Читать книгу Der blaue Strand - Erik Eriksson - Страница 11
ОглавлениеKostbare Zeit
Die Mauersegler waren gekommen und bauten ihre Nester unter dem Stalldach von Nygården. Kristina sah es und dachte an die schrillenden Schwärme von Jungvögeln, die sich im Spätsommer in wilder Flugfreude durch die Luft stürzten. Mit einem Mal überkam sie der Gedanke, wie schnell die Zeit verging. Der Sommer war gerade gekommen, bald war es Herbst.
Ihre Gedanken wanderten zum Meer, zu den Schiffen und zu dem Engländer, an den sie jeden Tag dachte. Er war ja im Krieg; ob er Schaden nahm? Sie machte sich Sorgen, aber sie wollte Johanna nichts sagen, die die Einzige war, mit der sie über solche Dinge sprechen konnte.
Mit den Bootsleuten und anderen Reisenden kamen Gerüchte nach Grisslehamn. Englische Kriegsschiffe hatten Ekenäs und Hangö im Finnischen Meerbusen angegriffen. Sie hatten auf die Befestigungen der Russen geschossen und viele getötet. Auch die Engländer hatten Leute verloren.
Offensichtlich war England zunächst einmal siegreich, und jetzt hatte auch Frankreich Kriegsschiffe in die Ostsee und das Åländische Meer entsandt. Die russischen Schiffe hielten sich verborgen, aber zu Land schickte Russland Verstärkungen vor. Man sprach von fünfzigtausend Soldaten auf dem finnischen Festland und zweitausend auf Åland, wo sich die meisten in der Festung Bomarsund befanden.
In der ersten Juniwoche kam eine Gemeindearme nach Nygården, eine alte Frau, die Sigrid hieß. Sie hatte keine Familie und konnte sich nicht selbst ernähren. Das Kirchspiel hatte sie auf ihre vorgegebene Runde durch den Bezirk geschickt, bei der sie auf jedem Hof für ein paar Wochen Beherbergung und Verköstigung erhielt. Jetzt war Nygården an der Reihe.
Sigrid bekam die eine Kammer, Johanna und Kristina teilten sich die Küche. Natürlich würden sie die alte Frau ernähren, die vermutlich nicht mehr lange zu leben hatte.
Sie war schweigsam, saß mit einer Häkelarbeit am Herd, aß wie ein Spatz, dankte und zog sich zurück. Aber man merkte, dass sie den Gesprächen folgte. Wenn sie einmal etwas äußerte, war es klar und deutlich, aber einsilbig.
Eines Abends sprachen Johanna und Kristina über den Krieg. Sie hatten gerade etwas über die Erfolge der Engländer gehört. Auch Markus saß mit am Tisch.
»Jetzt fließt Blut da draußen«, sagte Johanna. »Die armen Jungen, sie werden zuschanden.«
»Lass uns hoffen, dass sie nicht zu viel durchmachen müssen«, sagte Kristina.
»Keiner bleibt verschont«, sagte Johanna.
»Aber es ist vielleicht trotzdem notwendig«, sagte Markus.
»Ich weiß nicht, ob ich das glauben soll«, sagte Kristina.
Sie widersprach ihrem Vater für gewöhnlich nicht, aber sie fühlte sich durch das, was Johanna über den Krieg gesagt hatte, bestärkt und wollte mit ihrer eigenen Ansicht nicht hinter dem Berg halten.
»Du glaubst nur«, sagte Markus. »Aber du bist eine unmündige Frau, und solange du hier wohnst und unverheiratet bist, hast du dich nach mir zu richten.«
»Ich weiß trotzdem schon, was ich vom Krieg halte«, murmelte Kristina.
»Sie benutzt den Kopf zum Denken«, sagte Johanna. »Und das ist mehr, als man von manchen anderen sagen kann.«
Sie wandte sich Markus zu und sah ihn scharf an. Er antwortete nicht. Seine Tochter konnte er zurechtweisen, aber seiner Mutter widersetzte er sich ungern. Eine lange Zeit blieb es still in der Küche; nur das Prasseln des Feuers war zu hören. Die alte Frau häkelte. Plötzlich legte sie die Handarbeit hin und sah auf.
»Sie verlieren ihre Liebe«, sagte sie mit erstaunlich klarer Stimme.
Alle blickten sie an. Die Alte saß mit geradem Rücken da und schaute in den Raum hinein. Sie begegnete niemandes Blick; es schien, als beobachte sie etwas in weiter Ferne.
»Die Toten bleiben da liegen, wo sie gefallen sind«, sagte sie. »Die zurückkehren, sind tot in der Seele und wer das ist, kann nie mehr jemanden lieben.«
So viele Wörter auf einmal hatte sie noch nie gesagt, seit sie nach Nygården gekommen war. Und sie hatte noch nie mit so kräftiger und deutlicher Stimme gesprochen. Die anderen saßen immer noch still da und betrachteten die alte Frau. Es war Kristina, die das Schweigen brach.
»Was weißt du über den Krieg?«, fragte sie.
»Ich weiß«, antwortete die Alte.
»Hast du einen engen Freund, der im Krieg war?«
»Er verlor die Liebe; er kam zurück, aber er war wie tot.«
Dann sank sie leicht zusammen, blickte nach unten, tastete nach ihrer Handarbeit und begann wieder zu häkeln.
»Wann war das?«, fragte Johanna.
»Vor langer Zeit«, antwortete Sigrid mit schwacher Stimme.
Für lange Zeit wurde nichts mehr gesagt. Markus stand auf, ging zur Tür hinaus und machte sie leise hinter sich zu.
»Wollen wir vielleicht eine Tasse Kaffee trinken?«, fragte Johanna.
Kristina begann sofort, den Abendkaffee vorzubereiten. Sie stellte vier Tassen hin. Markus müsste wohl jeden Moment zurück sein.
Aber er kam nicht. Sie tranken Kaffee und sprachen über die Arbeiten des morgigen Tages. Über Markus sagten sie nichts. Sigrid saß hinabgebeugt und schlürfte leicht. Sie hatte nur noch vereinzelt Zähne.
Die Alte blieb nicht so lange auf. Sie zog sich in die Kammer und das Schweigen zurück. Dies war das einzige Mal während ihrer Wochen in Nygården, dass sie etwas mit so deutlicher Stimme sagte.
Langsam kam die Dämmerung. Johanna holte die Bibel hervor und las ein Stück aus dem Matthäusevangelium. Das geschah heutzutage nicht mehr so oft. Manchmal sprach sie darüber, was Jesus gesagt hatte. Aber Kristina wusste nicht richtig, was sie glauben sollte und sprach, außer hin und wieder, kein Abendgebet mehr. Die Familie fuhr an den hohen Feiertagen nach Väddö zur Kirche und war zur Stelle, wenn der Pfarrer nach Grisslehamn kam, aber Gott hatte in Nygården keinen großen Raum.
In den nächsten Tagen dachte Kristina viel an das, was Sigrid gesagt hatte. Sie hatte nie einen Anlass gehabt, daran zu denken, dass der Krieg den Männern die Liebe nehmen konnte. Jetzt wurde sie unruhig. Die alte Sigrid wusste bestimmt, wovon sie sprach; ihren Ernst konnte man nicht verkennen.
Wenn es so war, dann war die Zeit kostbar. Eines Tages konnte alles zu spät sein.
Eines Montags ging Kristina mit zwei Körben geräucherter Maränen zum Wirtshaus; drei kleinere Lachse waren auch dabei. Sie sollte die Bezahlung für die Lieferung dieses Tages erhalten und für den Fisch, den sie vor dem Wochenende abgegeben hatte. So war die Abmachung mit Lundgren, dem Besitzer des Wirtshauses: Montage waren Zahltage. Und Kristina bekam das Geld immer von Lundgren selbst. Kein anderer wurde mit der Kasse betraut, nicht einmal seine Frau. Die beiden Serviererinnen durften nur wenige Schritte mit dem Geld in der Schürzentasche machen. Sobald sie in die Küche kamen, nahm Lundgren ihnen die Bezahlung, die sie von den Gästen des Lokals erhalten hatten, ab. Über jede Kupfermünze wollte er Rechenschaft haben, ein Schilling war ein Vermögen.
Trotzdem wusste Kristina, dass sie Lundgren vertrauen konnte. Gewiss war er knauserig, hielt aber auch sein Wort und war nicht von der härtesten Sorte. Es gab viel Schlimmeres, laut der ältesten Magd des Wirtshauses, die sowohl in Stockholm als auch in Uppsala gearbeitet hatte.
Kristina suchte Marta auf, die gerade in der Küche war. Lundgren war dort, schaute in den Korb und billigte, was er sah.
»Das scheinen mir fünfundzwanzig Schalpfund zu sein«, tippte Lundgren.
Er nahm eine Laufgewichtswaage und wog den Fang. Es waren gut sechsundzwanzig Schalpfund. Kristina bekam zweiundzwanzig Reichstaler und zehn Schilling, die Bezahlung für alles, was sie in letzter Zeit abgegeben hatte. Das war viel Geld; ein großer Teil der Einkünfte in Nygården kam von der kleinen Räucherei.
Dann ging Kristina mit Marta nach draußen zu dem kühlen Erdkeller auf der Rückseite des Wirtshauses. Als Marta den Fisch hineingelegt hatte, blieb Kristina noch eine Weile. Sie ließen sich auf der Bank an der Wand des Küchenhauses nieder. Die Sonne schien von Süden schräg durch eine schmale Lichtung im Uferwald.
Sie sprachen über das Wetter, über die ausländischen Schiffe und über den Krieg. Die Wörter gingen ihnen leicht von den Lippen, sie lachten und fielen einander ins Wort, wechselten das Thema, ohne etwas Wichtiges zu verlieren; sie verstanden sich gut.
Dann unterbrach Marta sich und schaute auf. Kristina sah, dass jemand durch den Wald kam. Es war Josef. Kristina hatte nur ein paar Mal ganz flüchtig mit dem Jungen gesprochen. Jetzt würde sie wohl die Gelegenheit bekommen, sich mit ihm bekannt zu machen. Zögernd ging er das letzte Stück und blieb stehen, als habe er Angst zu stören. Marta sah es und winkte ihm, bis zu ihnen zu kommen.
»Das hier ist mein Sohn Josef«, sagte sie zu Kristina.
»Ich glaube, ich habe dich ganz flüchtig im Hafen gesehen«, sagte Kristina und streckte die Hand aus.
Josef machte eine Verbeugung, unnötig tief, fand Kristina. Sie lachte auf und hielt seine Hand fest, während sie gleichzeitig mit der anderen Hand seinem Unterarm einen kleinen Klaps gab.
»Du gehst zur Schule, nehme ich an?«, fragte sie.
»Ja, so ist es«, antwortete Josef. »Und ich mag Bücher.«
»Was für Bücher liest du denn?«
»Jetzt gerade ein Buch über Amerika.«
»Er hat es von Onkel Markus bekommen«, sagte Marta.
»Meinem Vater?«, fragte Kristina.
»Ja, Markus aus Nygården.«
»Wie seid ihr beiden mit meinem Vater bekannt?«
Marta antwortete nicht sofort. Sie holte tief Luft, und Kristina bekam den Eindruck, dass sie nachdenken musste, was die richtige Antwort sei.
»Ja, wir kennen uns so … oder wir kennen uns schon ziemlich lange«, sagte Marta mit einem Zögern in der Stimme.
»Ach ja?«, sagte Kristina.
»Ja, es sind ja viele, die hierherkommen und wir haben uns ganz einfach kennen gelernt.«
»Ich mag Onkel Markus«, sagte Josef.
»Das ist schön zu hören«, sagte Kristina.
»Er gibt uns manchmal Geld.«
Kristina antwortete nicht. Sie ahnte, dass ihr Vater ein Leben hatte, über das sie nichts wusste und gerade jetzt wollte sie nicht mehr darüber hören.
»Das Wirtshaus verbraucht viel Fisch«, sagte sie.
»Dann werden wir uns wohl wieder treffen«, sagte Marta.
»Ich möchte Onkel Markus gerne treffen«, sagte Josef.
Kristina stand auf und sagte auf Wiedersehen, gab zuerst Josef und dann Marta die Hand.
»Innerhalb einer Woche bin ich zurück«, sagte sie, als sie ging.
Sie ging in Gedanken, verlangsamte den Schritt. Sie erinnerte sich, dass sie die Leute gemeine Dinge über Marta und Josef hatte sagen hören; jemand hatte den Jungen Hurenkind genannt. Damals hatte Kristina keinen Grund gehabt, mehr wissen zu wollen. Aber jetzt tat sie es.
Sie hatte gehofft, alleine zurückgehen zu können, aber als sie um die Ecke des Wirtshauses bog, kamen eine elegante Dame und ein Mann in schwedischer Offiziersuniform zur Tür hinaus. Der Uniformierte war Oberleutnant und gehörte dem Wachtrupp von Grisslehamn an. Die Dame war seine Frau, die zu Besuch war. Kristina hatte die Kaserne mit Fisch beliefert und der Oberleutnant erkannte sie.
Er salutierte, Kristina machte einen Knicks und die Dame streckte die Hand aus. Sie gingen zusammen auf den Hafen zu. Der Oberleutnant sagte, er habe in der Zeitung gelesen, dass eines der englischen Kriegsschiffe Stockholm besucht habe.
»Sie sind wie Helden von den Einwohnern der Stadt empfangen worden«, berichtete er. »Der Kapitän ist ein berühmter Mann. Er heißt Hall und hat russische Bomben vorgezeigt, die er vom Kampfplatz mitgenommen hat.«
»Wie heißt das Schiff?«, wollte Kristina wissen.
»Es heißt Hecla«, antwortete der Oberleutnant. »Und jetzt ist es wieder auf dem Weg hierher, um in den Kampf zurückzukehren.«
»Wird die Hecla nach Grisslehamn kommen?«
»Ja, so hieß es. Uns ist telegrafisch mitgeteilt worden, dass sie wieder einmal einen Lotsen suchen und vielleicht kann man hier einen finden.«
Bald waren sie unten am Hafen. Der Oberleutnant und seine Frau gingen zur Kaserne, und Kristina setzte ihren Weg nach Byholma fort.
In der Nacht lag der Nebel dicht über dem Meer und den Stränden, lichtete sich aber, als die Sonne aufging. Gegen sieben Uhr ging Kristina von zu Hause weg und da war der Himmel ganz klar. Sie hatte Arbeit in der Räucherei in Marviken zu erledigen. Der Fisch war bereits ausgenommen. Sie legte mehrere Reihen Maränen und Lachse auf die Gitter im Räucherhaus, wartete, bis der Fisch trocken war und füllte Wacholderreisig auf der Erlenholzglut nach. Jetzt hatte sie mehrere Stunden für sich, bevor es Zeit war, zurückzukehren.
Sie ging hinaus nach Skatudden und schaute nach Süden. Weit weg, da wo Simpnäs und Arholma wie ein dünner Streifen Land ins Meer hineinragten, war schwarzer Rauch gegen das Wasser und den blassblauen Himmel zu sehen. Es war ein Dampfschiff, das da unten kam, und es war wohl auf dem Weg nach Norden auf Grisslehamn zu.
Kristina hoffte, dass es die Hecla war. Der junge Engländer müsste mit an Bord sein. Aber sie wusste es ja nicht, vielleicht war er ja auch … Sie brach den Gedanken ab. Das durfte nicht sein, die meisten kamen ja mit dem Leben davon, warum sollte also gerade er…
Als sie einmal angefangen hatte, an den Krieg zu denken, ließ die Unruhe sie nicht los, und als sie durch den Wald zurückging, kämpfte sie, um die dunklen Gedanken fernzuhalten. Sie drückte die Hand auf die Brust und spürte das Medaillon auf der Haut. Das hatte sie in letzter Zeit schon mehrmals getan; es wurde ihr langsam zur Gewohnheit.