Читать книгу Das brennende Meer - Erik Eriksson - Страница 6
Der Sturm
ОглавлениеSie hatten mit einer steifen Brise aus Norden oder Nordosten gerechnet, aber das war an und für sich nichts Besonderes. Der Wind wehte häufig aus dieser Richtung, und sie segelten dann die ganze Strecke schräg gegen die unruhige See bis hin nach Signilskär. Sie wurden nass und sie mussten Wasser schöpfen, aber das hatten sie schon oft erlebt. Die Post musste ja ihren Bestimmungsort erreichen, raues Wetter durfte dabei kein Hindernis sein. Sturm war ein Grund für eine Verspätung, gewöhnliches Herbstwetter jedoch nicht.
Also machten sie sich auf den Weg, die vier Männer, die die Auslieferung der Post auf die Inseln besorgten; sie kamen aus Byholma am Åländischen Meer, ihr kleines Postboot, die Märla, war sechs Meter lang, hatte Sprietsegel und Fock, es war ein offenes Boot mit breiten Borden aus Kiefernholz, ohne schützendes Deck. Am 14. November 1799 ruderten sie bei Tagesanbruch aus dem Posthafen von Grisslehamn, ganz in der Nähe ihres Heimatdorfs. Am Himmel fanden sich keinerlei beunruhigende Zeichen, es klärte sich auf. Als sie Loskär außerhalb des Hafenbereichs erreicht hatten, hissten sie die Segel.
Sie kamen nur langsam voran, mussten etwas abfallen, der Nordwind hatte auf Nordost gedreht und drehte weiter. Nils Nygren, der Schiffsführer auf dem Boot, sagte zu seinen Kameraden, dass sie, so wie er die Sache einschätze, zwischen zwei Fahrtrouten wählen könnten. Entweder könnten sie gegen den Wind in Richtung Åland segeln und dann kreuzen oder im Windschutz auf der Landseite bis zur Poststation auf Eckerö rudern. Oder sie konnten einige lange Schwenker hinaus aufs Meer machen, zuerst nach Südosten und dann nach Nordwesten, um dann vom offenen Meer her nach Signilskär und Eckerö zu gelangen.
»Wir gewinnen Zeit, wenn wir aufs Meer hinaussegeln«, sagte einer der Männer im Boot. »Und wir haben das ja schon häufig gemacht«, bestätigte das älteste Besatzungsmitglied.
»Ich glaube, der Wind hat sich gelegt, und die Wolken sehen harmlos aus«, fügte der vierte Mann der Besatzung hinzu.
»Verstehe ich das richtig, wenn ich annehme, dass ihr alle aufs Meer hinauswollt?«, fragte Nils Nygren.
Die Männer nickten; Nils, der am Steuer saß, sagte nichts mehr, weil es nicht nötig war. Er blickte nach hinten, um festzustellen, wo seine Landmarken lagen: der Telegrafenmast auf dem Aussichtsberg oberhalb von Grisslehamn, die Kiefern auf Skatudden, die helle Landzunge von Loskär.
Dann wanderte sein Blick wieder auf das Meer hinaus. Dort gab es nichts, wonach man sich richten konnte, auf lange Sicht hin nicht. Aber er wusste, wo bald Land in Sicht kommen würde, flache graue Inseln, Felsenklippen, die kaum vom Wasser zu unterscheiden waren, dunkle Wolken für jemanden, der sich nicht auskannte, aber sichere Anhaltspunkte für diejenigen, die hier von Kindheit an gesegelt waren.
Nils Nygren war am Meer geboren. Er war Bauer und Fischer, vertraut mit Booten, und er war zuverlässig, war von seinen Nachbarn zum Schiffsführer auf dem Postboot gewählt worden.
Er war sich der Verantwortung bewusst, blieb an den Tagen vor den Seereisen nüchtern, sehr zum Erstaunen vieler Leute. Er beratschlagte gerne mit der Besatzung, fasste jedoch – wenn erforderlich – seine Beschlüsse allein. Auf See konnte immer etwas Unerwartetes eintreffen, und dann galten die Befehle des Schiffsführers.
Am Abend vor jeder Seereise ging Nils zum Strand hinunter und sah sich um, er blieb eine Weile dort stehen und beobachtete die Wolken. Gelegentlich überfiel ihn dabei ein gewisses Unbehagen, auch wenn der Wind beständig war und der Himmel Gutes versprach. Dieses unerklärliche Gefühl hielt dann meistens den ganzen Weg durch den Wald nach Hause an.
An solchen Abenden saß Nils eine Weile mit seinen Kindern Johanna und Lars zusammen, ehe sie zu Bett gingen. Seine Ehefrau Maria war mit anderen Dingen beschäftigt, er wollte mit seinem Sohn und mit seiner Tochter allein sein, ehe sie einschliefen.
Jetzt war wieder einer dieser Abende gewesen, an denen er zusammen mit seinen Kindern auf den Einbruch der Dunkelheit gewartet hatte. Sie hatten über die Dinge gesprochen, die sich im Laufe des Tages ereignet hatten, und sie hatten zusammen in der Bibel das Kapitel über die Arbeiter im Weinberg gelesen.
Dann brach der Morgen an und es wurde Abschied genommen. Als das Postboot draußen auf See war, dachte Nils an die Kinder, er sah sie vor sich und empfand Freude darüber, ehe er dieses Bild wieder aus seinem Kopf gleiten ließ.
Der Wind kam jetzt von Backbord. Wenn alles wie geplant lief, würden sie gegen den Wind segeln und gegen zehn Uhr vormittags drehen können. Nils besaß keine Uhr, aber er kannte die Tageszeiten und das Licht, er rechnete im Kopf, schätzte die Fahrtgeschwindigkeit, nahm an, dass sie gegen zwei oder spätestens drei Uhr in Signilskär sein müssten. Die Fahrt ging nun gut vonstatten, sie bekamen nur wenig Wasser ins Boot. Die Männer schöpften hin und wieder, die Fahrt war jedoch voll unter Kontrolle, die Seile, die den Mast abstützten, waren hart gespannt, die Wassertropfen spritzten von dem aufgeblähten Segel ab, aber das Tuch konnte viel aushalten, das wusste Nils.
Um halb zehn veränderte der Himmel seine Farbe, und das ging schnell. Die blauen Flecken zwischen den Wolken schienen nun pechschwarz, der Horizont wurde durch niedrige Regenwolken verwischt, der Wind nahm an Stärke zu, die Wellenkronen zischten weiß auf und ergossen sich in das Boot.
Als das Unwetter hereinbrach, hatte die Märla die Stelle erreicht, an der Nils Nygren in Richtung der kleinen åländischen Inseln bei Signilskär hatte abdrehen wollen. Er hatte begriffen, dass die Lage jetzt ernst geworden war, aber er war immer noch davon überzeugt, dass alles gut gehen würde; wenn nur der Wind seine Richtung beibehielt, dann konnte er sicher unter dem Wind segeln und hinter den Inseln Schutz finden, vielleicht sogar den Hafen von Signilskär erreichen.
Der Wind blies weiterhin aus nordöstlicher Richtung, es schien fast so, als ob er sich gegen Ost drehte, was den letzten Teil der Fahrt erschweren würde. Außerdem war der Wind böig und nahm ständig an Stärke zu, jetzt wurde es für die Männer schwierig, das Wasser, das über die lange Bootsreling hereinschwappte, hinauszubefördern. Sie schöpften, aber es nützte nichts. Sie waren völlig durchnässt, mühten sich mit den Schöpfkellen ab, schlugen sich die Knöchel blutig, aber nichts half gegen die schweren Brecher, die sich über das Boot ergossen.
Nils Nygren saß achtern auf der Ruderbank und hielt mit beiden Händen die Ruderpinne umfasst. Die kleine versiegelte Tasche mit der Post hatte er zwischen die Beine gestellt. Sie war mit einer Leine gesichert, damit die Brecher und die schlingernden Bewegungen sie nicht über Bord spülen konnten, trotzdem hatte Nils sie fest zwischen beide Knie geklemmt. Als der vordere Teil des Bootes unter eine mächtige Woge tauchte, presste Nils seinen ganzen Körper gegen die Posttasche. Und auch als das Boot gegen die donnernden Wassermassen nicht mehr ankam, behielt er die Tasche fest im Griff.
Es war fast ein Uhr. Der Sturm hielt den ganzen Tag und den Abend über an. Nach Mitternacht flaute er ab, und bei Tagesanbruch hatte sich das Meer wieder beruhigt.