Читать книгу Der blaue Strand - Erik Eriksson - Страница 10
ОглавлениеIm Vertrauen
Kristina stand auf der hohen Klippe bei Skatudden. Es war nicht ihre Gewohnheit, dorthin zu gehen; dies war der Ort, an den man ging, um Ausschau nach etwas zu halten. Zu allen Zeiten hatten besorgte Frauen dort gestanden und auf ihre Männer gewartet, die auf See waren. Noch immer wurde die Post von Grisslehamn aus in kleinen Booten über das Meer transportiert; jedes Jahr ertranken Bootsleute. Es gingen immer noch Frauen nach Skatudden.
Das Wetter war eine Zeit lang ruhig gewesen, aber Kristina war dennoch während der letzten Woche mehrere Male auf Skatudden gewesen, hatte sich einen Vorwand dazu gesucht, sich selbst gesagt, dass sie sehen wollte, wie das Wetter werden würde, denn das sah man ja am besten, wenn man den Himmel und Horizont frei überblicken konnte.
Sie hatte mehrere Kriegsschiffe dort draußen auf dem Åländischen Meer gesehen. Und sie hatte sie mit der Hecla verglichen, dem Dampfschiff, das sie im Nebel gesehen hatte. Keines der Schiffe weit draußen auf dem Meer war auf dem Weg nach Grisslehamn und keines von ihnen war die Hecla.
Aber an diesem Vormittag sah sie ein Dampfschiff aus relativ geringer Entfernung. Es war die Odin, die nach Süden steuerte. Kristina blieb eine Weile stehen und sah das Schiff immer kleiner werden. Es zeichnete sich die ganze Zeit über gegen den Wasserspiegel ab und der dicke schwarze Rauch wehte wie ein dunkler Vorhang auf das Meer hinaus.
Sie ging durch den Wald zurück nach Byholma. Immer noch fragte sie sich, warum der junge Engländer den Åländer hatte entkommen lassen. Hatte er es um ihretwillen getan? Glaubte er, dass sie und der Flüchtende zusammengehörten?
Der Soldat und sie hatten einander einige Sekunden lang angesehen und in diesem Moment hatte er sich entschieden. Dessen war sie sich sicher. Nein, nicht ganz sicher, aber es fühlte sich so an. Als verstünden sie einander gerade in diesem Augenblick.
Sie konnte nicht aufhören, an ihn zu denken. Zuerst hatte sie ziemlich viel nachgedacht, aber dann hatte sie es von sich geschoben und sich gesagt, dass es ein ungewöhnliches Ereignis gewesen war und nicht mehr.
Einige Tage lang war sie mit anderem beschäftigt gewesen, hatte viel Arbeit in der Räucherei gehabt und war zwischen Nygården, Marviken und dem Wirtshaus hin und her geeilt. Aber die Gedanken an den Engländer kehrten wieder und jetzt war er näher. Sie sah ihn, sein Gesicht, den freundlichen Blick.
Zu dieser Zeit begann sie, nach Skatudden zu gehen und auf das Meer hinauszublicken.
Sie brauchte niemandem etwas zu erklären. Alle, die am Meer lebten, standen manchmal dort und hielten Ausschau. Wenn jemand eine Wand anstarrte, war das seltsam, oder wenn jemand still dastand und einfach geradeaus über einen Acker, zum Wald hin oder in den Himmel schaute. So etwas machte nur jemand, der nichts im Kopf hatte oder seltsam war.
Aber wer auf das Meer hinausblickte, tat das mit vollem Recht und wenn jemand fragte, brauchte man nicht zu antworten. Also ging Kristina nach Skatudden. Aber sie fand nicht, was sie suchte.
Markus war an diesem Tag nicht zu Hause in Nygården. Er war in letzter Zeit viel weg gewesen und wenn er zu Hause war, hatte er meist geschwiegen. Seine Mutter und seine Tochter begriffen, dass er über etwas nachgrübelte.
Die Frauen saßen zusammen in der Küche, wenn sie keine Arbeit hatten, die ihre Zeit in Anspruch nahm. Als Kristina von Skatudden zurückkam, hatte ihre Großmutter gerade Kaffee gekocht; für eine Tasse würden sie wohl Zeit haben.
»Das englische Dampfschiff ist weggefahren«, sagte Kristina.
»Sie fahren immer weg«, antwortete Johanna.
»Und manche kommen zurück.«
»Ja, aber nicht immer der, auf den man wartet.«
»Redest du jetzt von jemand bestimmtem?«
»Vielleicht tu ich das.«
»Gibt es etwas, das du mir erzählen willst?«
Johanna schaute zum Fenster hinaus. Sie saß eine Weile still da und schien in Gedanken versunken zu sein. Kristina begriff, dass ihre Großmutter sich einer Begebenheit näherte, die vor langer Zeit geschehen war.
»Es gab einen Mann, der mir viel bedeutete«, sagte sie.
Kristina wartete. Jetzt sah Johanna sie an. Es lag etwas Abwesendes im Blick ihrer Großmutter, so als suche sie immer noch in alten Erinnerungen. Aber dann atmete sie ein, es klang wie ein tiefer Seufzer. Sie lächelte Kristina an und jetzt war sie wieder vollständig anwesend.
»Ja, es gab einen Mann, den ich sehr liebte«, fuhr sie fort.
»War das, als du jung warst?«
»Das war während des russischen Krieges. Er war Feldwebel und hier stationiert, als der alte Telegraf gebaut wurde.«
»Meinst du den da oben auf dem Aussichtsberg?«
»Ja, da oben lag er, mit Tafeln, die sich bewegten und Wörter und ganze Sätze bildeten.«
Kristina nickte. Sie hatte von dem optischen Telegrafen gehört, der schon seit langem nicht mehr benutzt wurde und inzwischen völlig verfallen war.
»Er hieß Kristoffer«, sagte Johanna.
»War das, bevor du Großvater getroffen hast?«
»Das Leben ist nicht immer so einfach zu verstehen, liebes Kind. Ich will dir gerne davon erzählen, das wollte ich schon lange tun. Aber ich habe darauf verzichtet, weil ich Angst habe, dass du schlecht von mir denken wirst.«
»Warum sollte ich das tun, Großmutter?«
»Du musst wissen, dass die Liebe stärker ist als alles andere und wenn man ihr begegnet, dann gilt die Vernunft nichts.«
»Das habe ich wohl verstanden.«
»Also verurteile mich jetzt nicht, hör zu und wisse, dass es auch dir geschehen kann.«
»Ich würde dich nie verurteilen.«
»Das weißt du noch nicht. Aber es war jedenfalls folgendermaßen: Ich liebte Kristoffer sehr, aber er verschwand im Krieg, und ich wurde sehr unglücklich. Da begegnete ich deinem Großvater, der sich um mich kümmerte und dafür sorgte, dass der Hof bewirtschaftet wurde.«
»Großvater, den ich nie getroffen habe. Er ertrank ja, habe ich erfahren.«
»Ja, aber bevor er auf dem Eis einbrach, kam Kristoffer aus dem Krieg zurück. Er hatte überlebt, und unsere Liebe war so stark wie zuvor.«
»Hat Großvater das erfahren?«
»Nein, er hat nichts erfahren. Ich habe es geheimgehalten und Kristoffer getroffen. Er war meine einzige Liebe, er bedeutete alles für mich. Aber dass ich deinen Großvater getäuscht habe, davon werde ich niemals loskommen. Das wird mich bis an mein Lebensende verfolgen.«
»Wie konntet ihr euch treffen, du und Kristoffer, ohne dass es jemand merkte?«
»Als ich Großvater geheiratet hatte, versuchte ich zuerst, Kristoffer zu vergessen, aber das war unmöglich. Später erfuhr ich, dass er dienstlich in Norrtälje zu tun hatte und fuhr unter einem Vorwand dorthin. Ich ging zu dem Wirtshaus, in dem er wohnte; wir begegneten uns draußen im Garten. Damals hatten wir uns mehrere Jahre nicht gesehen.«
Johanna unterbrach ihre Erzählung und lauschte. Kam da jemand?
»Hast du Schritte gehört?«, fragte sie.
Kristina hatte nichts gehört. Sie begriff, dass ihre Großmutter angespannt und unruhig war. Sie ging zum Herd, holte die Kaffeekanne und füllte die beiden Tassen.
»Er kam mir entgegen«, fuhr Johanna fort. »Es war so unbegreiflich stark und unfassbar. Wir begegneten uns nach mehreren Jahren wieder und nichts hatte sich verändert. Kannst du das verstehen?«
»Ich kann es versuchen, ich glaube, dass es etwas Schönes und Eigenartiges war.«
»Wir waren einander eine lange Zeit ganz nah und sagten nichts, sondern standen nur still da.«
»Aber als du Witwe wurdest, da machte es wohl nichts, dass du Kristoffer trafst?«
»Er war verheiratet und ich hatte ihn einmal getroffen, schon bevor Großvater starb.«
»Habt ihr euch weiter getroffen?«
»Ja, wir trafen uns jedes Jahr. Er war dienstlich sein ganzes Leben lang unterwegs, zuerst als Armeeangehöriger und dann als Inspektor für die Telegrafenbehörde. Er schickte mir Briefe und wir vereinbarten verschiedene Treffpunkte, oft in Wirtshäusern oder gelegentlich auf einem Schiff, das die Küste befuhr und gerade in einem Hafen lag. Wir sorgten dafür, dass wir Zimmer nebeneinander bekamen und auf diese Weise verbrachten wir eine Nacht im Jahr gemeinsam.«
»Und die Liebe dauerte immer an?«
»Ja, wir haben unsere Liebe nie verdorben. Wir haben nie aneinander gezehrt, uns blieben alle harten Worte und alle Nörgelei erspart, die das Alltagsleben mit sich bringt.«
»Hast du Kristoffer zwischen diesen vereinzelten Begegnungen nicht die ganze Zeit vermisst?«
»Doch, aber ich hatte immer etwas Schönes, auf das ich mich freuen konnte, und ich bekam Kristoffer nur von seiner besten Seite zu sehen. Nie habe ich ihn betrunken oder unfreundlich gesehen. Er ist vor fünf Jahren gestorben und ich habe sehr um ihn getrauert, aber wir hatten darüber gesprochen und wussten, dass das Leben uns mehr gegeben hatte, als wir verlangen konnten.«
»Aber ihr habt keine Kinder zusammen bekommen. War das nicht etwas, das dir gefehlt hat?«
Johanna antwortete nicht. Sie lächelte, und Kristina wusste nicht richtig, ob ihr Lächeln als Antwort gedacht war.
»Hast du Kristoffers Briefe aufbewahrt?«, fragte sie.
»Sie sind noch da und ich habe sie an einen sicheren Ort gelegt. Aber ich will, dass du sie nach mir bekommst, liebe Kristina.«
»Das will ich gerne.«
»Und auch noch ein paar andere Dinge. Kristoffer gab mir das Medaillon, das ich trage. Du hast es bestimmt gesehen. Niemand hat je erfahren, wer es mir gab. Ich habe gesagt, dass es ein Familienstück ist.«
»Ich habe mich das selbst oft gefragt, bin aber nie dazu gekommen dich zu fragen.«
»Ich bin jetzt alt und habe diese Angelegenheit sehr genau durchdacht. Ich will dir das Medaillon schon jetzt geben, liebes Kind. Dann weiß ich, dass du es sicher bekommst. Wenn ich tot bin, weiß man nicht, wer dann bestimmt.«
Johanna knöpfte den obersten Blusenknopf auf, zog die feine Kette und das Medaillon über den Kopf und reichte Kristina die abgenutzten Goldgegenstände. Kristina nahm sie entgegen, hielt sie in ihrer hohlen Hand und verspürte eine stille Ehrfurcht vor dem matten Goldglanz. Die kleine, ovale Dose war so leicht und fein. Sie wog sie in der Hand und berührte mit dem Finger die kleinen Häkchen, die als Verschluss dienten.
»Mach es auf«, sagte Johanna. »Es ist ein Bild von mir darin. Ich habe es Kristoffer gegeben und als ich dann das Medaillon bekam, war das Bild dabei.«
Kristina öffnete das Medaillon langsam und erwartungsvoll und sah das kleine gezeichnete Portrait einer sehr jungen Frau.
»Wie schön du warst«, sagte sie.
»Und dir ziemlich ähnlich.«
Kristina schaute lange auf das Bild. Dann hängte sie sich die Kette um den Hals und spürte, wie sich das Medaillon unter ihre Bluse schmiegte.
»Du sollst auch meinen alten Feldstecher und eine dazugehörige Signaltabelle bekommen«, sagte Johanna. »Aber die Sachen können warten. Die Briefe sollst du jedoch bald bekommen, sodass sie nicht verloren gehen.«
Kristina antwortete nicht. Sie lächelte ihre Großmutter an und spürte, dass ihr großes Vertrauen zuteilgeworden war. Das Wichtigste war nicht das Geheimnis, sondern die Erzählung von der Liebe, die lebte und sich weigerte zu sterben.
»Ich frage mich, ob ich etwas ebenso Schönes erleben darf«, sagte sie.
»Keine Liebe gleicht der anderen«, antwortete Johanna. »Und man weiß nie, woher sie kommt. Du bist erst zweiundzwanzig Jahre alt, für dich fängt es jetzt erst an.«
An diesem Abend kam Markus spät nach Hause. Er schlief in der kleinen Kammer; seine alte Mutter hatte das größere Zimmer und Kristina schlief in der Küche. Sie hörte, wie er kam, aber sie stand nicht auf und er sagte nichts. Als er die Tür hinter sich zugemacht hatte, lag sie wach und dachte über das Gespräch nach, das sie mit Johanna geführt hatte.
Wusste Markus etwas von der Liebe seiner Mutter? Kannte er Kristoffer überhaupt?
Wenn Markus zu Hause gewesen wäre, hätte das Gespräch nicht geführt werden können, so viel begriff Kristina. Es waren immer nur Frauen, die über Liebe und über die Kümmernisse des Herzens sprachen. Die Männer tranken, und bisweilen, wenn sie betrunken waren, kam es vor, dass jemand weinte und über seine Einsamkeit klagte.
Kristina wusste nicht, warum es so sein musste, aber sie ahnte, dass ihr eigener Vater wohl einer dieser einsamen Männer war.