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Das Schiff und der Künstler

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Im Sommer 1807 kam die Wärme im Mai und hielt sich – abgesehen von einigen kühleren Tagen mit leichtem Nieselregen in der Woche nach Mittsommer – bis Ende August. Während der heißesten Zeit war der Himmel Tag für Tag wolkenlos. Es vergingen Wochen, ohne dass es regnete, das Meer lag spiegelglatt da, Trockenheit und Windstille folgten. Es kam oft vor, dass die Mannschaft des Postbootes den ganzen Weg von Grisslehamn nach Ekerö rudern musste, nicht die leiseste Brise kam ihr zu Hilfe. Es kamen da viele schweißtreibende Stunden mit schlappem Segel auf dem Meer zusammen.

Große Schiffe trieben bisweilen tagelang ohne Wind auf dem Åländischen Meer. Wenn sie in die Nähe von Grisslehamn kamen, konnte es vorkommen, dass ein kleines Boot zu Wasser gelassen wurde, Seeleute an Land ruderten und darum baten, Briefe abgeben zu dürfen; sie wussten offenbar, dass der Ort Postverbindungen zu Städten nah und fern hatte.

Draußen vor dem Hafen lag ein großes englisches Kriegsschiff still auf dem Wasser. Auf einer Klippe auf der Nordseite der Bucht saß ein Mann mit Papier und Stiften. Er zeichnete das Schiff in allen Einzelheiten ab.

Johanna hatte das englische Schiff gesehen, alle in Grisslehamn hatten es gesehen, man hatte ja Zeit genug, um zu schauen und sich zu wundern. Als das Schiff direkt vor der Hafenbucht lag, war Johanna gerade in der Küche des Posthauses; sie stieg in das obere Stockwerk und blickte durch das Fenster an der nördlichen Giebelseite.

Birgitta war nicht mehr im Posthaus. Sie hatte im Sommer 1804 Niklas Persson aus Tomta geheiratet und ihr erstes Kind geboren, einen wohlgestalteten Jungen. Jetzt war sie Hausfrau und erwartete ihr zweites Kind. Johanna hatte Birgittas Platz als zweite Hausmagd im Posthaus eingenommen.

Gegen fünf Uhr nachmittags hatte das englische Schiff Grisslehamn verlassen. Johanna hatte unten im Posthafen etwas zu erledigen, auf dem Rückweg stieg sie auf den kleinen Felsen vor dem Posthaus. Dort begegnete sie einem Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er war um die vierzig, groß, dunkelhaarig und hielt sich sehr gerade. In der einen Hand trug er eine kleine Kiste und in der anderen hielt er einen Stoß Papier.

Johanna hatte den Mann schon von weitem erblickt, aber trotz des Abstandes meinte sie, etwas Bekanntes an seiner Art, sich zu bewegen, erkennen zu können; und als sie diese Beobachtung gemacht hatte, folgte ein Durcheinander von aufblitzenden Erinnerungsbildern und gemischten Gefühlen: Wiedererkennen, Unruhe, Sehnsucht, Zweifel, das ist er, ja, nein, das kann er nicht sein.

Sie verlangsamte ihre Schritte, sah den Mann näher kommen, und immer noch ähnelte er dem verschwundenen Vater, oder dem ein wenig älteren Vater, so wie er jetzt aussehen müsste.

Nach der ersten überrumpelnden Gefühlswelle folgten unsortierte und verwirrende Gedanken. Johanna wollte umkehren und weglaufen oder auch dem Mann entgegenstürzen oder auch so tun, als ob sie jemand anders war, all das während weniger Sekunden.

Sie ging weiter auf den Mann zu; natürlich war er ein Fremder. Dann fiel ihr ein, dass ihr das schon vorher einige Male passiert war. Sie hatte den verschwundenen Vater kommen sehen: überwältigendes Glück, Zweifel, Enttäuschung, Einsamkeit.

Sie hätte lernen müssen, dagegen anzugehen, um nicht verletzt und noch einmal verlassen zu werden. Das hatte sie sich selbst gesagt, aber jetzt passierte es schon wieder, einige quälende Sekunden lang.

Als der Mann noch etwa dreißig Meter von ihr entfernt war, begann er zu lächeln; er lächelte die ganze Zeit über, auch als er stehen blieb und sich vorstellte.

»Guten Tag, mein Fräulein«, sagte er. »Ich bin ein Künstler aus Stockholm, der hier zu Besuch ist, mein Name ist Per Johan Malmgren, ich bin gerade angekommen und habe mich ein wenig umgesehen. Wir haben ein wunderbares Wetter, nicht wahr?«

Er hatte die kleine Kiste abgestellt, jetzt reichte er ihr die Hand. Johanna ergriff sie, es war eine warme, weiche Hand. Er lächelte die ganze Zeit über.

Auch Johanna nannte ihren Namen und erzählte, dass sie im Posthaus arbeite. Sie war allerdings nicht der Meinung, dass das Wetter schön sei, denn sie wusste, dass der Boden Regen brauchte und dass der Seefahrt der Wind fehlte; das jedoch sagte sie dem fremden Mann, der sich Malmgren nannte, nicht. Er lächelte immer noch, und Johanna überlegte, ob sein Gesicht immer den gleichen, freundlichen Ausdruck zeigte. Jetzt glich er ihrem Vater weniger, der oft ernst gewesen war. Aber die Haltung war dieselbe, der gerade Rücken, die Sicherheit und das Gefühl der Geborgenheit, das sie in der Nähe des Fremden verspürte.

Sie gingen ein Stück des Weges gemeinsam, Per Johan Malmgren erzählte, dass er bei einem Bauern in Tomta ein Zimmer gemietet habe, er wollte eine Weile bleiben und malen und zeichnen. Vielleicht könnte ihm Johanna, wenn sie Zeit hatte, gelegentlich die Gegend zeigen?

Johanna antwortete, dass das sicher möglich sei, an einem Abend oder an einem Sonntag, wenn sie nicht arbeitete.

Malmgren wollte wissen, wo er nach ihr fragen könne, ohne sie zu belästigen.

Sie sagte, er könne ja immer im Posthaus fragen, denn dort würde sie sich meist aufhalten.

Die Nächte waren mild, die Sterne standen bleich über dem blauschwarzen Wasser. In der Nähe des Meeres ist es ja eigentlich nie still, auch kleine Wellen rauschen, das Meer murmelt und flüstert, wenn es nicht lärmt und furchterregend ist. Jetzt jedoch herrschte eine ungewöhnliche Stille, das Wasser lag glatt da, die Wellen ruhten sich aus, es fehlte etwas, und die Küstenbewohner, die an die ständigen Geräusche gewöhnt waren, fühlten sich nicht ganz wohl.

Eines Abends saß Johanna da und wartete auf Geräusche, die nicht kamen. Es war spät, aber immer noch hell, denn es war die erste Woche im Juli. Sie verließ den Strand, spürte den Duft, der von den Weiden aufstieg, blieb an einem Sanddornstrauch stehen, sah, dass es viele unreife Beeren gab, und dachte, dass die Beeren in diesem Jahr wohl einen kräftigen Geschmack haben würden, da die Sonne so unermüdlich schien. Aber ein trockener Sommer bedeutete auch immer kleine Beeren und wenig Saft. Sie ging weiter, dachte über die Sanddornernte nach, bei der sie ihrer Mutter zu helfen pflegte, ging in Gedanken versunken, merkte nicht, dass ihr jemand folgte.

An einer Weide in der Nähe von Orneviken hatte sie derjenige, der ihr folgte, fast eingeholt. Da hörte sie die Schritte und drehte sich um. Es war Karl David vom Hof Norrgården, er hob grüßend die Hand.

»Ich habe dich hoffentlich nicht erschreckt?«, sagte er.

»Nein, du erschreckst mich doch nicht, Karl David«, antwortete sie, und das stimmte auch, denn sie hatte noch nie Grund gehabt, ihn als aufdringlich zu empfinden.

»Darf ich dich ein Stück begleiten?«, fragte er.

Sie antwortete, dass er das gerne tun könne. Sie brauchte nicht zu sagen, wohin sie ging, denn er wusste ja, wo sie arbeitete.

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Als sie sich der Bucht näherten, ging Karl David ganz dicht neben ihr, sie spürte, wie sein Arm den ihren berührte. Und sie bemerkte gleichzeitig einen schwachen Branntweinduft, der von ihm ausging. Sie nahm an, dass er trank, wie viele andere Männer auch. Es war das erste Mal, dass ihr das auffiel.

»Sollen wir uns eine Weile setzen und den schönen Himmel betrachten?«, fragte er.

Sie antwortete nicht, sondern nickte, und sie gingen weiter bis zu dem Gehölz oberhalb der Bucht. Sie wussten, dass dort einige Baumstämme lagen, die einen geeigneten Sitzplatz abgeben konnten.

Sie setzten sich hin, saßen dicht nebeneinander, und Johanna nahm an, dass Karl David jetzt den Arm um ihre Schultern legen würde.

Das tat er jedoch nicht.

Wie lange saßen sie schweigend dort? Die Zeit verging, aber das Schweigen wirkte durchaus nicht peinlich. Karl David war wie ein älterer Bruder, er wollte nichts von ihr. Als sie sich trennten, gaben sie sich die Hand und wünschten einander eine gute Nacht.

Gäste kamen und gingen, Johanna machte die Betten, deckte den Tisch, wusch die Wäsche. Manchmal bekam sie ein Dankeschön, aber meist beachteten die Besucher sie gar nicht. Einige der Gäste ließen Zeitungen liegen, die sie dann an sich nahm und las. Dagligt Allehanda und Stockholms Posten kannte sie, aber sie fand auch Ausgaben anderer Zeitungen. Als sie vierzehn Jahre alt gewesen war und mit Margaretas Hilfe die wunderbare Welt der Zeitungen entdeckt hatte, hatte sie sich hauptsächlich für die alltäglichen Vorkommnisse in Stockholm interessiert, aber allmählich begann sie sich auch um das zu kümmern, was sich draußen in der großen Welt zutrug. Eines Tages war ihr aufgefallen, dass die Berichte aus Frankreich über Bonaparte und den Krieg fehlten, sie hatte schon länger nichts mehr darüber gelesen. Sie hatte den Postmeister gefragt, der die Stimme gesenkt und erklärt hatte, dass auf Befehl von König Gustav Adolf IV. die Berichterstattung aus Frankreich verboten worden war. Es war jetzt strafbar, französische Zeitungen nach Schweden einzuführen.

Etwas später hörte Johanna, dass man jetzt auch den Namen Bonaparte nicht mehr erwähnen durfte. Wenn man trotzdem gezwungen war, etwas über ihn zu schreiben, sollte er Monsieur genannt werden, das bedeutete »Herr« im Französischen. Er hatte sich ja selbst zum Kaiser ernannt, diesen Titel zu gebrauchen weigerte sich der schwedische König jedoch, und alle Schweden hatten sich danach zu richten.

Margareta war nicht mehr im Posthaus. An ihrer Stelle war jetzt August Lindman, ein magerer Lehrer mit schütterem Haar aus Åbo. Er unterrichtete Oscar, den Sohn des Postmeisters, der inzwischen vierzehn Jahre alt war. Die Töchter wohnten für längere Zeit bei einer Tante in Stockholm, um in die richtigen Kreise zu kommen. Wenn die Mädchen ab und zu auf Besuch im Posthaus waren, gab ihnen Magister Lindman Unterricht im Französischen.

In der zweiten Juliwoche kamen zwei Reisende aus Petersburg, ein älterer grauhaariger Mann und ein etwas jüngerer. Sie schienen müde zu sein, ihre Mäntel waren staubig und schmutzig, die Hemden ungewaschen, man konnte sehen, dass sie in großer Eile gereist waren und sich nicht die Zeit genommen hatten, sich um Körperpflege und Kleidung zu kümmern. Jetzt wollten sie im Posthaus übernachten und früh am nächsten Morgen weiterreisen.

Während die beiden Herren unten im Salon waren, brachte Johanna die Gästezimmer in Ordnung. Sie sah, was auf den Stühlen und Tischen lag, und kam auch nicht umhin zu sehen, was sich in den geöffneten Koffern befand: eine Pistole, ein Kuvert, das an den Obersten Johannes G. Adler adressiert war, ein französisches Buch, ein deutsches Buch, ungewaschene Hemden und Unterhosen, zerrissene Strümpfe. Johanna dachte: Diese Männer sind schwedische Offiziere, die auf eine Dienstreise in fremde Länder geschickt worden waren.

Sie hatte völlig recht. Als sie später am Abend bei Tisch bediente, hörte sie das Gespräch zwischen den Herren und dem Postmeister und seiner Frau. Auch Magister Lindman war anwesend. Die Besucher waren direkt aus Petersburg gekommen, wo sie die schwedische Vertretung besucht hatten. Vorher waren sie in Ostpreußen gewesen und hatten Auskünfte über den letzten großen Zusammenstoß zwischen der Armee Napoleon Bonapartes und den Streitkräften des russischen Zaren eingeholt. Der Ort, an dem die Schlacht stattgefunden hatte, hieß Friedland, und die beiden schwedischen Offiziere waren in der Woche nach dieser Schlacht dort gewesen.

»Der Vormarsch der französischen Streitkräfte kann nicht aufgehalten werden«, sagte der ältere der beiden Herren mit gedämpfter Stimme. »Dafür haben wir allzu überzeugende Beweise gesehen. Den Russen wurde eine empfindliche Schlappe zugefügt. Jetzt ist der Weg nach Osten offen für, hmm, Monsieur Bonaparte.«

»Was hat das für Folgen für Schweden?«, wollte der Postmeister wissen.

»Wir gehen einer schweren Zeit entgegen«, sagte der jüngere Offizier. »Denn Bonapartes Streitmacht ist unerhört. In Friedland sind fünfundzwanzigtausend Mann gefallen, viele davon waren natürlich auch Franzosen, aber Bonaparte scheint ja immer neue Soldaten herbeischaffen zu können.«

»Unsere Sorge sind jetzt die Folgen, die die Niederlage der Russen nach sich zieht«, sagte der ältere Gast.

»Was meinen Sie damit, mein Herr?«, fragte der Postmeister.

»Vielleicht zwingt Bonaparte die Russen hinüber auf seine Seite. Die Russen wollen Finnland, das wissen wir ja alle. Jetzt bleibt nur noch abzuwarten, wie lange es dauern kann, bis der Zar offen redet. Wir nehmen an, dass die Petersburger Vertretung schon beunruhigende Hinweise erhalten hat.«

»Der Wind dreht sich«, murmelte der Postmeister. »Vor kurzem hatten wir noch die Hoffnung, mit den Russen auf freundschaftlichem Fuß stehen zu können, jetzt sind wir in den alten Zustand aus der Zeit König Gustavs zurückgefallen.«

Das Gespräch kam zum Erliegen, der Ton war gedämpft gewesen, und die Redenden hatten ihre Stimmen jedes Mal leiser werden lassen, wenn Bonapartes Name genannt wurde; jemand hatte dann pflichtschuldigst Monsieur hinzugefügt.

Dann versuchte die Hausfrau, ein Gespräch über Weinsorten anzufangen, sie nannte Bordeaux, wechselte jedoch das Thema, als sie merkte, dass sie sich auf gefährlichem Boden befand. Das Schweigen wurde peinlich. Zum Schluss einigte man sich darauf, dass gebratene Eiderente, auf traditionelle schwedische Weise zubereitet und mit Vogelbeergelee serviert, ein unschlagbares Abendessen war.

Das brennende Meer

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