Читать книгу Der blaue Strand - Erik Eriksson - Страница 13
ОглавлениеEin neuer Bruder
Es kam ein Mann aus Stockholm nach Grisslehamn. Er kam mit Pferd und Wagen und saß auf dem Kutschbock, hielt aber nicht selbst die Zügel. Eine mitfahrende Dame saß eingeklemmt zwischen Kisten und Taschen hinten auf dem Wagen.
Der Mann stieg im Wirtshaus ab. Er hatte im Voraus ein Zimmer bestellt, dem Wirt einen Brief geschrieben und Antwort erhalten. Es gab ein gutes Zimmer im zweiten Stock mit Fenster zum Meer.
Die Dame mietete eines der Dachzimmer; es war das kleine Kämmerchen, in dem Marta mit ihrem Sohn gewohnt hatte, bevor sie in das Stallhäuschen umziehen musste. Welches Verhältnis zwischen dem Mann und der Frau bestand, wusste niemand. Vielleicht gehörten sie auf irgendeine Weise zusammen, oder sie waren nur zufällig im selben Wagen angekommen.
Man war natürlich neugierig. Die Mägde im Wirtshaus stellten vom ersten Tag an Vermutungen an, nach einer Woche taten es auch andere. Aber die Zeit würde wohl zeigen, wie es sich verhielt. Die Frau hieß Sara Andersdotter. Sie war klein und pummelig und hatte lockiges, dunkles Haar.
Der Mann hieß Peter Backman, er nannte sich Händler und war in Geschäften unterwegs. Er hatte vor, mindestens einen Monat zu bleiben.
Backman war groß und kräftig gebaut, hatte eine rötliche Gesichtsfarbe und dünne Haare. Er lächelte oft und sah freundlich aus. Den Leuten fiel sofort seine sympathische Art auf. Im Übrigen kümmerte man sich nicht so viel um ihn, es kamen ja viele Reisende.
Einige Tage vergingen. Er schien auf etwas zu warten. Eine Woche verging, und nun begannen die Leute sich zu fragen, was er eigentlich in Grisslehamn machte.
Er hatte ein kleines Lagerhaus im Hafen gemietet und dort seine Kisten verstaut. Einige der Kisten standen allerdings in seinem Zimmer an der Wand. Die Mägde, die dort putzten und die Bettwäsche wechselten, berichteten, dass es nach Kaffee roch. Außerdem hatte jemand einen Blick auf den Zipfel eines Seidenstoffs erhascht und eine Flasche Cognac hatte dagestanden. Aber Backman war ja Händler; das waren wohl seine Waren.
Diejenigen, die so dachten, hatten völlig Recht. Backman verkaufte Kaffee, gute Weine und Cognac aus Frankreich und außerdem Gewürze. Einige Seidenstoffe hatte er auch. Das meiste waren teure und begehrenswerte Dinge. Und dann Kaffee, der für die meisten Schweden heutzutage zum Alltag gehörte.
Aber auf der anderen Seite des Meeres war Kaffee Mangelware geworden und ebenso andere teure Importwaren. Seit die Engländer mit der Blockade der russischen und finnischen Häfen begonnen hatten, war die Nachfrage ebenso gestiegen wie die Preise.
Das wusste Backman. Er kaufte seine Waren in Göteborg und transportierte sie durch das Land. Jetzt lagen sie in Grisslehamn im Lager. Er rechnete mit einem großen Gewinn. Und er war nicht allein und nicht der Erste. Längs der nördlichen Ostküste Schwedens sammelten sich die Händler, Schiffer und Schmuggler, diejenigen, die es wagten, ihre Schiffe zu riskieren. Denn die Engländer hielten Frachtsegler an und beschlagnahmten sie mitsamt der Ware. Aber die schwedische Flagge gab noch immer einen gewissen Schutz.
Einige in Grisslehamn begriffen nach kurzer Zeit, was für eine Art Händler Backman war. Der Zoll hatte ein Auge auf ihn, aber niemand war besonders beunruhigt. Der Krieg Englands gegen Russland hatte Anhänger in Grisslehamn, aber den Finnen und Åländern den Kaffee wegzunehmen, das ging nun doch zu weit. Und als Backman gefragt wurde, antwortete er, dass er Handel mit Kaufleuten in schwedischen Küstenstädten betrieb, in Gävle, Sundsvall und Härnösand. Grisslehamn hatte eine gute Lage am Meer und deswegen hatte er vor, von hier aus zu operieren. Streng genommen war es Handel in den Schären, was er machte.
Das erste Mal, als Kristina Peter Backman begegnete, ging sie durch den Hafen. Er lächelte ihr zu und sie wusste nicht, ob sie zurücklächeln sollte; sie war unbekannte lächelnde Männer nicht gewohnt. Aber er sah nett und völlig ungefährlich aus, so dass sie vorsichtig und hastig zurücklächelte.
»Haben Sie gesehen, wie schön die Eiderenten sind, Fräulein?«, fragte er und zeigte auf das Wasser hinaus.
Kristina sah zwei ausgewachsene Eiderenten-Männchen in der Nähe des Landes. Das war ungewöhnlich; sie verschwanden im Juni für gewöhnlich hinaus aufs Meer.
»Ja, sie sind hübsch«, antwortete sie.
»Ich kenne mich nicht so mit Meeresvögeln aus«, fuhr Backman fort. »Ich komme aus Stockholm, und da haben wir meist Tauben und Dohlen.«
»Manchmal kommt der Seeadler hier vorbei«, sagte Kristina.
»Ich hoffe, ich bekomme ihn zu sehen.«
»Da gilt es, die Augen aufzuhalten.«
Backman lachte auf. Er fand offensichtlich, dass Kristina ein Späßchen gemacht hatte.
»Danke, mein Fräulein«, sagte er. »Ich muss jetzt weiter. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.«
Als Kristina ihren Weg in die andere Richtung fortsetzte, begegnete sie Josef. Er ging mit gesenktem Kopf und einem Stock in der Hand am Ufer entlang und stocherte zwischen den Steinen. Er sah Kristina nicht. Erst als sie ganz dicht bei ihm war, erblickte er sie.
Er streckte die Hand aus. Sie nahm sie und er sah froh und überrascht aus. Sie blieb einen Moment stehen und sah ihn an und die ganze Zeit über lächelte er, ohne etwas zu sagen.
»Ich glaube, du warst in Gedanken«, sagte sie.
»Ich habe nach kleinen Stichlingen gesucht«, sagte er.
»Komm doch mal nach Nygården und besuch uns.«
»Ich komme gerne.«
»Jetzt hast du eine Einladung, also musst du kommen.«
Er lachte, und sie fiel in das Lachen ein. Josef war ein lieber Junge, sie empfand schon jetzt für ihn wie für einen jungen Freund.
Als sie ihren Weg nach Hause fortsetzte, kam sie wieder auf dieses warme Gefühl zurück, das Josef in ihr geweckt hatte. Und jetzt dachte sie auch daran, was Marta über ihren eigenen Vater erzählt hatte.
Nein, das war nicht möglich. Sie schlug sich den Gedanken aus dem Kopf; so konnte es nicht sein.
Aber als sie einmal angefangen hatte, über Josef nachzudenken, dessen Vater nicht bekannt war, konnte sie nicht wieder aufhören zu grübeln. Den ganzen Tag und Abend über kam sie auf diesen Gedanken zurück: Konnte er ihr Bruder sein?
Kristina begriff, dass sie es wohl nie erfahren würde, aber sie spürte eine starke Nähe zu Josef, und als er zwei Tage später zu Besuch kam, hatten sie sich viel zu erzählen. Er berichtete, was er über den Kristallpalast in London gehört hatte und sie hörte mit großem Interesse zu. Als er darum bat, das Gebäude zeichnen zu dürfen, gab sie ihm Stift und Papier, und er machte ein Fantasiebild des großen Schlosses.
Dann saßen sie lange und taten so, als gingen sie drinnen zwischen den Schätzen herum, beschrieben einander die Farben, Geräusche und Düfte und wechselten sich darin ab, den anderen mit Dingen zu überraschen, die sie erblickten:
Schau mal, siehst du den kleinen Vogel mit der Goldkrone.
Oh, das sind ja mehrere hundert Goldvögel, die zwitschern.
Und da, die reitenden Indianer mit all den Federn.
Und ganz vorne reitet eine kleine Prinzessin.
Ja, und der Silberfluss da, der vom Himmel kommt.
Aber hast du das gesehen, ein ganzer See mit Limonade aus Walderdbeeren.
Und fliegende Kälber und kleine Hasen mit Flügeln.
Und frisch gebackene Hefeteilchen in großen Haufen.
Von denen man nehmen darf, so viel man will.
Und tausend Geigen, die spielen, und tausend kleine Trommeln.
So machten sie weiter, zeigten und sperrten Mund und Nase auf über all das Merkwürdige, hoben die Augenbrauen und waren so verwundert und überrascht. Aber dann wurden sie plötzlich still, saßen nur da und sahen einander an.
Keinem fiel mehr etwas zu sagen ein. Was war eigentlich geschehen? Sie waren zusammen davongeflogen, sie hatten auf dieselbe Weise gefühlt und erlebt.
Als Josef gegangen war, dachte Kristina, dass er gerne ihr Bruder sein durfte. Er war zehn Jahre alt, sie war zwölf Jahre älter. Der Altersunterschied hatte keine Bedeutung. Ob sie denselben Vater hatten, wusste sie nicht, aber so musste es sein, einen Bruder zu haben. Dessen war sie sich sicher.
An diesem Abend ging sie nach Skatudden. Sie nahm den Weg durch den Wald und dann zum Ufer hinunter. Zwischen zwei Felsplatten gab es einen kleinen Strand mit runden hellblauen Steinen. Jetzt waren sie feucht und glänzten im Licht. Ein Stück weiter gab es einen ähnlichen Strand, aber dort waren die Steine schwach rosa. Sie schimmerten ebenfalls in dem leichten Licht. Eine dünne Wolkenschicht über der Küste dämpfte die Strahlen der Sonne.
Kristina ging weiter bis zur höchsten Klippe bei Skatudden. Dort blieb sie stehen. Der Horizont trat deutlich hervor. Weit drüben im Osten konnte sie die Felseninseln bei Signilskär erkennen. Noch weiter weg erahnte sie die große Landfläche Ålands als eine dunkle Linie.
Ein dünner Streifen schwarzen Rauchs lag im Nordosten über dem Horizont. War das eines der englischen Kriegsschiffe?
Kristina konnte nicht wissen, welches Schiff es war, das sich unter dem schwarzen Rauch verbarg, aber es konnte ja die Hecla sein.
Sie entschied, dass es die Hecla war. Und gerade in diesem Moment war sie es, die die Entscheidungen traf, weil alles möglich war.
Von den Männern an Bord der Hecla kannte sie drei: ihren Vater, Adler und Robert. Jetzt war es Roberts Gesicht, das sie sah; die beiden anderen verblassten und verschwanden. Robert trat hervor, er lächelte sie an und vielleicht dachte er gerade jetzt an sie; es fühlte sich so an.
Konnten Gedanken und Sehnsucht zwei Menschen vereinen? War es so, dass zwei Menschen, die sich beide stark sehnten, gleich dachten? Kamen ihnen ihre Gedanken gleichzeitig?
Kristina fühlte, dass es bestimmt so war. Das Meer lag zwischen ihnen, aber das Meer stellte keine Hindernisse dar. Es war nur reine blaue Oberfläche, die die Gedanken losfliegen ließ.
Kristina stand immer noch da. Die schwache Rauchfahne bewegte sich sehr langsam. Das Schiff war nicht zu sehen, nur der Rauch. Aber Kristinas Gedanken waren so stark, sie hatten weit dort draußen Halt gefunden. Es war eine ganz neue Gewissheit, die sie erlangte.