbe, Segel und Ruder an Bord. Sie wollten offensichtlich auf der gegenüberliegenden Seite Post abliefern. Johanna blieb stehen und sah zu, als das Boot ablegte. Ein Mann saß am Bug und zerschlug das Eis, die anderen schoben mit den Rudern nach, ruderten ein Stück, drückten das Eis auseinander, ruderten wieder. Sie kamen nur langsam voran.

Nach dem Mittagessen ging Johanna mit einem Essenskorb hinauf zur Telegrafenstation. Ihr war vom Postmeister ein verschlossenes Kuvert mitgegeben worden. Sie nahm an, dass es irgendeine Nachricht war, die hinüber nach Signilskär geschickt werden sollte.

Harald und Sven waren da, außerdem ein dritter Mann, den sie zuvor noch nicht gesehen hatte.

Er stellte sich als Albert Rask vor, er stammte aus Norrtälje, er hatte eine Verlobte in der Nähe von Grisslehamn, und er sollte seinen Dienst als dritter Mann auf der Station antreten.

Albert hatte einen Feldstecher mitgebracht, ein langes Messingrohr, das nach Bedarf ausgezogen und eingestellt werden konnte. Das feste Teleskop an der Wand war ja so eingestellt, dass man nur die Signaltafel auf Signilskär und nichts anderes sehen konnte. Mit dem Feldstecher konnte man Schiffe und andere Dinge auf dem Meer und entlang der Küste beobachten.

»Die Militärverwaltung in Stockholm will, dass wir ein Auge auf fremde Schiffe haben«, erklärte Albert.

Als Johanna das Telegrafenhäuschen verließ, ging er mit ihr hinaus. Er behauptete, dass man draußen besser beobachten könne, denn das Fensterglas war trübe und beeinträchtigte die Sicht. Er zog das Rohr heraus, hielt es an sein rechtes Auge und ließ es am Horizont entlang gleiten. Johanna wartete, ohne etwas zu sagen. Nach einer Weile senkte er das Fernglas und fragte, ob Johanna auch einmal durchschauen wolle.

Johanna zögerte etwas mit der Antwort, sie wusste nicht genau, wie sie den Neuankömmling anreden sollte. Die anderen Jungen waren Bauernsöhne aus der Gegend, zu ihnen konnte man du sagen. Aber dieser etwas ältere fremde Mann kam aus der Stadt.

»Ja, danke«, antwortete sie und umging so vorläufig das Problem.

Sie nahm den Feldstecher, richtete ihn gegen den Horizont, erkannte die Inseln um Signilskär herum, vergrößert, aber in dem grauen Licht ein wenig verschwommen. Dann senkte sie den Feldstecher auf die Meeresoberfläche, blickte in Richtung Singö und auf die Inseln da draußen, Måssten und Halsaren, senkte den Feldstecher und erblickte das Eisboot. Es war noch nicht weit gekommen, einer der Männer saß immer noch vorne und schlug das Eis auseinander, die anderen ruderten.

»Ich habe von deinem Vater gehört«, sagte Albert.

Johanna blickte immer noch durch den Feldstecher, sie sagte nichts, nickte nur als Antwort.

In diesem Moment begannen die Klappen auf dem Telegrafenhäuschen zu rattern, eine nach der anderen, in schneller Abfolge nahmen sie neue Stellungen ein, das ging mehrere Sekunden lang so. Einer der Signalisten dort drinnen hatte offenbar eine Nachricht erhalten und sie bestätigt, oder vielleicht war auch eine neue Mitteilung von hier abgegangen, möglicherweise etwas, was auf dem Papier gestanden hatte, das Johanna vom Posthaus mitgebracht hatte.

Albert sah hinauf zu den Signalklappen, murmelte etwas vor sich hin, nickte und sah ernst aus.

»Können Sie die verschiedenen Zeichen deuten, Albert?«, wollte Johanna wissen.

»Nicht alle, aber recht viele. Wir haben ja die Tabelle, die wir zu Rate ziehen können, wenn wir etwas nicht wissen.«

Johanna wusste, in welchem Fach neben dem Teleskop sich die Signaltabelle befand. Sollte sie es wagen, Albert zu fragen, ob sie sie einmal ansehen dürfte?

Sie unterließ es, aber bald würde sich sicher eine neue Gelegenheit bieten.

Das brennende Meer

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