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Neue Düfte

Das warme, stille Sommerwetter hielt an. Der Juni ging in seine dritte Woche. Die Hecla war eines der kleineren englischen Schiffe, die nach Norden gesandt worden waren, um Häfen an der finnischen Küste anzugreifen. Ein paar der Schiffe fuhren weit in die Bottenwiek hinauf, nach Tornio und Kemi, aber die Hecla blieb im Fahrwasser nördlich von Åland liegen, hielt Frachtsegler an und schleppte sie zu einer Sammelstelle; einige wurden versenkt. Dann nahm die Hecla wieder die Bewachung des Küstenabschnitts zwischen Pori und Naantali auf.

Die Nächte waren warm und hell. Die englischen Seemänner hatten noch nie den nordischen Hochsommer erlebt und wunderten sich über die Nacht, die niemals kam, nur eine kurze Zeit der leichten Dämmerung und dann ein neuer Morgen.

Der Krieg war hier fremd und unwirklich. Oft saßen die Männer an Deck und unterhielten sich bis nach Mitternacht, obwohl sie Freiwache hatten und schlafen sollten. Aber die Nacht war so merkwürdig dünn und lieblich und auf dem unteren Deck, wo die Mannschaft schlief, war es stickig und muffig.

Ganz unten im Schiff war die große Hitze, im Kesselraum, wo die Luft kochend heiß und dick vor Kohlenstaub war. Das Licht war schwach, eine Öllampe und dazu der rote Schein der Kohlenfeuer.

Mitten in der hellen Sommernacht konnte ein Heizer sich manchmal mühsam die Leiter auf das obere Deck hochziehen, nach draußen stolpern und umfallen, mit ausgestreckten Armen auf dem Rücken liegen bleiben, wie gekreuzigt von der kräftezehrenden Schufterei, keuchend und hustend. Und wenn er noch die Kraft hatte, den Kopf zur Seite zu drehen und auszuspucken, so war es nie Speichel, der herauskam, sondern zäher schwarzer Schleim.

Robert Blackstone war noch nie zuvor in der Nähe eines Dampfkessels gewesen. Jetzt wurde er jeden Morgen um vier Uhr hinuntergeschickt. Dann begann seine Wache und eine seiner Aufgaben bestand darin, einen Eimer Kohlen für die Kombüse nach oben zu holen und für die Köche Feuer im Herd zu machen.

Es kam vor, dass Robert dort unten warten musste. Die Heizer waren vielleicht damit beschäftigt, Schlacke auszukratzen. Diejenigen, die die Kohle herbeischaufelten, standen oben in den Kohlebunkern. Robert ließ sich nieder und schon nach einer kleinen Weile spürte er die Hitze und den Druck auf der Brust. Das Herz schlug schneller und die Angst kam.

Dann bekam er seinen Eimer mit Steinkohle gefüllt, kletterte nach oben und traf auf die befreiende, frische Meeresluft. Er dachte, dass er es niemals aushalten würde, dort unten zu arbeiten.

Aber wenn er dazu gezwungen wäre? Wenn er als Kohlentrimmer abkommandiert würde?

Und doch gab es noch schlimmere Orte. Er hatte von dem Loch gehört, einer der vielen möglichen Bestrafungen an Bord. Der Unglückliche, der einen Fehler beging oder der schlechten Laune eines Offiziers ausgesetzt war, konnte in den Kielraum unter dem Boden des Schiffes abgesenkt werden, in die Dunkelheit, wo die Höhe nur gut einen Meter betrug. Man musste in die Schmiere kriechen, eine Mischung aus Kohlenstaub, Salzwasser, Urin und Exkrementen, die heruntergelaufen und zusammengeklebt waren, den Gestank des Alters angenommen hatten und ein Heim für Würmer und Ratten boten.

Wie lange konnte man es im Loch aushalten? Robert hatte von jemandem gehört, der einen Tag und eine Nacht dort gewesen und ganz verändert herausgekommen war, still und zitternd, und der als unbrauchbar an Land gesetzt wurde.

Die Sommernacht war das Gegenteil des Lochs; es war wie Himmel und Hölle. Schon der Weg vom Kesselraum hinauf auf Deck reichte Robert. Jedes Mal, wenn er mit dem Kohleneimer an die frische Luft kam, erlebte er Befreiung und Freude. Und er spürte eine starke Sehnsucht, wenn er hinauf an Deck kam. Das Licht und der Meereswind weckten seine Sehnsucht. Die schwachen Düfte vom Land, die weit auf das Wasser hinausreichten, ließen ihn träumen und an das Mädchen denken, das er nicht vergessen konnte.

Mitten auf dem Meer konnte es nach Wald duften, nach Wiese und Beeren. Diese merkwürdigen Düfte kamen plötzlich und schienen in schwachen Schichten über dem Wasser zu liegen. Ihm kam der Gedanke, dass sie wie unsichtbare Ströme in der Luft herumflossen.

Noch wusste er nicht viel über das Meer und das Wasser. Zum ersten Mal war er den Wasserweiten vor der englischen Küste begegnet, in der Nordsee, und dann später den hellen schwedischen Meeren. Er hatte diese Meere mit offenen, neugierigen Augen betrachtet. Es war für ihn etwas Neues und Unfassbares. Kristina und das Wasser des hellen Sommers gehörten zusammen.

Mehrere Tage lang fuhr die Hecla ausschließlich mit Maschinenkraft. Der Wind war viel zu schwach, die Segel zu setzen wäre zwecklos gewesen. Für zehn Tage sollte der Kohlenvorrat des Schiffs reichen, wenn die Maschine mit voller Kraft lief. Die Ration von fünf Tagen hatten sie bereits verbraucht. Das bedeutete, dass Kapitän Hall bald gezwungen war, die Rückfahrt zu einem der Kohlebunkerplätze zu planen.

Er konnte zwischen mehreren Orten wählen. Der nächste lag in der Finnischen Bucht, wo sich unter der Führung von Admiral Sir Charles Napier die Haupttruppe der Flotte befand. Dorthin war es eine Fahrt von zwei Tagen.

An einem Mittwochvormittag fasste Kapitän Hall seinen Entschluss. Er wollte erst noch einen Einsatz fahren, bevor er bunkerte. Er gab den Befehl, Kurs auf Nystad zu nehmen. Auf seiner Seekarte gab es eine eingezeichnete Markierung bei einer Insel vor der Stadt. Es handelte sich um eine kleinere Schiffswerft, ein ungeschütztes Ziel, eine recht einfache Aufgabe. Dort konnte es auch Vorräte an Holzwaren geben, ein begehrtes Gut.

An diesem Tag um die Mittagszeit erfuhr die Besatzung, was der Kapitän von ihnen erwartete. Er hatte eine Lagebesprechung mit seinen Offizieren. Diese instruierten die Gefreiten und Marineaspiranten. Auf diesem Weg wurden alle Befehle bis hinunter zum jüngsten Schiffsjungen verbreitet.

Markus Nygren und Adler standen auf der Kommandobrücke bereit. Markus war nur bei einzelnen Gelegenheiten nördlich von Åland gesegelt und kannte die Fahrwasser nicht besonders gut. Aber er sah sofort, dass die Seekarte unzulänglich war. Bei vielen Inseln fehlte der Name, und die Wassertiefen waren schlecht markiert. Und trotz seiner begrenzten Kenntnisse war Markus derjenige an Bord, der das Gebiet am besten kannte.

Sie hatten schon zweimal den Grund berührt, nichts Ernstes, nur leichte Stöße. Jetzt schlug Markus vor, dass sie oft loten sollten. Der wachhabende Offizier folgte der Empfehlung. Er drosselte die Geschwindigkeit und stellte einen Mann mit Bleilot und Leine am Bug an die Reling.

Die Tiefe wechselte, von dreißig auf sieben Faden. Der Grund bestand zumeist aus Fels und Sand. Aber das war gleichgültig, hier wollten sie nicht ankern.

Von Weitem sahen sie ein Segelschiff. Sie hätten es eingeholt, wenn sie die Geschwindigkeit erhöht hätten, aber sie waren recht nahe am Land und ihr jetziger Auftrag bestand nicht darin, Schiffe anzuhalten.

Sie waren dennoch kampfbereit. Zwölf Marinesoldaten befanden sich an Bord und waren mit geladenen Gewehren postiert. Auch die übrige Mannschaft stand an ihren Kampfplätzen bereit. Die sechs Kanonen waren geladen, die Pulverkartuschen waren an Ort und Stelle. Einige Feuerrohre waren mit massiven Kugeln versehen, andere warteten auf Sprenggranaten.

Die Hecla glitt mit halber Geschwindigkeit voran. Sie näherten sich einer Insel, die laut der Seekarte eine ovale Form hatte. Mitten an der einen Seite befand sich eine Kerbe, vermutlich eine kleine Bucht. Möglicherweise war es eine Halbinsel mit einer schmalen Landverbindung, das ging aus der Seekarte nicht richtig hervor. Kapitän Hall nahm an, dass sich der Hafen mit der Werft dort befand. Er fragte Markus, wie er die Seekarte beurteilte.

»Ich glaube, dass es auf der anderen Seite einen Streifen Land gibt«, antwortete Markus. »Das bedeutet, dass wir dann das Festland vor uns haben. Wir können nicht um die Landspitze herumfahren.«

Adler übersetzte. Er zögerte bei dem Begriff ›ein Streifen Land‹ und wählte andere Wörter, um Missverständnisse zu vermeiden.

»Es ist keine Insel«, wiederholte er. »It is mainland, no way to sail around.«

Kapitän Hall verstand. Er ordnete eine noch niedrigere Geschwindigkeit an. Die nächstgelegene Landzunge versperrte die Sicht. Weiter weg waren undeutlich Häuser zu erkennen; vielleicht war das der Stadtrand von Nystad. An der Backbordseite der Hecla befand sich nun das sich vorschiebende Festland. Bis zum Ufer waren es ungefähr siebzig Meter. Das Wasser schien tief zu sein. Auf der anderen Seite lag ein Stück entfernt eine Reihe von Untiefen. Das Schiff hatte auf beiden Seiten Platz, aber es war nicht viel.

Kapitän Hall dachte die ganze Zeit an die Manövrierfläche. Er wollte sein Schiff schnell wenden können, wenn etwas Unvorhergesehenes geschah. Er hatte dieses Manöver viele Male geübt. Alle an Deck und an den Maschinen wussten, was gefordert war, wenn dieser Befehl gegeben werden sollte. Denn es ging nicht nur darum, das Schiff zu wenden, die Mannschaft an den Kanonen musste auch Kugeln und Pulver bereitstellen und neue Positionen einnehmen.

Dann verließ Kapitän Hall die Kommandobrücke, sagte etwas zu seinem ersten Offizier und bat Adler und Markus mitzukommen. Sie gingen eilig zum Deck hinunter; der Kapitän wollte offensichtlich dem Deckoffizier, der den Befehl über die Kanonen hatte, etwas sagen.

Jetzt war das Schiff nur noch fünfzig Meter vom Land entfernt. Die Hecla lag still; das Zischen der Dampfmaschine war das Einzige, was zu hören war. Der schwarze Rauch aus dem Schornstein trieb langsam hinaus aufs Meer auf der Steuerbordseite zu. Die andere Seite des Schiffs war dem Land zugewandt.

Robert trug Pulver zu den Backbordkanonen. Er hatte diese Arbeit an diesem Tag zusammen mit vier anderen Deckmatrosen zu erledigen. Sie hoben fertig gepackte Ladungen aus der Pulverkammer tief unten im Schiff, sie kletterten, hievten nach oben, reichten weiter, erklommen die Leitern und Treppen zum Batteriedeck hinauf. Sie wurden Powder-monkeys genannt.

Markus sah, wie das Pulver angereicht wurde, er hörte jenes ungewöhnliche Wort und fragte Adler.

»Sie sind wie kletternde Affen«, antwortete Adler, »deswegen Pulveraffen.«

Aber nun waren alle Ladungen da und die Affen konnten eine Weile ausruhen. Robert stand verschwitzt an der Reling und schaute zum Land hin, dunkler Fichtenwald, Felsen, eine kleine Uferwiese. Zwischen den Wacholdersträuchern befanden sich übereinandergeschichtete Steine, die hinter Reisig und Blättern verborgen waren.

Etwas bewegte sich. Robert stutzte, zeigte zum Land hin und drehte gleichzeitig den Kopf zum Kapitän, der ein Stück entfernt auf dem Deck stand.

»Sir«, schrie Robert.

Kapitän Hall hatte es ebenfalls gesehen; er rief einen Befehl. Aber seine Stimme ertrank in dem Dröhnen, das ihnen von Land entgegenschlug. Eine Kanone war abgefeuert worden, ein Blitz flammte auf, Rauch quoll zwischen den Sträuchern am Ufer hervor.

Robert zog in derselben Sekunde, als die Mündungsflamme der verborgenen Kanone über das Wasser blitzte, den Kopf nach unten und drehte sich von der Reling weg. Neben ihm standen zwei Männer, der Lotse und der Dolmetscher. Robert kannte sie nicht. Sie standen aufrecht, ungeschützt, dem unerwarteten Feuer vom Land ausgeliefert. Robert sah und begriff es im selben Moment, als er hinter der Reling Schutz suchte.

Er schwang die Schultern herum und drehte seinen Körper, während er sich gleichzeitig nach unten bückte, in der Bewegung stemmte er den einen Fuß gegen die Reling. Er stieß sich ab, bekam Schwung und stieß den ihm am nächsten stehenden Mann an, der seinerseits den neben ihm Stehenden mit sich zog. Beide Männer fielen hin, in den Schutz der Reling.

Im darauffolgenden Augenblick dröhnte etwas durch die Luft über dem Deck, wo die Männer lagen. Es war die Kugel von der Kanone an Land. Sie traf ein Decksventil und riss ein großes Loch, bevor sie weiter über die Reling auf der gegenüberliegenden Seite und hinaus ins Wasser schoss.

Im nächsten Augenblick knatterte eine Serie Gewehrschüsse vom Land her. Ein Mann auf dem Deck der Hecla fiel hin, fasste sich mit den Händen um den Oberschenkel und rollte hinter einer Kanone in Deckung.

Alles geschah innerhalb weniger Sekunden. Aber jetzt antwortete die Hecla auf das Feuer vom Land. Die drei Kanonen auf der Backbordseite feuerten, während gleichzeitig die bewaffneten Marinesoldaten mit ihren Gewehren auf die Sträucher am Ufer schossen.

Einer der Kanonenschüsse traf eine Felsplatte. Es war eine massive Eisenkugel. Sie prallte in Richtung Wald ab und verschwand.

Die andere Kanone war ebenfalls mit einer massiven Kugel geladen. Sie traf den Boden vor der verborgenen Kanone. Erde spritzte hoch und aus dem Wäldchen neben der verborgenen Kanone riss sich ein Pferd los. Vielleicht hatte der Feind gerade eben eine bewegliche Batterie ans Ufer gefahren, Kanonen, die von Pferden gezogen worden waren.

Die dritte Kanone der Hecla feuerte. Sie war mit einer Sprenggranate geladen. Die Zündung der Kugel war an den geringen Abstand angepasst. Die Zündschnur war kurz und nur einen Moment, bevor die Kanone abgefeuert wurde, angesteckt worden.

Die Granate traf die Sträucher zwischen dem unruhigen Pferd und der Kanone am Ufer. Eine Flamme schlug hoch, Rauch und Funken flogen umher, Äste und Erde wirbelten durch die Luft.

Robert hatte sich erhoben. Er schaute kniend über den Rand der Reling. Er sah, was am Ufer passierte. Das Pferd war hingefallen, jetzt streckte es den Hals nach oben. Die Vorderbeine waren abgeknickt und seitlich nach außen verdreht, aber das Tier schaffte es dennoch, hochzukommen. Es stolperte einige Schritte auf den Beinstümpfen. Der Bauch war aufgeschlitzt, und das Gedärm hing heraus. Die Hinterbeine blieben in den herunterhängenden Eingeweiden hängen.

Der Schrei des Pferds erreichte die Hecla. Robert hörte ihn; er sah, wie das Tier mit dem Tod kämpfte.

Die Kanonen der Hecla waren wieder geladen, und nun schossen alle drei mit Sprenggranaten. Einer der Schüsse traf die Sträucher, die die Kanone verbargen. Ein Mensch wurde nach oben in die Luft geschleudert, war eine Sekunde lang gegen das aufflammende Feuer zu sehen und verschwand dann im Rauch.

Ein anderer Mensch versuchte, davonzulaufen. Er wurde vom Gewehrfeuer der Hecla getroffen, blieb liegen und bewegte den einen Arm, vielleicht in einem Versuch, Hilfe von den Kameraden zu bekommen, die noch in Deckung lagen.

Jemand kam ihm zur Hilfe. Ein Mann wurde sichtbar. Er winkte zur Hecla hinaus, als wolle er die Erlaubnis erbitten, den Verletzten zu holen. Und für einige Sekunden hörte das Feuer auf.

Der Mann zog seinen verletzten Kameraden auf die Sträucher zu. Da feuerte eine der Kanonen der Hecla wieder. Eine Sprenggranate zischte über das Wasser und traf den Boden direkt neben den beiden Männern. Sie wurden von der Explosion der Granate verborgen.

Als der Rauch sich lichtete, waren sie nicht mehr da. Eine rauchende Grube blieb zurück. Das Pferd lag still. Die Schüsse verstummten und die Hecla fuhr langsam rückwärts vom Ufer weg.

Robert war immer noch an Deck. Vom Land her wehten ihm Gerüche entgegen, verbrannter Wald und Tod. Er sehnte sich nach dem Meer.

Der blaue Strand

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