Читать книгу Der blaue Strand - Erik Eriksson - Страница 12
ОглавлениеErinnerst du dich?
Die Hecla fuhr auf dem Meer vor der Küste von Väddö, umgeben von ihrem eigenen schwarzen Rauch; nur die Masten ragten hervor. Ein paar Segel waren gesetzt, aber es war die Dampfmaschine, die dem Schiff Fahrt gab. An diesem Tag kam der Wind aus Südosten und weil das Schiff und der Wind eine gleichmäßige Geschwindigkeit hielten und sich in die gleiche Richtung bewegten, schaffte es die mäßige Brise nicht, den Kohlenrauch aufzulösen. Sowohl die Mannschaft als auch die Offiziere auf dem Deck und der Kommandobrücke litten unter Husten und Übelkeit und mehrere fluchten über die schlechte Kohle, die sie aus den Gruben in Nordengland bekommen hatten. Alle wussten, dass die Marineleitung Lager mit hochklassiger Kohle aus Wales hatte, die nicht so dicken Rauch ergab, aber davon hatten sie nichts gesehen. Und an Bord der Hecla spekulierten die Matrosen. War das hier die Bestrafung für die erwarteten, aber bisher ausgebliebenen richtig großen Siege?
Jetzt hatten sie neue Befehle. Sie waren auf dem Weg nach Norden, um den Kampf zu suchen und vielleicht auch Ruhm zu erlangen. Kapitän Hall, der Befehlshaber der Hecla, war für seine Waghalsigkeit bekannt. Seine nächsten Offiziere und Gefreiten waren Fachleute, bereit für England und Königin Victoria zu sterben. Aber die Hälfte der Mannschaft war aus dem einfachen Grunde mit der Hecla auf See gegangen, dass keine andere Arbeit zu haben war. Es waren arbeitslose Schustergesellen, Hafenarbeiter, Bauernjungen, arme Studenten, kleine Markthändler, Metzgergehilfen und Handlanger, alle ohne Erfahrung auf See. Dazu kamen dreizehn Schiffsjungen, von denen der jüngste zwölf und der älteste sechzehn Jahre alt war. Auch sie sollten in den Krieg.
Es war eine buntgemischte Schar, aber die Disziplin war hart. Die Peitsche war oft zur Hand, und für allerlei Vergehen wurde die Prügelstrafe verhängt. Denn so war es in der Flotte Ihrer Majestät. Aber das wussten alle, wenn sie in London oder Portsmouth anmusterten.
Robert Blackstone hieß einer der neueren Männer in der Besatzung, der zum ersten Mal auf See war. Er war aus London. Sein Vater war Schreiber im Hafen gewesen und an Tuberkulose gestorben; seine Mutter wusch Kleidung und verkaufte Gemüse. Robert fuhr mit der Flotte hinaus, um zur Versorgung der Familie beizutragen; eine andere Arbeit gab es zurzeit nicht.
Als die Hecla sich Grisslehamn näherte, stand Robert auf der Backbordseite und schaute zum Land. Er sah Klippen, grünen Wald und links ein großes gelbes Haus, als das Schiff in die Hafenbucht hineinfuhr. Die großen Schaufelräder blieben stehen, der Anker wurde geworfen, das Zischen der Maschine ließ nach und der Rauch aus dem Schornstein trieb langsam landeinwärts.
Eine Schar von Menschen stand auf einem Klippenvorsprung an der linken Seite der Hafenbucht und winkte. Es waren meist Männer, einige in Uniform; zwei junge Frauen standen auch dort, von denen die eine an das Mädchen erinnerte, dem Robert im Nebel begegnet war. Aber sie war es nicht.
Er hatte viel an sie gedacht. Niemand hatte gesehen, was er damals getan hatte. Nur sie wusste davon und der Mann, den er laufen gelassen hatte.
Den Mann hatte Robert vergessen; an das Mädchen mit den hellen Haaren erinnerte er sich.
Kristina war mit Fisch zum Posthaus unterwegs. Auch dort wurden zu dieser Jahreszeit, in der der Verkehr zunahm, Gäste empfangen. Auf dem Weg dorthin begegnete sie einem Nachbarn, der wusste, wie das eben angekommene Schiff hieß.
»Ich habe das Schiff von Skatudden aus gesehen, als es ankam«, sagte Kristina.
»Dann weißt du ja schon Bescheid«, sagte der Nachbar.
»Ja«, sagte Kristina und ging weiter, aber sie wusste nichts über das, was sie am meisten beschäftigte und beunruhigte.
Denn jetzt ängstigte sie sich mehr als zuvor, weil die Wahrheit näherrückte. Bald würde sie wohl hören, ob die Besatzung jemanden im Kampf verloren hatte.
Als sie hinunter zum Hafen kam, sah sie das Schiff, das mitten in der Bucht vor Anker gegangen war. Auf dem Flaggenberg standen Leute und schauten. Ein Ruderboot mit Leuten von der Hecla war auf dem Weg zum Land; eine Schar Seemänner war bereits an Land gesetzt worden und auf dem Weg zum Wirtshaus.
Kristina ging mit ihrem Korb weiter zum Posthaus. Sie gab den geräucherten Fisch in der Küche ab, wurde zu einem Kaffee eingeladen, setzte sich eine Weile hin und sprach mit einer neuen Magd, die sie kaum kannte.
»Wir werden einige von den englischen Offizieren zum Abendessen dahaben«, sagte die Magd.
»Kannst du etwas von der englischen Sprache verstehen?«, wollte Kristina wissen.
»Nein, ich kann nur ja und nein und guten Morgen sagen.«
Die Magd sprach die englischen Wörter aus, langsam und eintönig. Kristina hörte genau hin und wiederholte dann.
»Klingt es richtig?«, fragte sie.
»Ich glaube schon, aber ich kenne mich ja nicht aus.«
»Goood morning«, sagte Kristina.
»Ja, sie sagen nicht a und o, wie wir es tun, das meine ich verstanden zu haben.«
»Goood«, sagte Kristina.
Sie ging zurück zum Hafen. Als sie sich dem Flaggenberg näherte, zögerte sie zuerst etwas; es standen mehrere Leute dort, die sie erkannte. Aber dann ging sie doch hin. Die Hecla lag direkt vor ihnen. Einige englische Seemänner standen an der Reling des Schiffs nahe dem Bug. Gerade eben wurde ein kleineres Boot ins Wasser gelassen. Fünf Matrosen gingen an Bord; vier von ihnen begannen, zum Land zu rudern, der fünfte saß an der Ruderpinne.
Kristina sah sich die Männer an und musterte sie genau. Sie saßen nebeneinander auf den Ruderbänken des Boots; keiner schaute in ihre Richtung.
Sie verließ den Flaggenberg, während das Boot in den Zollhafen hineinsteuerte. Als die englischen Seemänner an Land gingen, stand sie fünfzig Meter von ihnen entfernt. Einer der jungen Engländer hatte rotbraunes Haar, das hinten unter der Hutkrempe hervorguckte. Aber er wandte sich nicht zu ihr hin; er sah sie nicht.
Einer der Männer blieb beim Boot, die anderen begannen, hinauf zum Wirtshaus zu gehen. Sie hatten eine Aufgabe; sie sollten Wein und Bier für die Offiziersmesse der Hecla holen. Es war ein begehrenswerter Auftrag, denn sie würden vielleicht die Gelegenheit bekommen, eine Weile in der Küche des Wirtshauses zu bleiben, etwas zu essen oder zu trinken zu bekommen und einen Schwatz mit den Küchenmädchen zu halten. Keiner der Jungen hatte das Wirtshaus von Grisslehamn je besucht, aber sie nahmen an, dass dieses Lokal wohl wie alle anderen war. Und wenn sie auch zuvor noch nicht auf See gewesen waren, so hatten sie doch Gasthäuser im Hafen von London aufgesucht.
Kristina folgte der Gruppe, die zum Wirtshaus hinaufging. Sie ging langsam, wollte nicht aufdringlich wirken. Aber sie hatte wohl dort oben etwas zu erledigen. Sie konnte etwas fragen, schließlich gehörte sie zu den Lieferanten des Lokals.
Sie redete sich ein, dass das der Grund sein könnte, warum sie jetzt dorthin ging.
Die Engländer sprachen und lachten. Sie gingen nicht im Gleichschritt wie Soldaten. Wie sie so hinter ihnen ging, konnte Kristina die gute Stimmung zwischen den jungen Männern spüren. Sie sah, wie sie sich gegenseitig auf den Rücken klopften, einander die Hände auf die Schultern legten, sich anstießen und lachten. Aber man konnte nicht sehen, wer Offizier war, denn irgendjemand war es doch wohl.
Als die Gruppe vor dem Wirtshaus abbog, hielt Kristina inne. Sie wollte sehen, welchen Weg sie wählen würden.
Sie blieben vor dem Haus stehen. Einer von ihnen, wahrscheinlich war er der Offizier, ging hinein. Kristina ging weiter, etwas zögernd.
Einer der Engländer hatte sie gesehen. Er sagte etwas zu einem Kameraden und alle wandten sich Kristina zu.
Sie erkannte den Jungen von der Felseninsel sofort wieder. Er nahm den Hut ab und vielleicht war das ein Gruß. Sein rotbraunes Haar war jetzt wohl etwas länger, aber sein Gesicht war dasselbe, wie auch sein Lächeln.
Sie sahen einander an und noch hatte keiner der anderen Engländer begriffen, dass gerade etwas Außergewöhnliches geschah. Alle betrachteten das schwedische Mädchen mit den hellen Haaren, weil sie schön war und zu ihnen gewandt stand und so entzückend lächelte.
Aber bald begriffen sie, dass sie nur einen von ihnen ansah. Langsam drehten sie sich zu ihrem barhäuptigen Kameraden um, der mit dem Hut in der Hand dastand. Er wirkte ganz anders als sonst. Einer der Jungen lachte und streckte den Arm von sich, aber die übrigen standen fragend und ernst da. Derjenige, der gelacht hatte, verstummte.
In diesem Augenblick erschien der Offizier in der Tür des Wirtshauses. Er sagte etwas auf Englisch, das Kristina nicht verstand, aber sie nahm an, dass es ein Befehl war; es klang so.
Die Jungen wandten sich sofort ihrem Vorgesetzten zu. Aber derjenige mit dem rotbraunen Haar trat vor zu seinem Offizier, salutierte und fragte etwas. Der Offizier nickte und rief danach noch einen Befehl. Die Matrosen begannen alle, in Richtung der Küche zu gehen; sie wählten den Weg außen um die Ecke des Wirtshauses herum.
Einer von ihnen blieb stehen. Es war der Junge von der Felseninsel. Jetzt ging er zu ihr hin und stellte sich dicht neben sie.
»He gave me five minutes«, sagte er und hielt fünf Finger hoch.
Kristina lächelte ihn an, ohne etwas zu sagen.
Er zeigte auf die Finger, einen nach dem anderen, während er gleichzeitig auf Englisch schnell bis fünf zählte. Sie verstand.
»Fünf Minuten«, sagte sie.
Er hielt immer noch die Hand ausgestreckt. Sie berührte vorsichtig den Daumen, der die fünfte Minute war.
»Fünf Minuten«, wiederholte sie.
»Yes, that is right«, sagte er.
Sie machte sich nicht die Mühe zu erraten, was das bedeutete, weil die Zeit so kurz war.
»Kristina«, sagte sie und zeigte auf sich selbst.
»Robert«, sagte er.
»Erinnerst du dich an den Nebel?«, fragte sie.
Er antwortete nicht, und jetzt nahm er seinen Hut wieder ab. Er hielt ihn in der Hand und sah sie an, und sie sah ihn an, und es war keine Verlegenheit in diesem Schweigen. Sie verzichteten auf Worte, weil sie beide auf diesen Augenblick gewartet hatten. Ohne es richtig zu wissen, hatten sie auf genau das gewartet: einander wieder auf die Weise ansehen zu können wie das erste Mal im Nebel.
Dann rief plötzlich jemand von den anderen Engländern. Und als der Ruf zum zweiten Mal ertönte, berührte Robert mit der Hand Kristinas Schulter und dann ihre Wange.
»I promise to come back«, sagte er.
Dann ging er schnell davon. Kristina blieb nicht stehen und machte sich auch nicht die Mühe, ins Wirtshaus zu gehen und etwas zu fragen.
In Erwartung eines wichtigen Telegramms von der britischen Botschaft in Stockholm blieb die Hecla in Grisslehamn liegen. Am zweiten Tag im Hafen wurde Robert zum Küchendienst abkommandiert. Er begriff, dass er vermutlich bis zum Auslaufen der Hecla würde an Bord bleiben müssen.
Er begann zu spülen. Nach dem Mittagessen spülte er immer noch Bratpfannen und Töpfe, die fest angebrannt waren. Er stand draußen vor der Kombüse, die mittschiffs lag und blickte in Richtung Land. Und er dachte an Kristina und ihre kurze Begegnung. Schon vorher hatte er oft an sie gedacht. Von diesem Tag an dachte er die ganze Zeit an sie.
Und wie er befürchtet hatte, blieb er weiter an Bord und musste spülen und Töpfe scheuern.
Aber jetzt wusste Kristina seinen Namen. Sie schlief mit dem Namen ein und wachte nachts auf und verspürte Freude über das, was geschehen war.
Sie stand zeitig auf, wie sie es für gewöhnlich tat und machte sich bald auf den Weg nach Grisslehamn, obwohl sie dort noch nichts zu erledigen hatte.
Die Hecla lag immer noch mitten in der Hafenbucht vor Anker. Als sie das Schiff sah, blieb sie stehen, wurde unruhig und unschlüssig, was ihr Tun betraf. Für eine kleine Weile wurde sie sehr nachdenklich, aber sie schüttelte die Überlegungen ab. Und als sie weiter auf die Hecla zuging, war nur noch die Erinnerung an Roberts Gesicht geblieben.
Sie ging zum Flaggenberg. Auch dieses Mal war sie nicht alleine dort. Eine kleine Gruppe von Zuschauern hatte sich bereits versammelt. Sie winkten einigen englischen Matrosen zu, die an der Reling der Hecla standen. Drei Männer standen leicht erhöht auf einem Absatz und schienen an etwas zu arbeiten. Ein anderer Mann stand in der Mitte des Schiffs an der Reling. Er sah zu Kristina hin und vielleicht hatte er sie erblickt, bevor sie ihn sah.
Der Mann trug keinen Hut und hatte rotbraunes Haar. Er stand mit einer Hand in die Seite gestützt, lächelte und hob die Hand zum Gruß.
Es war Robert. Als Kristina ihn erkannte, verspürte sie eine stärkere Freude als bei allen früheren Gelegenheiten, wenn sie ihn gesehen oder sich nach ihm gesehnt hatte. Und etwas bewegte sich unter ihr, nur wenig und ganz kurz, aber der Boden war nicht ganz still, wo sie stand, oder vielleicht schwankte es auch nur in ihrem Kopf.
Robert lächelte immer noch und senkte die Hand nicht. Einige der anderen Zuschauer hatten ihn ebenfalls erblickt; ein Junge winkte. Robert winkte höflich zurück, während er gleichzeitig Kristina beobachtete. Von der Antwort, die er bekommen hatte, ermuntert, fuhr der Junge auf dem Berg fort zu winken.
Kristina hob die Hand und gab Robert ein Zeichen, eine Bewegung zur Seite, dann weiter im Kreis und wieder zurück. Er nickte dreimal. Sie nickte ebenfalls und ging los. Sie hatte immer noch Blickkontakt mit ihm.
Als es nur noch ein paar Schritte bis zu den Fliederbüschen waren, die sich am Berg befanden, blieb sie stehen. Bald würde sie ihn aus der Sicht verlieren. Er sah immer noch zu ihr hin. Sie wiederholte die Handbewegung und er tat es ihr nach.
Dann ging sie den Berg hinunter und trat zwischen die Büsche. Sie beeilte sich, nahm den Pfad zum Ufer der Hafenbucht und sah erneut die Hecla, aber nicht Robert. Sie ging weiter um die Bucht herum, hinauf in den Wald und wieder hinunter zum Wasser.
Dann war sie unten am Ufer auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht. Er hatte sie verstanden. Sie erblickte ihn wieder; er war auf die andere Seite der Hecla gewechselt. Jetzt war der Abstand zwischen ihnen größer, aber sie waren allein.
Kristina wusste nicht, ob sie etwas rufen sollte. Aber was sollte sie sagen, goood morrning vielleicht?
Nein, das waren nicht die richtigen Worte. Stattdessen legte sie die Hände um den Mund und flüsterte etwas, das er ja nicht hören konnte, weil der Abstand zu groß war.
»Im Nebel«, flüsterte sie.
Er legte die Hände auf die gleiche Weise um seinen Mund. Und vielleicht flüsterte er auch etwas; Kristina hoffte es.
»Erinnerst du dich?«, flüsterte sie.
Er zeigte auf sich selbst und versuchte etwas zu sagen. Aber Kristina konnte es nicht hören. Sie riet ein Wort, das er vielleicht zu sagen versuchte.
»Ja, lange, lange«, flüsterte sie zurück.
Er hob seine Hände wieder zum Mund.
»Ich weiß, dass du verstehst«, flüsterte sie.
Dann geschah etwas Unerwartetes. Der Wind nahm plötzlich an Stärke zu, eine Bö fegte vom Meer herein. Kristina fühlte, wie ihr Haar zur Seite geweht und zerzaust wurde. Eine weitere kräftige Bö folgte, jetzt hatte der Wind sich gedreht und kam aus Westen. Das Schiff drehte sich langsam um die Ankerkette, das Heck näherte sich dem Ufer, an dem Kristina stand. Robert hatte beobachtet, wie der Wind umschlug. Er ging nach hinten, und noch immer war er allein auf der Backbordseite des Schiffs.
Bald war das Heck der Hecla nur fünfzehn Meter von Kristinas Ufer entfernt. Der Wind nahm wieder ab. Es wurde ganz ruhig, und das Schiff lag still.
Jetzt sah Kristina Roberts Gesicht deutlich. Er lächelte ihr zu und zeigte auf seine eigene Brust.
»Kristina«, sagte er, und sie hörte seine Stimme ganz deutlich.
»Robert«, antwortete sie und zeigte auf sich selbst.
Dann sagte er etwas in seiner Sprache, das sie nicht verstand. Es waren mehrere Wörter. Sie lächelte, als habe sie verstanden.
»Ich warte«, rief sie.
Es begann wieder zu wehen, eine kurze und starke Windbö, und jetzt wurde die Hecla wieder hinaus auf die Reede gedreht, zu dem Platz, an dem das Schiff gelegen hatte, als Kristina zuerst zum Wasser hinunterkam. Robert blieb an der Reling stehen, aber nach einigen Minuten wandte er sich ab. Kristina begriff, dass ihn jemand angesprochen hatte, vermutlich ein Vorgesetzter.
Robert verschwand. Kristina blieb noch eine Weile stehen und ging dann hinauf auf die Klippen und den Uferwald zu. Von hier aus konnte sie das Deck der Hecla überblicken, aber sie konnte Robert nicht finden.
Sie sprach seinen Namen mehrmals still für sich aus, als sie um die Bucht herum zurückging. Und sie ging langsam. Erst als sie auf dem Weg nach Byholma ein Stück vorangekommen war, erhöhte sie das Tempo.
Während der nächsten Stunde war Kristina in der Räucherei in Marviken beschäftigt. Der Fisch, den sie früh am Morgen hineingelegt hatte, war fertig und einigermaßen abgekühlt. Jetzt legte sie die Maränen und die kleinen Lachse in zwei Körbe. Einige Male, als sie Fisch nach Grisslehamn getragen hatte, hatte sie viel zu viel in die Körbe gelegt. Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal machen.
Bald war sie wieder unterwegs zum Wirtshaus in Grisslehamn. Sie ging von Marviken direkt dorthin und passierte Nygården, ohne hineinzuschauen. Da erblickte sie ihren Vater, der vor ihr und in dieselbe Richtung ging, aber sie machte sich nicht die Mühe zu rufen; er war zu weit weg.
Als Kristina sich dem Wirtshaus näherte, war der Abstand zu ihrem Vater unverändert. Er ging ohne zu zögern zur Tür hinein. Sie nahm den Weg um die Ecke zum Kücheneingang.
Wie gewohnt war Marta dort. Sie holte Lundgren und sie wogen gemeinsam die Fische ab und einigten sich auf den Preis. Lundgren kehrte zu den Gästen des Lokals zurück. Kristina blieb bei Marta und sie sprachen eine Weile über Alltäglichkeiten. Aber beide wussten, dass Markus aus Nygården sich im Wirtshaus befand, Kristinas Vater und Martas Freund, Wohltäter, Besucher, nächtlicher Freier oder wie man ihn nun nennen sollte. Keine der beiden Frauen dachte daran, sich abwertend zu äußern, aber beide hatten aus verschiedenen Gründen über seine Rolle nachgedacht.
»Mein Vater ist gerade zum Wirtshaus gekommen«, sagte Kristina.
»Ich habe es gesehen«, antwortete Marta.
»Ach so, hast du es schon gesehen?«
»Ja, vielleicht will er die englischen Seemänner treffen?«
»Ich weiß nicht, was er für ein Anliegen hat.«
»Nein, er ist selten sehr redselig.«
Sie wechselten das Gesprächsthema, aber sie verstanden einander. Markus war rätselhaft und unberechenbar. Nicht gefährlich unberechenbar, wie viele andere Männer sein konnten, vor allem wenn sie tranken, sondern vielmehr ausweichend, schwer verständlich und still.
Es war noch nicht lange her, seit Kristina Roberts Namen erfahren hatte. In Gedanken war sie noch am Ufer. Sie sah sein Gesicht vor sich und meinte, seine Worte zu hören, Worte, die nur ein Flüstern waren, aber sie hörte sie dennoch.
Sollte sie zum Schiff zurückkehren?
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wollte Robert einen Brief schreiben, aber sie konnte seine Sprache nicht und er konnte ihre nicht.
Marta war in die Küche gegangen. Sie blieb eine Weile fort und kam dann mit einem Armvoll ungespülter Teller zurück. Kristina ging ihr entgegen und nahm die Teller an. Da merkte sie, dass Marta nach Alkohol roch. Als Marta draußen zu spülen begann, half Kristina ihr.
»Ich habe einen Freund an Bord der Hecla«, sagte sie.
»Ach ja?«, antwortete Marta mit verwunderter Stimme.
»Ich will ihm schreiben, aber ich kann die fremden Wörter nicht.«
»Vielleicht kannst du den Adler um Hilfe bitten. Er ist zurück. Ich habe in der Küche gehört, dass dein Vater etwas mit ihm abgemacht hat.«
»Aber wie soll ich das machen? Kann ich ihn einfach so um Hilfe fragen?«
»Er ist ein freundlicher Mann, frag ihn einfach. Aber mach es jetzt, bevor er zu viel getrunken hat.«
Kristina folgte dem Rat. Sie zögerte lange, stand eine ganze Weile an der Hausecke und sammelte Mut. Als sie schließlich hineinging, hatte ihr Vater das Wirtshaus schon verlassen. Sie hielt eines der Serviermädchen an und fragte, wer von den Gästen der Adler sei. Das Mädchen nickte zu einem Mann hin, der an der Wand saß, mit einem leeren Schnapsglas vor sich.
Kristina ging hin und wartete ein wenig. Adler erblickte sie und begriff, dass sie etwas wollte.
»Kann ich helfen, Fräulein?«, fragte er.
Kristina beugte sich zu ihm. Die anderen Männer am Tisch sahen, dass sich eine junge, schöne Frau ihrem Schiffskameraden näherte. Sie begannen zu lachen und vielsagend auf sie zu deuten.
Da erhob Adler sich, nahm Kristina an der Hand und ging hinaus in die Diele. Er lächelte freundlich und machte eine kleine Kopfbewegung, eine fragende Miene, eine Geste mit der Hand.
»Ich hätte gerne Hilfe mit einigen der englischen Wörter«, sagte Kristina.
»Ich stehe zu Diensten«, antwortete Adler.
»Ich will einem Engländer schreiben, aber ich kann kein einziges Wort in dieser Sprache.«
»Schreiben, da brauchen wir das richtige Schreibzeug. Vielleicht wollen wir nach Stift und Papier suchen?«
»Ich habe kein Schreibzeug hier.«
»Wir fragen die Leute vom Wirtshaus.«
Adler ging zurück in die Wirtsstube. Er sprach mit einer Kellnerin, ging weiter in die Küche, war eine Weile fort und kam in Gesellschaft des Wirts zurück.
»Wir gehen in den oberen Stock«, sagte Adler. »Unser freundlicher Wirt gewährt uns Zutritt zum Büro.«
Der Wirt nickte Kristina, die er ja kannte, zu. Er ging auf der Treppe voraus, zeigte ihnen den Weg und öffnete die Tür zu einem kleinen Büroraum.
»Bitte sehr«, sagte er. »Fühlt euch wie zu Hause. Ich glaube, dass sich alles Nötige hier finden sollte.«
Er zeigte ihnen Stahlfeder und Tintenfass, räumte einige Bücher zur Seite, zog eine Schublade auf und nahm ein paar Bögen Papier und Briefumschläge heraus. Dann verließ er seine Gäste.
»Bitte setz dich«, sagte Adler und schob einen Stuhl zurecht.
»Soll ich sitzen?«, fragte Kristina.
»Wer schreibt, sitzt. Die Zuschauer können stehen.«
»Es sind nur einige Wörter, von denen ich gerne wüsste, wie sie in der englischen Sprache heißen.«
Kristina hatte den Brief bereits im Kopf auf Schwedisch zu schreiben begonnen. Sie hatte ihn so kurz wie möglich gehalten und sie hatte nur einfache Wörter benutzt. Sie begriff, dass es sonst zu schwer werden würde.
Adler hörte zu. Sie sagte die Wörter: Du und ich, im Nebel, wir sahen, wir werden, einander, wieder, begegnen, dann, jetzt, ich bin, du bist, sich erinnern, sich wiedersehen, zurück.
Dann sagte Adler ihr die englischen Wörter. Er sprach jedes Wort für sich aus und bat sie, es nachzusprechen. Als er mit ihr zufrieden war, schrieb sie. Er diktierte langsam, Buchstabe für Buchstabe. Die Stahlfeder kratzte und hinterließ kleine Tintenspritzer; sie war ungeübt und schrieb sorgfältig.
»Es gibt noch viel mehr zu lernen«, sagte Adler. »Es ist eine mächtige Sprache und dies ist erst der Anfang, aber ich verstehe, dass du Wörter gewählt hast, die dir wichtig sind und ich wünsche dir viel Glück mit deinen neuen Wörtern.«
»Ich bin dankbar für jede Hilfe«, sagte Kristina.
»Ich lasse dich jetzt allein. Du kannst bleiben und deinen Brief schreiben. Ich habe erraten, dass vielleicht jemand an Bord der Hecla der Empfänger ist. Ich bin selbst der Hecla als Dolmetscher überstellt worden und verlasse Grisslehamn mit dem Schiff. Wenn du willst, werde ich deinen Brief mitnehmen und ihn dem übergeben, der ihn haben soll.«
Kristina dankte auch für dieses Angebot. Sie bat ihn darum, den Brief später mitzunehmen. Er sagte, dass er noch ein paar Stunden im Wirtshaus bleiben würde.
»Wir haben gerade einen Lotsen gefunden«, sagte er. »Deshalb werden wir vor dem Abend ablegen.«
Adler verließ das Büro. Kristina begann zu schreiben, zuerst auf Schwedisch. Es war kein Brief, sondern eine Mitteilung, aber wenn sie mehr schrieb, würde Robert überhaupt nichts verstehen. Dann fügte sie einige der englischen Wörter hinzu, die Adler sie gelehrt hatte. Sie schrieb sie direkt unter die schwedischen:
Du und ich im Nebel. Erinnerst du dich?
You and I in fog. Remember?
Jetzt begegnen wir uns wieder.
Now meet again.
Wann kommst du zurück?
You come back?
Kristina.
Sie faltete das Papier zusammen, legte es in einen Briefumschlag, klebte ihn zu und schrieb den Namen Robert auf die Vorderseite.
Adler saß noch im Speisesaal im unteren Stock. Er nahm den Brief, steckte ihn in die Tasche seiner Uniform, erhob sich und begleitete Kristina nach draußen.
»Ich verspreche dir, dass dieser Brief deinen Freund erreichen wird«, sagte er. »Nur der Robert, der dich beschreiben kann und deinen Namen kennt, soll den Brief bekommen.«
Kristina dankte Adler. Er streichelte ihr hastig leicht über die Wange. Er sah ein wenig traurig aus.
Als sie nach Hause ging, dachte sie an Robert, aber die Erinnerung an Adlers wehmütigen Blick, als sie sich trennten, ging ihr nicht aus dem Kopf. Es war, als habe er Abschied von jemandem genommen, den er nicht wiedersehen würde.
Gegen drei Uhr tranken sie Kaffee in Nygården. Wie gewöhnlich saß Markus still da, aber dann räusperte er sich und gab zu verstehen, dass er etwas Wichtiges zu sagen hatte.
Er hatte auf der Hecla eine Anstellung als Lotse angenommen und sollte jetzt mit dem Schiff losfahren.
Johanna wollte wissen, wie lange er fortbleiben würde.
Nicht so lange; das Schiff bewegte sich zwischen den Häfen, er würde bald zurück sein. Und der Lohn war gut. Per Stensson, der Knecht, würde ein paar Tage in der Woche auf dem Hof aushelfen; er war bereits informiert.
Das bedeutete also, dass Markus sich schon früher entschieden hatte.
Ja, er hatte eine Zeit lang überlegt, so war es.
Mehr wurde nicht gesagt. Markus packte einige Sachen in eine Tasche und machte sich fertig zum Gehen. Er wollte nicht, dass die Frauen ihn zum Hafen begleiteten.
Sie sagten auf Wiedersehen, gaben ihm die Hand und wünschten ihm Glück.
Kristina wartete ein wenig. Nach einer Weile sagte sie zu Johanna, dass sie sehen wollte, wenn das Schiff Grisslehamn verließ.
»Ich gehe nach Skatudden«, sagte sie. »Die Hecla will nach Norden und dann sieht man sie am besten von der Klippe da draußen.«
»Ich gehe gerne mit dir«, sagte Johanna.
Sie gingen schweigend zusammen durch den Wald. Als sie am Ziel waren, stellten sie sich, immer noch schweigend, nebeneinander.
Dann kam die Hecla. Der Wind hatte sich gedreht, der Rauch trieb nach Süden. Der lange, dunkle Schiffsrumpf lag gut im Wasser, das Schaufelrad wirbelte Schaum auf. Bald hatte die Hecla Skatudden passiert und die Bugwelle erreichte das Ufer. Das Schiff passierte die dem Land am nächsten liegende Untiefe und wechselte den Kurs nach Norden.
Nach einer halben Stunde war die Hecla nur noch als kleine Schale auf der Meeresoberfläche zu sehen, aber der schwarze Rauch qualmte und breitete sich aus. Kristina und Johanna blieben noch eine Weile stehen.